19

Lena saß auf dem Beifahrersitz und studierte das Foto, während Rhodes den Crown Vic in Richtung West Hollywood lenkte. Dem Artikel zufolge hatte das I-Marketing-Institut an diesem Nachmittag in seinem Büro in der Melrose Avenue einen öffentlichen Bewerbungstermin für Testpersonen angesetzt. Die ersten dreißig Kandidaten, die das Auswahlverfahren bestanden, würden am Abend um dreihundertfünfzig Dollar reicher sein.

Justin Tremell, der Inhaber von IMI Inc., würde die Diskussion gemeinsam mit seinem Geschäftspartner leiten.

Lena sah zu, wie die Stadt an ihr vorbeiraste. Während die Spurensicherung den Parkplatz nach Haaren und Fasern durchkämmte und auf einen Fleck auf dem Asphalt gestoßen war, den ein Kriminaltechniker für Blut hielt, hatten sie und Rhodes die übrigen Angestellten des Restaurants vernommen. Von den fünfzehn befragten Mitarbeitern hatten zwei Restauranthelfer und noch eine weitere Kellnerin am Mittwochabend Dienst gehabt. Alle drei hatten Tremell identifiziert und bestätigt, sie hätten ihn mit dem Opfer beobachtet. Und allen dreien schien deshalb ebenso unwohl zu sein wie Natalie Wells.

Lena hatte Verständnis für ihre Gefühle. Justin war ein verwöhntes Millionärssöhnchen mit den für junge Männer seines Schlages typischen Problemen: Geschwindigkeitsüberschreitungen, Fahren unter Alkoholeinfluss, Kneipenschlägereien, Promi-Freundinnen, ein Sexvideo mit einer Möchtegernschauspielerin, das im Internet kursierte, dramatische Trennungen mit angeblicher Körperverletzung und Entziehungskuren, verbracht mit Xanax und eisgekühlten Mineralwasser am Rande eines Swimmingpools. Ständig klagte er, er werde von Paparazzi verfolgt, obwohl er dringend auf sie angewiesen war, um auf Hollywoods roten Teppichen flanieren zu dürfen. Sein Vater, der vor Geld nur so stank, fand offenbar nichts dabei, seinen missratenen Sohn immer wieder rauszupauken.

Also ahnte Lena, wovor die Zeugen sich fürchteten, denn es erging ihr ganz ähnlich. Als sie einen Blick auf Rhodes’ Gesicht warf, merkte sie ihm an, dass er sich ebenfalls Sorgen machte.

»Das könnte haarig werden«, sagte er.

»Haarig?«

»Was weißt du über Justin Tremell?«

»Nur das, was man im Radio nicht überhören kann, und die Informationen, die in diesem Artikel stehen. Hier heißt es, er habe vor einigen Jahren geheiratet und sich seitdem gebessert.«

Rhodes zuckte mit den Achseln und bog am Pacific Design Center rechts in die Melrose Avenue ein. Als Tremells Büro in Sicht kam, ging er vom Gas. Das dreistöckige Gebäude verfügte über einen eigenen Parkplatz hinter dem Haus.

»Aber ist dir auch bekannt, warum er sich gebessert hat?«, fragte Rhodes.

»Keinen Schimmer.«

»Da bist du nicht die Einzige, weil die Sache außergerichtlich bereinigt wurde. Sein Vater hat sich einen Richter gemietet, und so fand der Prozess ganz privat hinter verschlossenen Türen statt. Dir ist doch klar, wovon ich rede?«

Lena nickte. Aus demselben Grund hatte auch niemand Michael Jacksons Sorgerechtsstreit mit seiner Exfrau und die Hintergründe seines Freispruchs vom Vorwurf des Kindesmissbrauchs mitbekommen. Private Gerichtsverhandlungen in luxuriös ausgestatteten Konferenzräumen waren derzeit bei den Reichen und Berühmten der letzte Schrei.

