23

Nathan G. Cava hielt an der roten Ampel am Beverly Glen hinter dem Ford Explorer. Fontaine war gerade am Wilshire Boulevard links abgebogen und hatte dabei seine Leibwächter an der Ecke abgehängt. Cava stellte fest, dass sich der Arzt aus Beverly Hills hilflos nach seinen Bewachern umsah. Nachdem er etwas gerufen hatte, was wegen der Glasscheibe niemand hören konnte, zuckte er verärgert mit den Achseln und fuhr allein weiter in Richtung Büro.

Entweder hatten sie nie abgesprochen, was zu tun war, damit man an einer Kreuzung nicht getrennt wurde, oder der Arzt war ein kompletter Vollidiot. Cava vermutete, dass beide Antworten ein Körnchen Wahrheit enthielten.

Als die Ampel umsprang, folgte Cava dem Explorer auf den Wilshire Boulevard, ordnete sich in die richtige Fahrspur ein und ließ dem Geländewagen einen Vorsprung. Dieser morgendliche Ausflug sollte ihm eigentlich nur verraten, dass der Arzt wirklich zur Arbeit fuhr. Denn das bedeutete wiederum, dass sein mit allem technischen Schnickschnack ausgestattetes Haus am South Mapleton Drive einige Stunden lang leerstehen würde. Also konnte er die Sache unbemerkt durchziehen.

Allerdings war Cava immer noch nicht über seine Wut hinweg, und wieder stiegen Angst und Selbstzweifel in Wellen in ihm hoch.

Der gestrige Tag war an fast allen Fronten ein Reinfall gewesen. Die Bullen hatten die Garage in Hollywood entdeckt, auch wenn das keine große Rolle spielte, denn er hatte nichts Wichtiges zurückgelassen. Jedoch hatte die Polizei das arme alte Ehepaar befragt, von dem er sie gemietet hatte, und besaß nun ein Porträt von ihm. Der Polizeizeichner hatte die Nase zwar nicht richtig getroffen, seine Augen standen zu dicht beisammen, und er lief auch nur selten mit einer derart finsteren Miene herum, aber die Ähnlichkeit war doch so groß, dass sie ihm Sorgen machte. Jeder einigermaßen phantasiebegabte Mensch würde eins und eins zusammenzählen, und dann – Bingo!

Dennoch war nicht einmal das das eigentliche Thema.

Letztendlich lief alles immer wieder auf das Mädchen hinaus. Das hübsche Mädchen mit den braunen Augen, das ihm letzte Mittwochnacht zugelächelt hatte. Teil eins seines Dreierpakets in Hollywood. Das Auffinden seines Operationssaals – im Fernsehen wurde er als Tatort bezeichnet – hatte eine Lawine von Nachrichtenmeldungen losgetreten. Wieder stellte man Fragen nach dem Opfer und seiner wahren Identität. Cava hatte sich unzählige Interviews mit ihren Nachbarn angesehen. Später hatten die Reporter noch die Kellnerinnen und Barkeeper in den Restaurants in Venice Beach befragt, wo Jennifer McBride als Stammgast bekannt war. Jedes dieser Interviews verlief genau gleich, und keines von ihnen ergab einen Sinn.

Nichts wies darauf hin, dass das Mädchen für ein höheres Ziel hatte sterben müssen. Ihr Tod wurde – anders als man es Cava erklärt hatte – auch nicht als Beitrag für eine bessere Welt betrachtet. Allmählich bekam er den Verdacht, dass wieder einmal private Gründe dahintersteckten. So als spielten die beteiligten Personen mit den Tatsachen und vielleicht sogar mit ihm.

Vergeblich versuchte Cava, diesen Gedanken beiseitezuschieben.

Nachdem er sich nacheinander zwei Nachrichtensendungen angeschaut hatte, war er außer sich und voller Schuldgefühle gewesen, sodass er zur Beruhigung ein paar Pillen hatte einwerfen müssen. Er erinnerte sich nur noch, dass er eine Schlaftablette genommen hatte und zu Bett gegangen war. Doch beim Aufwachen um drei Uhr morgens hatte er am Steuer seines Wagens gesessen, und zwar auf dem Langzeit-Parkplatz des Bob-Hope-Flughafens in Burbank. Er trug einen Pyjama, hatte offenbar eine ganze Schachtel Lucky Charms vertilgt und war erst aufgewacht, als er das Spielzeug am Grunde der Schachtel geöffnet hatte.

Ein funkelnder roter Hummer.