»Du warst damals noch in Hollywood«, sprach Rhodes weiter. »Ich habe den Fall zwar nicht selbst bearbeitet, aber weil Tremell ein Promi ist, landete die Sache im Präsidium. Er hat ein Mädchen zusammengeschlagen und ihr so das Gesicht verbeult, dass sie ins Krankenhaus musste. Eigentlich wollte sie ihn wegen Körperverletzung anzeigen. Doch eine Woche später hat sie es sich anders überlegt, und aus der Körperverletzung wurde plötzlich eine tätliche Auseinandersetzung. Eine weitere Woche danach hat Tremells Vater den Richter gekauft, und alles löste sich in Wohlgefallen auf. Verstehst du, was ich meine?«

»Jedes Wort«, entgegnete sie. »Ich stehe auf solche Typen.«

Rhodes musste grinsen und lenkte den zerschrammten Crown Vic die schmale Auffahrt zwischen den Gebäuden entlang. Der Parkplatz war voll besetzt. Eine Limousine mit abgedunkelten Scheiben stand am Hintereingang. Der Motor lief. Am Steuer konnte Lena den Chauffeur – einen alten grauhaarigen Mann mit dunkler runzeliger Haut – erkennen, der eine Mütze und Uniform trug. Er beobachtete sie, während sie den Parkplatz umrundeten, und schien ein wenig besorgt, als Rhodes beschloss, sein altes Auto genau hinter ihm vor der Tür abzustellen.

Beim Aussteigen warf Lena ihm einen Blick zu. Er war zierlich gebaut und weit über sechzig, und seine Uniform war so altmodisch, dass sie beinahe komisch wirkte. Allerdings beruhigte er sich ein wenig, als er sie musterte und den Dienstausweis an ihrem Gürtel bemerkte.

»Wen fahren Sie?«, erkundigte sie sich.

»Mr. Dean.«

»Sind Sie sein Privatchauffeur?«

»Nach dreißig Jahren könnte man das so sagen, Ma’am.«

»Wer ist Mr. Dean?«

Der Fahrer lächelte. »Der Mann, der die Schecks ausschreibt.«

»Danke.«

»Einen schönen Tag noch«, antwortete er. »Gott segne Sie.«

Nach einem weiteren Blick auf den Fahrer betraten sie das Gebäude.

»Wer schreibt denn die Schecks aus?«, fragte Lena Rhodes.

»Dean Tremell«, erwiderte dieser. »Der Vater des Jungen. Anders Dahl Pharma. Das habe ich vorhin mit >haarig< gemeint. Sobald er uns sieht, stehen zehn Anwälte auf der Matte, sein Söhnchen spaziert davon, und wir beide sind Schnee von gestern.«

Sie standen vor einer Hintertreppe. Die Vorhalle befand sich am anderen Ende des Flurs. Hinter einem Empfangstisch saß eine attraktive Brünette und plauderte mit zwei jungen Männern, die mit ihren Anzügen und Krawatten wie Eliteschüler aussahen, aber vermutlich Praktikanten waren. Als die Frau Lena und Rhodes entdeckte, winkte sie sie mit einem reizenden Lächeln heran.

»Ich bedaure«, sagte sie. »Aber das Auswahlverfahren ist schon abgeschlossen. Doch ich habe ein persönliches Geschenk für Sie, weil Sie sich an einem Samstag die Zeit genommen haben herzukommen.«

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, ihr Verhalten überfreundlich. Während sie die Tüte mit dem Geschenk auf die Theke stellte, schaute sie sich in der Vorhalle um. Lena folgte ihrem Blick bis zu der Flügeltür, hinter der sie jemanden sprechen hörte – vermutlich Justin Tremell oder seinen Geschäftspartner, der die Versuchspersonen instruierte. Als sie sich wieder zu der Frau umdrehte, schätzte sie sie auf etwa gleichaltrig. Sie hatte die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und machte ganz und gar nicht den Eindruck einer Empfangsdame.

»Ich bedaure«, wiederholte die Frau, als ihre Blicke sich trafen.

Rhodes schob die Tüte zu den beiden Praktikanten hinüber. »Wir sind nicht wegen der Versuchsgruppe hier, sondern würden gerne mit Justin Tremell reden. Ist er da?«

Sie nickte und schenkte ihnen noch ein liebreizendes Lächeln. »Ich bin Ann, seine persönliche Assistentin. Sie haben gerade angefangen, und ich kann ihn jetzt unmöglich stören. Möchten Sie einen Termin für nächste Woche vereinbaren?«

Lena sah, dass Rhodes seine Dienstmarke zückte. Die beiden Praktikanten wichen ängstlich zurück, die Augen der Brünetten blitzten auf, und plötzlich war es, als hätte jemand die Luft aus der Vorhalle abgesaugt, denn sie schien sich schlagartig in ein Vakuum verwandelt zu haben. Rhodes war ganz offensichtlich kein Mann, der bereit war, auf einen Termin in der nächsten Woche zu warten.

»Ich darf ihn nicht stören«, stammelte die Brünette. »Es würde alles verderben.«

»Ich habe Verständnis für Ihre missliche Lage«, sagte Rhodes. »Aber es handelt sich hier nicht um einen Freundschaftsbesuch. Wir ermitteln in einem Mordfall. Entweder holen Sie ihn jetzt aus diesem Zimmer, oder ich erledige das selbst.«

Wenn doch noch ein wenig Luft in der Vorhalle gewesen sein sollte, war sie nun vermutlich endgültig verschwunden, dachte Lena. Die Gehirne dreier hübscher junger Menschen arbeiteten auf Hochtouren, und drei glasige Augenpaare schossen hin und her wie Fliegen, die eine Fensterscheibe durchbrechen wollten.

»Ich darf das nicht selbst entscheiden«, verkündete die Frau schließlich und griff zum Telefon.

Rhodes schüttelte den Kopf. »Kein Telefon.«

»Gut. Ich bin gleich zurück.«

Wieder ein Kopfschütteln. »Wir kommen mit.«

Inzwischen schien die Brünette richtiggehend verzweifelt. Sie griff nach einem Schlüsselbund, stöckelte auf ihren hohen Absätzen den Flur entlang und blieb dann vor der ersten Tür stehen, die die Aufschrift Beobachtungszimmer trug. Nachdem sie aufgeschlossen hatte, schob sie die Tür auf. Dahinter befand sich ein luxuriös, modern und teuer ausgestatteter Raum mit einer in die Wand eingebauten Kombination aus Heimkino und Stereoanlage. Rechts neben dem Sofa hatte ein Partyservice ein offenbar noch unberührtes Büfett aufgebaut. Lena betrachtete die Auswahl an Käse und Früchten auf dem silbernen Tablett und die Kannen mit Kaffee und Tee, die wartend neben einigen ungeöffneten Flaschen Pellegrino standen. Am Ende des kurzen Flurs rechts sah sie ein Badezimmer mit Whirlpool.

Während sie beobachtete, wie Rhodes den Raum auf sich wirken ließ, fragte sie sich, ob dieses angebliche Büro Tremell wohl auch als Liebesnest diente. Sie schob den Gedanken beiseite und drehte sich zu der Assistentin um, die in ihren hohen Absätzen durch das Zimmer stakste. Sie steuerte auf eine Tür links zu, über der eine rote Warnlampe blinkte.

Dort blieb die Frau stehen, wandte sich zu den Besuchern um und holte tief Luft. Dann klopfte sie leise an und riss die Tür auf.

Lena trat zur Seite, um besser sehen zu können. Die Beobachtungskabine war dunkel, allerdings hell genug, um den weißhaarigen Mann in dem Ledersessel zu erkennen, der sich angesichts dieser Störung mit finsterer Miene umdrehte. Tremells Assistentin verharrte auf der Schwelle, beugte sich in den Raum und hielt dabei die Tür auf. Ihre leise Stimme zitterte. Offenbar überzeugten ihre Erklärungen den Mann nicht, denn er schien nicht zu verstehen, warum sie ihn behelligte. Obwohl zwei Detectives von der Mordkommission hinter der Sekretärin standen, machte er weiterhin ein Gesicht, als sei das alles nicht sein Problem.