Als Cava die Nacht Revue passieren ließ, wäre er am liebsten im Erdboden versunken. Da er sich sonst zuckerfrei ernährte, hatte er keine Ahnung, wie er in den Besitz der Frühstücksflocken gekommen oder am Flughafen gelandet war. Er wusste nur, dass diese Episode, die im Beipackzettel unter »Nebenwirkungen« aufgeführt war, sich nun offenbar verwirklicht hatte. Verdammt! Ein herber Schlag für sein Selbstbewusstsein. Und das Spielzeug in der Frühstücksflockenschachtel machte es auch nicht besser.

Ein ängstlicher Schauder ergriff ihn, als er versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Aufs Hier und Jetzt.

Er sah, wie Fontaines Mercedes die Rampe unter seinem Bürogebäude in die Garage hinabrollte. Die Männer im Geländewagen fuhren, vorbei an ihrem Auftraggeber, weiter nach Osten in Richtung Hollywood. Cava folgte dem Explorer noch zwei Häuserblocks und vermutete, dass die Leibwächter erst zur Mittagspause oder vielleicht sogar erst am späten Nachmittag zurückkommen würden. Als ein Stück vor ihm der Drogeriemarkt mit angeschlossener Apotheke erschien, blickte er dem Explorer nach, der im Verkehr verschwand, und suchte sich einen Parkplatz.

Vor seinem Aussetzer gestern Nacht hatte sich Cava zwei neue Rezepte ausgeschrieben und die Medikamente telefonisch bestellt. Zwischen den Nachrichtensendungen hatte er die Werbespots fünf-oder sechsmal gesehen und war sicher, dass er am Restless-Legs-Syndrom sowie an einem unangenehmen Fall von Augentrockenheit litt. Gott sei Dank, dass er zufällig auf die Werbung gestoßen war. Ansonsten wären ihm die Beschwerden womöglich nie aufgefallen. Er hätte sich über Monate, Jahre, ja, sogar für den Rest seines Lebens damit herumplagen können. Ein Glück, dass es das Fernsehen gab.

Er marschierte in den hinteren Teil des Ladens, wo die Apothekerin ihm zu seiner Freude mitteilte, die beiden neuen Medikamente stünden, ebenso wie die siebzehn Nachbestellungen, für ihn bereit. Noch besser war, dass ihn sein Medikamentenvorrat für den nächsten Monat nur einen knappen Tausender kostete. Er deutete das als gutes Omen, als er zu seinem SRX Crossover zurückkehrte und seinen Terminplaner hervorkramte.

Er blätterte zur letzten Seite um, wo er die eingenommenen Medikamente samt möglicher Nebenwirkungen aufgelistet hatte. Während er die Aufstellung um seine Neuerwerbungen ergänzte, erschienen ihm die Augentropfen kaum erwähnenswert. Das Brennen, die Rötungen, das Tränen und das stechende Jucken waren zu ertragen. Allerdings hatte er keine Lust auf das Gefühl, einen Fremdkörper im Auge zu haben, sowie auf verschwommenes Sehen. Da diese Symptome nur unter mögliche Nebenwirkungen verzeichnet standen, hoffte er, dass es ihm besser ergehen würde als in der letzten Nacht. Die Statistik konnte ja nicht immer Recht behalten. Als er jedoch die Nebenwirkungen des Medikaments gegen das Restless-Legs-Syndrom studierte, wurde ihm doch ein wenig mulmig zumute, und er suchte die Liste seiner wichtigsten Tabletten auf mögliche Wechselwirkungen ab. Laut Aussage des Pharmaunternehmens konnte das Medikament dazu führen, dass ihm beim Aufstehen schwach und schwindelig wurde und dass er sogar einen Schweißausbruch bekam. Weiterhin stand da etwas von Übelkeit, Erbrechen oder plötzlichem Einschlafen. Im Fall von unerwartet auftretenden Spiel-, Sex-oder anderen Süchten wurde empfohlen, sich sofort an einen Arzt zu wenden.

Cava starrte lange auf den letzten Satz und fragte sich, was wohl mit anderen Süchten gemeint sein mochte. Fielen vielleicht die drängenden Bedürfnisse darunter, die er bereits tagtäglich empfand? Und wenn nicht, waren sie vielleicht im Kleingedruckten oder auf der Webseite des Pharmaunternehmens vermerkt?

Nach sorgfältiger Überlegung kam er zu dem Schluss, dass sich Risiken und Vorteile, wie im Fernsehen versprochen, die Waage hielten.