Schließlich gingen der Brünetten die Argumente aus, und er winkte alle mit einem Aufseufzen in die Kabine. Lena warf Rhodes einen Blick zu und wusste, was sein Augenausdruck zu bedeuten hatte. Der Mann im Ledersessel war zweifellos Tremells Vater. Der Mann, der die Schecks ausschrieb.

»Ich möchte Ihre Ausweise sehen«, sagte er.

Als Rhodes Dean Tremell seinen Dienstausweis reichte, schaltete dieser eine kleine Lampe ein und setzte seine Lesebrille auf. Während er Rhodes’ Ausweis und das Foto im Dämmerlicht überprüfte, betrachtete Lena seinen Anzug, sein handgenähtes Hemd und die Seidenkrawatte und bewunderte die teuren Stoffe. Trotz seines Alters machte Tremells Vater einen gesunden, kräftigen Eindruck und hatte den Körperbau eines preisgekrönten Bullen. Sein wettergegerbtes Gesicht war von Pockennarben übersät, die Haut von zu viel im Sonnenlicht verbrachter Zeit aufgeraut. Der dichte weiße Haarschopf war makellos frisiert, und auch seine Maniküre hatte ganze Arbeit geleistet. Doch als er den Dienstausweis zurückgab, war Lena vor allem von seinem offenen Blick aus klugen grauen Augen und seiner sanften Stimme beeindruckt. Anscheinend war er nicht mehr verärgert – weit gefehlt –, sondern eher neugierig und erstaunt.

»Mordkommission«, meinte er. »Was hat das zu bedeuten?«

»Eigentlich wollten wir mit Ihrem Sohn sprechen«, erwiderte Rhodes. »Wir glauben, er könnte Zeuge in einem Mordfall sein.«

Lena setzte eine reglose Miene auf und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als Tremell sie forschend musterte. Rhodes hatte seinen Sohn als möglichen Zeugen, nicht als möglichen Verdächtigen bezeichnet. Als einen Menschen, den sie dringend befragen mussten. Offenbar war das die richtige Taktik gewesen, denn Dean Tremell schien keinen Verdacht zu schöpfen.

»Kenne ich Sie nicht?«, erkundigte er sich bei Lena.

»Ich denke nicht, dass wir uns je begegnet sind.«

»Der Zeitungsbericht«, antwortete er. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Wenn mein Sohn einen Mord beobachtet hätte, hätte er mir doch sicher davon erzählt.«

»Vielleicht ist er sich dessen ja gar nicht bewusst«, wandte sie ein. »Und deshalb sind wir hier.«

Tremell überlegte, wobei er weiter Lena, nicht Rhodes, ansah. »Gibt es eine Möglichkeit, das bis zum Abend zu verschieben?«

»Wenn Sie die Zeitung gelesen haben, ist Ihnen klar, dass es sich um ein grausiges Verbrechen handelt«, widersprach sie. »Wir hoffen, dass Ihr Sohn uns helfen kann. Es ist schon nach drei. Die Zeit läuft uns davon.«

Er hielt ihrem Blick stand. Hinter seinen Augen schien etwas zu arbeiten. Wie Lena annahm, ging er vermutlich die kurze Liste der guten Gründe durch, zum Wandtelefon zu greifen und die Nummer seines leidgeprüften Anwalts zu wählen, die er gewiss auswendig konnte. Doch seltsamerweise tat er es nicht. Stattdessen wandte er sich von Lena ab und drehte sich zu der Assistentin seines Sohnes um, die hinter ihnen im Dämmerlicht wartete.

»Ann«, sagte er. »Holen Sie Justin.«

»Ja, Sir.«

Die Brünette hastete aus der Kabine. Als die Tür zufiel, bemerkte Lena, dass der Raum auf der anderen Seite des Spiegels verkabelt und mit verborgenen Kameras und Mikrofonen ausgestattet war. Er war eingerichtet wie ein Klassenzimmer. An den Pulten saßen dreißig Personen, Notizblöcke und Stifte vor sich. Vor der Tafel stand ein Mann, der einen Pullover und eine Stoffhose trug, und hielt ihnen mit ruhiger Stimme einen Vortrag. Wenn die Bildunterschrift in der Zeitung stimmte, war der Leiter dieser Sitzung Justin Tremells Geschäftspartner.