Ungeduldig öffnete er das Döschen, überflog die Dosierungsangaben, steckte eine Tablette in den Mund und spülte sie mit einem Schluck grünem Tee hinunter. Anschließend griff er zu den Augentropfen, legte den Kopf in den Nacken, träufelte ein Tröpfchen in jedes Auge und blinzelte.

Dann holte er so tief wie möglich Luft und wartete darauf, dass Gevatter Tod an seine Tür klopfte. Nachdem fünf lange Minuten nichts geschah, ging er im Geiste sämtliche Körperfunktionen durch, wackelte mit den Zehen und stellte fest, dass das merkwürdige Gefühl in den Beinen verschwunden war. Er richtete sich auf und schaute in den Rückspiegel. Seine Augen waren kühl und klar, fast als hätte man sie ausgetauscht. Noch wichtiger war, dass sich seine Gedanken geordnet hatten. Als er seine Hände betrachtete, waren sie zwar nicht absolut ruhig, geschweige denn bereit zu töten, doch das Zittern war kaum wahrzunehmen.

Auch wenn er kein Asphaltcowboy oder begabter Chirurg mehr war, auf den man an der medizinischen Fakultät so große Hoffnungen gesetzt hatte, war er ins Kriegsgebiet zurückgekehrt. Er war wieder auf Diät und fühlte sich gut.

Gewappnet und gerüstet, ließ er die Verheerung hinter sich zurück wie eine Figur aus einem Actionfilm – nur ohne Hintertür oder kugelsichere Haut.

Cava betrachtete Fontaines Haus durch das schmiedeeiserne Tor und schätzte die Risiken ab, ehe er zur Tat schritt. Es war erst halb acht Uhr morgens. Da der Einbruch am helllichten Tag stattfinden sollte, kam es nicht in Frage, sich dem Gebäude von hinten, vom Golfplatz her, zu nähern. Die einzige Möglichkeit war, einfach mit dem SRX vorzufahren, als habe er ein Recht, hier zu sein. In Anzug und Krawatte würde er aus dem Auto steigen und zielstrebig zur Hintertür gehen. Das bedeutete, dass er über eine zwei Meter hohe Mauer klettern und das Tor von Hand öffnen musste. Etwa dreißig Sekunden, in denen tatsächlich die Gefahr bestand, ertappt zu werden.

Er spähte durch das Tor und entdeckte die Steuerungsanlage im Garten. Dann drehte er sich um und musterte die Umgebung. Gleich gegenüber befand sich das brach liegende Grundstück mit der Mauer und dem Haufen teurer Pflanzerde, die noch immer niemand gestohlen hatte. Die Villen links und rechts davon waren mit Zäunen, dichtem Gebüsch und Bäumen abgeschüttet und von der Straße nicht einsehbar, außer man saß auf dem Oberdeck dieses dämlichen Touristenbusses.

Also war das Risiko gering.

Cava verließ den Wagen, hievte sich auf die Mauer, sprang auf der anderen Seite hinunter und schlich zur Steuerungsanlage. Während die meisten dieser Vorrichtungen außen einen Hebel besaßen, um die Bedienung zu erleichtern, war er in diesem Fall im Inneren des Gehäuses angebracht und grell orangefarben lackiert. Cava betätigte den Hebel, wartete, bis das Tor aufschwang, und schob ihn dann wieder zurück.

Danach schlenderte er zu seinem SRX, rollte die Auffahrt hinauf und parkte vor dem Gästehaus.

Er wartete eine Weile, bis die imaginäre Zielscheibe zwischen seinen Schulterblättern verblasst war, die ihn während seines Auslandseinsatzes ständig begleitet hatte. Während sich das Tor hinter ihm schloss, wurde er von Aufregung ergriffen. Cava stieg aus, ließ den Blick über das Grundstück schweifen und kam zu dem Schluss, dass er wirklich Glück gehabt hatte. Dichtes Gebüsch versperrte Fontaines Nachbarn die Sicht auf den Garten. Sie konnten nur die untere Terrasse und die Tische erspähen, wo die beiden Leibwächter am Samstagnachmittag ihre Zigaretten geraucht hatten. Offenbar waren der Pool, der Whirlpool und die Terrasse und der Garten hinter dem Haus gut versteckt.

Cava war unsichtbar. Das Anwesen gehörte ihm.