Als Lena sich suchend im Klassenzimmer umschaute, konnte sie Tremell nirgendwo entdecken. Dann jedoch öffnete sich die Tür zum Flur, die Assistentin eilte in den Raum, und sie sah, dass er an der rückwärtigen Wand lehnte. Ob es wohl Zufall oder Absicht war, dass Justin Tremell sich für den vielleicht einzigen Platz im ganzen Raum entschieden hatte, der sich außerhalb des Gesichtsfelds seines Vaters befand?

Lena fand das jedenfalls merkwürdig, und sie beobachtete neugierig seine Reaktion, während die Assistentin ihm ausrichtete, sein Vater wünsche ihn zu sprechen. Tremell junior war ein hochgewachsener, schlaksiger junger Mann mit langem dunklem Haar und mürrischer Miene. Er hatte zwar die grauen Augen seines Vaters, die jedoch einen völlig anderen Ausdruck zeigten. Etwas darin war verloren gegangen – oder hatte von Anfang an gefehlt. Tremell nahm die Nachricht mit einem entschlossenen Nicken zur Kenntnis und ging, seine Assistentin im Schlepptau, zur Tür.

Beim Warten versuchte Lena, den Abläufen im Klassenzimmer zu folgen, empfand das Zuhören aber als anstrengend, ja, sogar als beunruhigend. Sie drehte sich um, betrachtete Dean Tremells Gesicht und stellte fest, dass er sich völlig auf die Diskussion konzentrierte, wie um nach der Unterbrechung wieder den Einstieg zu finden. Natürlich konnte es auch durchaus sein, dass er bereits seine nächsten Schritte plante. Schließlich musste es einen Grund geben, warum er sie nicht sofort vor die Tür gesetzt hatte. Wie Lena annahm, war er auf weitere Informationen aus und deshalb neugierig, in welche missliche Lage sich sein Sohn nun diesmal gebracht hatte. Außerdem schien das Wissen, die Bombe jederzeit nach Belieben platzen lassen zu können, ihm ein Gefühl der Macht zu verleihen. Diese Situation erinnerte an ein Fischen im Trüben, bei dem beide Seiten so viel Schlamm wie möglich aufwirbelten und dabei ihre Leinen auswarfen.

»Was geht hier eigentlich vor?«, erkundigte sie sich.

»Das sollte ich wohl besser Sie fragen, Detective. Aber wenn es Sie glücklich macht: Wir bereiten die Markteinführung eines neuen Medikaments vor.«

»Wie heißt es denn?«, hakte Rhodes nach.

»So weit sind wir noch nicht. Deshalb sind diese Leute ja hier. Wir erhoffen uns ein paar Vorschläge von ihnen. Die Markteinführung eines neuen Medikaments ist heutzutage nämlich eher eine Frage der Kreativität als eine der Wissenschaft.«

Auf der Tafel waren verschiedene Symptome aufgelistet, und Lena hörte über Lautsprecher, wie sich Justin Tremells Geschäftspartner an die Anwesenden wandte. Er fragte sein Publikum, ob je einer von ihnen morgens beim Verlassen des Hauses vergessen habe, die Kaffeemaschine abzuschalten oder die Tür abzuschließen. Sei ihnen bei einer Zufallsbegegnung mit einem Bekannten je der Name des Betreffenden nicht eingefallen? Hätten sie beim Aufwachen manchmal das Gefühl, noch eine Stunde Schlaf gut gebrauchen zu können? Alles Aussagen, die jeder im Raum bejahen würde, da es sich um weit verbreitete Lebenserfahrungen handelte.