Er eilte die Stufen hinauf, huschte über die gepflasterte Terrasse und schaute durch die Glastür in die Küche. Das Glück war weiter auf seiner Seite, denn als er die Alarmanlage innen an der Wand bemerkte, verriet ihm die Einstellung des Tastenfeldes, dass sie nicht eingeschaltet war. Außerdem wirkte der Türknauf, als sei er so alt wie das Haus selbst, ein antikes Kunstwerk aus Messing, das klapperte, als Cava daran rüttelte.

Er hob den Fuß, versetzte der Tür einen ordentlichen Tritt und beobachtete, wie sie aufschwang. So leicht war das also gewesen. Fast zu leicht. Beim Eintreten musterte Cava den Türrahmen und fragte sich, warum Fontaine den Riegel nicht vorgeschoben hatte, denn der Mann hatte seiner Ansicht nach einiges zu verlieren. Dennoch handelte es sich um ein weiteres gutes Omen, denn es waren keine erkennbaren Schäden entstanden. Keine Einbruchsspuren. Kein Sirenengeheul, das sich aus der Ferne näherte. Wenn überraschend Besuch kam, würde ihm schon eine Ausrede einfallen.

Allerdings hatte er trotzdem Herzklopfen.

Cava schloss die Tür und verbrachte fünf Minuten damit, die Küche zu durchsuchen. Die Gerätschaften schienen neu und teuer zu sein, der Raum war ungewöhnlich gut ausgestattet. Der Herd verfügte über acht Platten, das Backrohr über einen eingebauten Grill. Die Schränke enthielten Kristallgläser und kostspieliges Porzellan. Doch als er die Besteckschublade entdeckte, hielt er inne und starrte eine geraume Weile auf den Inhalt. Die Klingen waren stumpf, was ihn sehr wunderte. Ganz gleich, was man von Fontaine halten mochte und was andere ihm über ihn erzählt hatten, galt der Mann als ausgezeichneter Chirurg. Und dennoch pflegte er offenbar seine Messer nicht. Er hatte sogar ein elektrisches Messer in der Schublade, das an eine Holzsäge mit Sicherheitsschalter erinnerte, so als hätte er weder die geringste Ahnung noch eine Ausbildung und könne ohne elektrische Unterstützung nicht einmal ein Stück Fleisch tranchieren.

Cava schob diesen Gedanken beiseite und schlenderte gleichgültig durchs Erdgeschoss. Mit Ausnahme des Inhalts besagter Schublade wies alles in diesem Haus auf Reichtum und Luxus hin. Dass der Arzt aus Beverly Hills gern auf großem Fuß lebte und vor seinen Freunden mit seinem Wohlstand angab, lag auf der Hand. Cava betrachtete die Bilder an den Wänden. In einer Vitrine stand eine Sammlung von Faberge-Eiern. Es gab auch einen kleinen, aber gut bestückten Fitnessraum mit direktem Zugang zum Whirlpool auf der hinteren Terrasse. Neben dem Fernseher im Wohnzimmer ragte ein Weihnachtsbaum auf. Doch ein Schreibtisch war nirgendwo zu sehen.

Enttäuscht hastete Cava die Wendeltreppe hinauf, eilte den Flur entlang und entdeckte den Schreibtisch des Arztes in einem Arbeitszimmer mit Blick auf den Pool und den Golfplatz. Es war ein langer, schmaler Raum mit einem Gaskamin und eingebauten Bücherregalen an den Wänden. Ein gemütliches Zimmer, wenn es nur nicht so kalt gewesen wäre, das über ein Sofa, zwei Lesesessel und eine Reihe hoher Fenster verfügte, durch die viel Licht hereinfiel.

Allerdings schien Privatsphäre hier das Schlüsselwort zu sein. Der Raum machte den Eindruck, als würde er einzig und allein von Fontaine benutzt, und genau danach hatte Cava gesucht.

Plötzlich spürte er wieder, wie sein Herz klopfte. Er durfte das Schicksal nicht herausfordern, sondern musste das Haus so schnell wie möglich wieder verlassen. Nachdem er auf die Uhr geschaut hatte, setzte er sich an den Schreibtisch und begann, die Unterlagen des Arztes durchzublättern. Er entdeckte eine Handvoll Krankenakten sowie einen Ringordner, der die Ergebnisse eines schon seit einigen Jahren andauernden Forschungsprojekts mit asthmakranken Kindern enthielt.

Cava legte den Ordner weg und musterte die Bücherregale, in der Hoffnung, etwas zu finden, was Fontaines Ermordung rechtfertigte. Eine Bestätigung, dass der Arzt den Tod verdient hatte. Er spürte es genau. Jeder Instinkt rief ihm zu, dass Fontaine selbst die Schuld an seinem Schicksal trug. Diesmal jedoch wollte er es mit eigenen Augen sehen und sich nicht auf die persönlich gefärbten Aussagen anderer verlassen. Er brauchte einen triftigen Grund, der wahrhaftig genug war, um die Zeit zu überstehen – keinen Vorwand, der sich in wenigen Tagen in Luft auflösen und sich in ein gewaltiges Schuldgefühl verwandeln würde, um ihn zu jenem Strand in Coronaville zu verfolgen, wo, wie er wusste, Jennifer McBrides Geist ihn bereits auf dem Liegestuhl nebenan erwartete. Sie würde ihm aus ihren hübschen braunen Augen zuzwinkern und ihn für den Rest seiner Tage nicht mehr loslassen.

Als er die oberste Schreibtischschublade aufzog, stieß er auf Fontaines Scheckbuch und einen Stapel unbezahlter Rechnungen. Der dickere Stoß daneben sah nach Quittungen aus. Zuerst wandte Cava sich den Rechnungen zu. Beim Anblick der Rechnung von Hollywood Shadows Inc. musste er schmunzeln. Es handelte sich um einen Kostenvoranschlag der Sicherheitsfirma, die Fontaine mit dem Schutz seines Lebens beauftragt hatte. Außerdem hatte Cava richtig gelegen: Hollywood Shadows war nicht so schlau gewesen, auf Vorkasse zu bestehen. Nach dem Kostenvoranschlag zu urteilen, hatte die Firma nur eine Anzahlung von zweihundertfünfzig Dollar verlangt. Diese war in bar am letzten Sonntag erfolgt, per Hand quittiert und unterzeichnet mit den Initialen eines der beiden Versager, die Fontaine bewachten.

Noch besser war, dass Fontaine anscheinend zur Spezies der Billigheimer gehörte. Die beiden Gorillas im Explorer waren nur Teilzeitkräfte. Fontaine fürchtete zwar um sein Leben, war aber zu geizig, um ihre Dienste den ganzen Tag lang in Anspruch zu nehmen.

Ein interessantes Detail. Alles schien zu klappen wie am Schnürchen. Cava griff nach dem Scheckbuch, blätterte es durch, nahm Stift und Papier und machte sich einige Notizen. Die einzigen Einzahlungen stammten aus Fontaines Praxis und wurden alle zwei Wochen gutgeschrieben. Offenbar verdiente er mit einem Jahresgehalt von gut einer Million Dollar wirklich nicht schlecht. Nach Abzug der Steuern blieben ihm sicher zwischen sechsund siebenhunderttausend netto. Mehr als genug, um seine Spielzeuge zu finanzieren und seine Freunde zu beeindrucken – ganz zu schweigen davon, dass er sich anständige Messer hätte kaufen, Sicherheitsfenster in sein Haus einbauen lassen und richtige Leibwächter hätte einstellen können.

Doch als Cava sich die Ausgaben ansah, wuchs sein Verdacht, dass eine Million brutto womöglich nicht reichte, um auf so großem Fuß zu leben. Außerdem machte Fontaine häufig Urlaub. Es erweckte ganz den Anschein, als gäbe er sein gesamtes Geld bis auf den letzten Penny wieder aus – und zwar ausschließlich für seine eigenen Bedürfnisse.

Dieser Umstand roch nach Schwarzgeld. Also war sein erster Eindruck von dem Mann doch richtig gewesen.

Cava nahm den Stapel Quittungen und hielt ihn ans Licht, als handle es sich um Röntgenaufnahmen. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Alles war sonnenklar. Fontaine zahlte viel zu häufig in bar: den Herd mit den acht Kochplatten und dem eingebauten Grill in der Küche, das neue Laufband für seinen Fitnessraum, zwei Bilder aus einer Galerie in West Hollywood. Als Cava die Daten auf den Quittungen mit dem Scheckbuch abglich, wies nichts auf Abhebungen von seinem Konto hin.

Schmutziges Geld.

Wenn Fontaine seine Einkäufe mit ehrlich verdienten Honoraren getätigt hätte, hätte er seine Kreditkarte benutzt oder einen Scheck ausgestellt. Stattdessen trug jede einzelne Quittung in dem Stapel den Vermerk »bar bezahlt«.