Lena drehte sich wieder zu Dean Tremell um. »Das sollen Krankheitssymptome sein?«

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Unserer Ansicht nach ja. Wir glauben, die Lebensqualität der Menschen verbessern zu können.«

»Wie nennen Sie denn die Krankheit?«

Ihr ironischer Unterton schien ihn zu amüsieren. »Dieses Wort verwenden wir wegen des negativen Beigeschmacks nicht mehr. Medizinischer Problemkreis klingt doch gleich viel positiver.«

»Und wie lautet die Bezeichnung?«

»Der Arbeitstitel lautet Kognitive Ausfallsstörung. Die Abkürzung KAS gefällt uns zwar, doch wir befürchten, das Wort selbst könnte zu abschreckend klingen. Deshalb testen wir neue Ausdrücke, um das Wort >Störung< zu ersetzen. Die meisten Menschen geben nämlich nur ungern zu, dass sie an einer Störung leiden. Wenn wir es jedoch positiver formulieren, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie ihren Arzt darauf ansprechen.«

»Und das bedeutet höhere Verkaufszahlen«, entgegnete Lena. »Inzwischen sind nämlich nicht mehr die Ärzte Ihre Zielgruppe. Sie wollen an die Endverbraucher ran.«

Tremell musterte sie mit einem leichten Grinsen. »Ja, so ungefähr funktioniert es.«

»Warum nennen Sie die Angelegenheit dann nicht beispielsweise einfach Kognitives Ausfallssyndrom, anstatt sich so viel Arbeit zu machen?«

Sein Blick war noch immer forschend. »Das Wort Syndrom ist ebenfalls negativ besetzt«, erwiderte er. »Wenn man jemanden erzählt, man hätte ein Syndrom, wird man gleich gefragt, ob es etwas Lebensbedrohliches sei.«

Sein Grinsen wurde breiter und selbstzufriedener. Offenbar war er sehr stolz auf diese Demonstration seiner Intelligenz und seines Wissens. Lena sah Rhodes an und fragte sich dabei, wo Tremell junior nur so lange blieb. Aus irgendeinem Grund fiel ihr der Wochenendlehrgang zum Thema Drogenbekämpfung ein, den sie einmal beim FBI besucht hatte. Vor ihrer Versetzung in Hollywoods Mordkommission hatte Lena zwei Jahre im Drogendezernat gearbeitet. Die Veranstaltung in Nashville hatte ihr einen wertvollen Überblick über die weltweit in Gebrauch befindlichen Rauschmittel geliefert. Doch die historischen Informationen, die man ihr dort vermittelt hatte, hatten sie nicht minder fasziniert. Morphium, das bis heute eine wichtige Rolle in der medizinischen Schmerzbekämpfung spielte, war gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Medikament gegen Alkoholismus verschrieben worden. Im Jahr 1989 hatte ein großes Pharmaunternehmen Heroin als Hustenlöser auf den Markt gebracht. Für nur einen Dollar fünfzig konnte man im Versandhauskatalog eine Flasche voll bestellen und sie sich frei Haus liefern lassen. Als die schädlichen Nebenwirkungen bekannt wurden und die Party vorbei war, eroberte die Wunderdroge Kokain die Welt und wurde zahlreichen Lebensmitteln und Getränken beigemischt.

Es erinnerte an die Quacksalber, die in früheren Jahrhunderten auf Jahrmärkten ihre Heiltränke feilgeboten hatten. Eine Wundermixtur nach der anderen wurde unters Volk gebracht. Doch irgendwann verfaulte die Frucht am Stamm, und das Wunder endete in Elend und Verzweiflung.

Es war offensichtlich, dass die Liste der medikamentenpflichtigen Symptome genau mit denen übereinstimmte, mit denen man die Gruppe der Testpersonen gerade konfrontierte. Wenn Lena es sich genauer überlegte, basierte Tremells Geschäftskonzept darauf, seinen Mitmenschen nicht vorhandene Krankheiten einzureden. Und dass sich seine Werbemaßnahmen unmittelbar an die Patienten wandten und ihnen das Medikament schmackhaft machen wollten, grenzte an sträflichen Leichtsinn. In den letzten einhundertfünfzig Jahren hatte sich anscheinend nichts geändert. Abgesehen von Lenas Laune, die sich zusehends verfinsterte.

Endlich öffnete sich die Tür, und Justin Tremell betrat den dunklen Raum. Er war allein und sah seinen Vater auffordernd an. Den Mann, der die Schecks ausschrieb.

»Gibt es ein Problem?«, erkundigte er sich mit ruhiger Stimme.