Fontaine finanzierte seine Scheinwelt mit Schwarzgeld. Und dabei gab er sich nicht mit kleinen Beträgen ab. Der Kerl war ein habgieriger Materialist. Und plötzlich erschien Cava sein Dreierpaket in Hollywood wieder gerechtfertigt.

Er betrachtete seine Hände. Das Zittern hatte aufgehört. Lange studierte er sie und drehte sie im Licht, das durch das Fenster hereinfiel, hin und her. Ganz ruhig, ja, sogar bereit zu töten – und das trotz der Kälte im Raum.

Cava wandte sich zum Zimmer um und überlegte. Der Arzt führte ein Doppelleben und war offenbar bestechlich. Ob er wohl so dumm war, sein Geld zu Hause aufzubewahren anstatt in einem Bankschließfach? Alles, was Cava bis jetzt über ihn in Erfahrung gebracht hatte, wies darauf hin, dass der Mann ein ausgemachter Idiot war. Ein Amateur. Nach seinen Konsumgewohnheiten zu urteilen, musste es ein gewaltiger Haufen Bargeld sein.

Wo mochte er es wohl versteckt haben?

Cava begann, das Haus zu durchsuchen. Falls sich das Geld im Haus befand, dann nur an einem von zwei Orten, und zwar an denen, wo Fontaine sich am sichersten fühlte: hier in diesem Arbeitszimmer oder im Schlafzimmer am Ende des Flurs. Im Wandschrank standen einige Aktenschränke. Nachdem er die Schlüssel aus der Schreibtischschublade gekramt hatte, öffnete er sie und schaute hinein. Anschließend warf er, auf der Suche nach einem Wandtresor, einen Blick hinter die Bilder, zog die Reißverschlüsse der Polster von Sofa und Sesseln auf und sah hinter jedem Buch nach.

Im nächsten Moment fiel ihm der Kamin ein.

Etwas stimmte nicht damit, denn die Brennkammer war in einem eigenartigen Winkel in die Wand eingelassen. Fast bekam man das Gefühl, als hätte sich das Haus abgesenkt, sodass sich der Raum verschoben hatte.

Cava spürte ein Prickeln zwischen den Schulterblättern. Er entdeckte einen Hebel an der Wand unterhalb des Kaminsimses, drückte darauf und betrachtete die falschen Holzscheite. Als nichts geschah, betätigte er den Hebel ein zweites Mal und sah den Zündfunken aufflammen. Trotz der kalten Jahreszeit und der Zugluft, die durch die Fenster hereindrang, hatte Fontaine das Gas nicht eingeschaltet.

Warum? Insbesondere, wenn man berücksichtigte, wie viel Zeit er in diesem Raum verbrachte.

Cava trat einen Schritt zurück, musterte die Brennkammer und folgte der Gasleitung bis zum Fußboden. Das ganze wirkte offensichtlich schief. Plötzlich jedoch wurde ihm klar, dass es nicht an dem Kamin selbst lag, sondern an der kleinen Marmorplatte, die daneben lag. Der Stein war nicht richtig in den Boden eingelassen.

Wieder sah er auf die Uhr. Es war erst halb neun. Eine knappe Stunde war vergangen, ohne dass das Schicksal ihn belästigt hätte.

Er schob die Finger in die Ritzen, hob den Stein an und entfernte ihn. Als er in die Dunkelheit hinabspähte, wurde er erneut von Aufregung ergriffen. Hier vor ihm war die Gasleitung mit abgeschaltetem Ventil. Und unter den Bodendielen befand sich Fontaines Geheimnis. Abgezählt und in zweieinhalb Zentimeter dicke Bündel aus Einhundertdollarscheinen verpackt.

Cava nahm das Geld heraus, zählte es und fragte sich, womit der Arzt bloß drei Millionen Dollar in bar verdient haben mochte. Kopfschüttelnd betrachtete er die Banknoten. Er wusste, dass er in Coronaville lange damit auskommen würde, und wünschte, er könnte das Gesicht des Arztes sehen, wenn dieser bemerkte, dass sein Versteck ausgeräumt war.

Er atmete tief durch und spürte, wie der Duft des Geldes seine Lunge erfüllte. Dann kniff er sich, um sicherzugehen, dass er nicht wieder mit einer leeren Schachtel Lucky Charms in seinem Auto am Flughafen aufwachen würde. Als das Geld sich nicht in Luft auflöste und er endgültig überzeugt war, dass er nicht an Wahnvorstellungen litt, wurde sein Herzschlag langsamer. Die Musen tanzten mit seiner Seele.