»Setz dich«, erwiderte sein Vater. »Diese Detectives würden gerne mit dir sprechen. Sie behaupten, du könntest Zeuge eines Verbrechens gewesen sein, doch wie ich vermute, steckt noch mehr dahinter.«

Es wurde still im Raum. Justin Tremell wandte sich zu Lena und Rhodes um, blieb aber stehen. Nachdem er Lena kurz betrachtet hatte, blieb sein Blick an Rhodes hängen.

»Was soll ich beobachtet haben?«, fragte er.

»Können wir irgendwo allein mit ihm sprechen?«, meinte Rhodes zu seinem Vater.

Dean Tremell lachte auf. »Nur über meine Leiche. Dieser Laden gehört mir.«

»Ich dachte, Ihr Sohn wäre der Inhaber.«

»Ich will dabei sein«, gab er zurück. »Immerhin bin ich sein Vater.«

Als Lena auf einen Stuhl deutete, nahm Justin endlich Platz. »Wir interessieren uns für Ihr Verhältnis zu einer Frau, die sich Jennifer McBride nennt.«

»Was für ein Verhältnis? Ich bin verheiratet.«

Lena zog das Foto des Opfers aus der Akte und reichte es ihm.

»Sie kennen diese Frau also nicht?«, hakte sie nach.

Justin warf einen flüchtigen Blick auf das Foto, sah dann hilfesuchend seinen Vater an und schüttelte den Kopf. Lena, die ihn in der Rolle des Unschuldslamms nicht sehr überzeugend fand, mutmaßte, dass er sein miserables Bühnentalent den Möchtegernschauspielerinnen verdankte, die er in seinem so genannten früheren Leben durchgevögelt oder verprügelt hatte. Ihr fielen seine Hände auf, die das Foto hielten. Sie waren ungewöhnlich weich und so zart und faltenlos wie die einer Frau. Noch verräterischer war, dass sie nicht die Spur eines Zitterns entdecken konnte. Er war nicht nervös, obwohl er es eigentlich hätte sein sollen. Während sie ihn musterte, fragte sie sich, warum er auf sie wie ein Jugendlicher wirkte, obwohl er mindestens zwei Jahre älter war als sie. Doch nach seinem Verhalten zu urteilen, war für Justin Tremell die Zeit stehengeblieben. Es war fast, als sei er in seinen Jugendjahren erstarrt und nicht mehr in der Lage, sich weiterzuentwickeln. Ihr Verdacht verfestigte sich, dass er ihnen etwas vormachte. Möglicherweise war Justin Tremell ja ein besserer Schauspieler als zunächst angenommen. Und im Moment gab er nicht den unbeteiligten Zeugen, sondern den gehorsamen Sohn.

Rhodes riss ihm das Foto aus der Hand und schwenkte es vor seiner Nase. »Sie wollen diese Frau also noch nie im Leben gesehen haben? Ist das Ihr Ernst?«

Justin Tremell zuckte mit den Achseln. »Ich kenne sie nicht.«

»Das habe ich nicht gefragt. Ich wollte wissen, ob Sie dieses Gesicht je gesehen haben.«

Tremell bedachte Rhodes mit einem scheinbar gelangweilten Blick. »Das sind doch nur Haarspaltereien.«

»Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt«, beharrte Rhodes. »Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen oder nicht? Ja oder nein?«

Der junge Mann grinste. »Hm-hm.«

Rhodes trat einen Schritt zurück. Die Adern an seinem Hals pochten. Als Lena sich zu Tremell senior umwandte, ertappte sie ihn dabei, dass er sie anstarrte. Seine Augen glitten über ihre Oberschenkel und Hüften und blieben an ihren Brüsten hängen. Lena machte einen Schritt nach rechts, um ihm den Spaß zu verderben, doch es malte sich nicht die Spur von Verlegenheit auf seinem Gesicht.

Wohl wissend, dass ihr nichts anderes übrig blieb, schob sie ihren Zorn beiseite, und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder seinem Sohn.

»Wo waren Sie am Mittwochabend?«, begann sie in gelassenem Tonfall.