Allerdings war sein Platz im Zug der Schuldgefühle noch immer reserviert. Daran konnte auch das Geld nichts ändern. Nur dass es nun leichter sein würde, Jennifer McBrides Geist zu ertragen.

Er entdeckte eine Sporttasche, die an einem Stuhl hing, und stand auf. Nachdem er sie geöffnet und Fontaines Sportkleidung aufs Sofa gekippt hatte, stopfte er das Geld hinein. Danach legte er die Marmorplatte wieder an ihren Platz und eilte aus dem Zimmer.

Er nahm den Geruch des Geldes wahr, der hinter ihm herwehte. Die Dollarzeichen surrten in seinem Kopf, obwohl er bis jetzt geglaubt hatte, immun dagegen zu sein. Doch als er den Treppenabsatz erreichte, hielt er inne. Es lag noch etwas in der Luft. Ein anderer Duft, der ebenso frisch und kräftig war.

Parfüm …

Cava wirbelte herum. Er hörte ein Geräusch.

Seine Beute fester umfassend, schlich er den Flur entlang zur nächsten Flügeltür. Sein Blick wurde wieder klarer, er wich einen Schritt zurück und schlagartig wusste er, warum die Alarmanlage nicht eingeschaltet gewesen war.

Fontaines Freundin aus dem Büro befand sich noch im Haus und stand in Unterwäsche vor ihm. Ein schwarzer BH und ein Höschen, wie Cava sie gern hatte, weil sie durchsichtig waren. Im Zimmer lief der Fernseher. Irgendein Typ aus einer Vormittagssendung sagte gerade das Wetter an und lachte dabei albern über seine eigenen Witze. Ihr schien es jedoch zu gefallen, denn sie wandte sich immer wieder zum Fernseher um, während sie das Bett machte.

Cava konnte den Blick nicht von ihrem Körper abwenden. So lange war er nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen. Ihre Brüste sahen weich aus und wippten bei jeder Bewegung. Ihre Hüften waren breit und kurvig. Als sie sich vorbeugte, um das Kissen aufzuschütteln, spürte er, wie sein steifer Schwanz gegen seine Hose drückte. Er hatte diese Frau schon einmal gesehen, allerdings nur aus der Ferne und in Kostüm und Jacke, die ihre glatte, sonnengebräunte Haut vor der Kälte schützten. Soweit er feststellen konnte, war sie nicht zu mager. Die Blondine, die in schwarzer Unterwäsche die seidenen Laken glattstrich, ließ nichts zu wünschen übrig.

Aus irgendeinem Grund regte sich eine Erinnerung aus seiner Jugend. Eine angenehme.

Cava war an der Ostküste aufgewachsen. Nur wenige Häuserblocks entfernt von der Eliteschule, die Holden Caulfield angeblich in seinem berühmten Buch Der Fänger im Roggen besucht hatte. Unter der Eisenbahnbrücke in der Stadtmitte betrieb ein Friseur sein kleines Geschäft über einem Kino. Cava wusste noch, dass seine Mutter ihn und seinen besten Freund etwa alle sechs Wochen dorthin gebracht hatte. Der komische alte Kauz hatte die Angewohnheit gehabt, sich mitten am Tag zwei Stunden freizunehmen und sich, auf dem Fußboden liegend, auszuruhen. Außerdem zeigte er allen das seltsame Kästchen, das die Ärzte ihm eingepflanzt hatten, damit sein Herz weiterschlug. Und er hatte gern über Frauen gesprochen, wenn die Eltern seiner Zuhörer nicht in der Nähe waren.

Vergeblich versuchte Cava, sich den Namen des alten Mannes ins Gedächtnis zu rufen. Dennoch hatte er den Tag, an dem er und sein bester Freund allein im Laden gewesen waren, noch genau vor Augen. Der Tag, an dem der Friseur ihnen erklärt hatte, die Kunst eines guten Ficks sei eine Frage der Physik. Alles hinge nur davon ab, wie viel Fleisch eine Frau auf den Knochen habe. Er bevorzuge mollige Frauen, sagte er. Je molliger, desto besser, denn die Hüftknochen einer Frau seien nicht das Wahre. Außerdem mache er es am liebsten auf dem Fußboden. Er bezeichnete das als Schlüssel seines Erfolges. Als Geheimnis, damit es auch klappte. Man musste auf die weiche Matratze verzichten und es mit einer molligen Frau auf dem Fußboden treiben.

Cava erinnerte sich, dass er gekichert hatte. Es war eine prickelnde Ungewissheit, denn er und sein Freund waren noch viel zu jung gewesen, um die Bedeutung des Wortes ficken zu verstehen. Doch nach dem Knistern in der Luft und dem träumerischen Lächeln des alten Mannes zu urteilen, musste alles, was mit Sex zu tun hatte, eine wundervolle Angelegenheit sein. Es war eine neue Welt, die am Horizont wartete, jedoch noch zu weit entfernt, um sie zu erreichen. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis Cava verstand, wie weise der alte Mann gewesen war und dass er ihnen an jenem Tag die Wahrheit gesagt hatte.

Der Gedanke verflog, vertrieben von einer plötzlichen Welle der Panik.

Die Blondine starrte ihn an. Wie angewurzelt stand sie auf der anderen Seite des Bettes. Sie betrachtete ihn mit aufgerissenem Mund und schreckgeweiteten blauen Augen. Cava kannte diesen Gesichtsausdruck. Er verriet ihm, dass sie ahnte, was ihr blühte. Dass die Situation eskalieren würde.

Noch schlimmer war, dass die Medikamente gerade in dem Moment anschlugen, als ihn das Glück im Stich ließ. Er spürte, wie es in ihm zu brodeln begann. Es war eine überwältigende Wucht fremdartiger körperlicher Gefühle, vermischt mit einem schweren Anfall der Süchte, von denen er im Auto gelesen hatte – sexuelle Bedürfnisse, kombiniert mit anderen. Wenn er sich an den Beipackzettel halten wollte, musste er jetzt schleunigst seinen Arzt anrufen.

Sie trat einen Schritt in Richtung Nachtkästchen. Doch anstatt nach dem Telefon zu greifen, fuhr ihre Hand in die Schublade. Cava machte einen Satz über das Bett hinweg, denn er hatte die Pistole bemerkt, als die Schublade aufging. Er schlang der Frau den Arm um die Brust und zerrte sie von der Waffe weg, sodass sie beide zu Boden stürzten. Sie schrie und schlug nach ihm, als er sich auf sie wälzte. Allerdings waren ihre Schläge nicht sehr fest und wurden durch Angst und Zittern noch mehr abgeschwächt. Er konnte ihre Haut riechen. Ihre weiche, wunderschöne Haut. Während er versuchte, ihre Beine ruhig zu halten, und überlegte, was er tun sollte, dachte er daran, dass er eine Stunde lang das Haus durchsucht hatte, als sie sich fertigmachte, um zur Arbeit zu gehen. Er wünschte, er hätte sie nicht gesehen. Wünschte, ihr Parfüm wäre ihm nicht oben auf der Treppe in die Nase gestiegen. Wünschte, er müsste jetzt nicht tun, was unumgänglich war.

Er kam zu dem Schluss, sie als Kollateralschaden zu betrachten, als Dominostein in der Mitte des Stapels, der – abgesehen von seiner Lage und dem Zeitpunkt seines Umkippens – keine Bedeutung hatte. Seine einzige Aufgabe war es zu fallen. Nun würde er sich mit weiteren Schuldgefühlen beschäftigen müssen. Das bedeutete noch mehr Medikamente und schlaflose Nächte. Wieder ein Geist auf einem Liegestuhl an seinem Strand in Coronaville.

Er musterte ihr Gesicht. Inzwischen lief alles ab wie in Zeitlupe. Sie hatte die Sporttasche aufgerissen und warf das Geld im ganzen Zimmer herum. Dabei sagte sie etwas, doch Cava konnte es nicht verstehen, weil so viel auf einmal geschah. Seltsamerweise hatte sie aufgehört mit den Beinen zu strampeln, und schlang die Oberschenkel um seinen Hintern. Während er versuchte, sich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren, wurde er sich wieder seiner Erektion bewusst. Sie war noch immer vorhanden. Noch immer steinhart. Und als er in ihre wild dreinblickenden Augen schaute, erkannte er ein Funkeln darin und wusste, dass sie es ebenfalls spürte.

Sie biss die Zähne zusammen. Fuhr mit ausgestreckten Fingernägeln über seinen Arm. Holte nach ihm aus.

Plötzlich war das Leben wieder kompliziert. Ein Durcheinander aus widersprüchlichen Signalen, und es fehlte ihm die Zeit, sie zu deuten. Das Schicksal war da. Er musste jetzt aktiv werden. Er musste die Sache beenden. Wenn die Schuldgefühle zu übermächtig wurden, konnte er die Nacht ja damit verbringen, Hundertdollarscheine zu zählen.

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