»Zu Hause«, entgegnete er. »Da, wo auch mein Herz ist.«

»Eine Frau wurde ermordet, Justin. Halten Sie das etwa für witzig?«

»Ganz und gar nicht.«

»Also, wo waren Sie am Mittwochabend?«

Der junge Mann zuckte mit den Achseln. »Zu Hause.«

Lena schob sich einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber. »Nun, Justin, ich würde Ihnen ja gerne glauben. Es wäre mir wirklich am liebsten so. Offenbar haben Sie es geschafft, Ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Allerdings haben wir da ein Problem. Genau genommen ist es eher Ihr Problem, denn wir haben gerade mit einer Reihe von Zeugen gesprochen, die angeben, Sie seien am letzten Mittwochabend im Cock-a-doodle-do gewesen. Und jetzt kommt es noch besser: Dieselben Zeugen sagen aus, Sie hätten einen Tisch mit Jennifer McBride geteilt. Also haben Sie mit einer Frau gesprochen und etwas getrunken, die Sie angeblich nicht kennen und ihr Lebtag nicht gesehen haben. Einer jungen Frau, die später wenige Kilometer weiter tot aufgefunden wurde.«

»Zeugen?«, wiederholte er.

»Richtig.«

»Dann müssen die sich eben irren. Ich war nämlich zu Hause.«

Sein Vater räusperte sich. »Was zum Teufel ist ein Cock-a-doodle-do?«

Lena drehte sich zu ihm um. Inzwischen malte sich keine Neugier mehr in seinen Augen, und er hatte auch aufgehört, sie mit Blicken auszuziehen.

»Ein Bordell«, entgegnete Rhodes.

»Heißt das, Sie belästigen uns wegen einer Prostituierten?«

»Genau«, erwiderte Lena. »Ihr Sohn war einer der Letzten, der sie am Mittwochabend lebend gesehen hat.«

Der Mann, der die Schecks ausschrieb, wirkte auf einmal verdattert. Lena wurde klar, dass sie sich ihren Zorn hatte anmerken lassen und damit eine Grenze überschritten hatte. Sie standen kurz vor einem Rauswurf. Außerdem hatte sich ihr Verdacht bestätigt. Justin Tremell würde unbeirrt weiterlügen und sich hinter seinem Vater verstecken. Hinzu kam, dass ihnen für diesen Mord noch das Motiv fehlte. Lena wusste zwar nicht, wie die einzelnen Teilchen zusammenpassten, war aber sicher, dass Erpressung im Spiel war. Als sie den jungen Mann forschend musterte, war seiner Miene nichts zu entnehmen. Sie zeigte weder Anteilnahme noch Bedauern oder überhaupt die Spur eines Gefühls, sondern war völlig ausdruckslos. Anscheinend glaubte er, nichts zu befürchten zu haben.

Dean Tremell wuchtete sich aus seinem Ledersessel hoch wie ein überdimensionaler Bulle und zeigte mit einem starren Zeigefinger auf Lena. »Ich werde Ihnen jetzt etwas über meinen Sohn sagen«, begann er in übertrieben sanftem und aalglattem Ton. »Justin ist glücklich verheiratet und vor kurzem Vater eines Sohnes namens Dean junior geworden. Auch wenn er eine Weile dazu gebraucht hat, ist er inzwischen ein verantwortungsvolles Mitglied unserer Gesellschaft. Ich habe keine Ahnung, wer Ihre Zeugen sind, kann mir aber gut vorstellen, aus welchen Kreisen sie stammen. Jedenfalls werde ich nicht tatenlos zusehen, wie Sie den Aussagen von Abschaum glauben, den Ruf meines Sohnes oder sogar meinen eigenen ruinieren und sich zu guter Letzt mit einer faulen Ausrede verdrücken, wenn Sie endlich bemerken, dass Sie da etwas verwechselt haben. Also nehmen Sie meine Warnung ernst, in Zukunft etwas vorsichtiger zu sein. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.«

Lena drehte sich zu Rhodes um. Dean Tremell griff endlich zum Telefon.

»Und jetzt verschwinden Sie«, sagte er.

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