41

»Wir müssen reden«, stellte Rhodes fest. »Und zwar sofort.«

Sie saßen im Crown Vic in Fontaines Auffahrt und teilten sich eine Zigarette.

»Das ist die letzte Runde«, meinte er. »Sie legen jeden um, der eingeweiht ist.«

Lena nickte wortlos und zog kräftig an der Zigarette, bevor sie sie Rhodes weitergab. Sie hatte das Gefühl, dass sie zu wenig Nikotin enthielt.

»Du sagtest, Ramira sei vermutlich seit zwei Stunden tot gewesen«, fuhr Rhodes fort.

»Allerhöchstens.«

»Glaubst du, die Morde gehen auf Klingers Konto? Hattest du den Eindruck, er hätte sich schon so lange im Haus herumgedrückt ?«

»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Aber Ramina hatte zerschrammte Fingerknöchel. Anscheinend hat er sich gewehrt. Und Klinger sah ein wenig verbeult aus.«

»Was meinst du mit verbeult?«

»Sein Gesicht. Er hatte ein blaues Auge.«

Rhodes schüttelte den Kopf. »Das hat er nicht von Ramira.«

»Woher willst du das wissen?«

»Nachdem ich dich gestern Abend bei deinem Auto abgesetzt habe«, flüsterte er, »bin ich zu ihm gefahren.«

Eine Weile herrschte Schweigen im dunklen Wageninneren. Ihre Blicke trafen sich.

»Ich habe befürchtet, du könntest Recht haben«, sprach er weiter. »Es bestand die Möglichkeit, dass sie die Akte schließen und Albert Pooles Namen darauf stempeln. Und das wollte ich unter allen Umständen verhindern. Es hat geklappt.«

Wieder entstand Schweigen. Diesmal ein wenig länger.

»Also ist Poole entlastet?«, fragte sie.

Rhodes sah sie an und nickte mit Nachdruck.

Lena griff nach der Zigarette. »Klinger hat Dreck am Stecken, Stan. Das Gleiche gilt für Polizeichef Logan. Allerdings gibt es keine Beweise dafür, dass einer der beiden Ramira auf dem Gewissen hat. Ich war nicht dabei, sondern habe ihn erst nach dem Mord ertappt. Klinger kann alle möglichen Gründe gehabt haben, ins Haus einzudringen. Er hat alles durchsucht und die Akte gefunden.«

»Warum hat er dich damit hinausspazieren lassen, wenn sie so wichtig ist, wie du glaubst?«

Lena schüttelte den Kopf. »Er hat sich eben so entschieden. Besser kann ich es dir auch nicht erklären.«

»Was sonst noch?«, erkundigte sich Rhodes.

»Die Morde haben alle das gleiche Thema.«

»Was für ein Thema?«

»Bloom wurde in einem Müllcontainer hinter dem Lokal Tiny’s entdeckt. In der Garage in der Barton Avenue haben wir einen Fleischwolf sichergestellt. Ramira wurde mit einem Bratenthermometer erstochen. Und Greta Dietrich wurde eingefroren.«

»Also passt Ramira auch ins Bild«, verkündete Rhodes. »Die Morde wurden alle von ein und derselben Person begangen.«

Lena zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht.«

Ihre Stimme erstarb. Es wurde still im Auto. Sie merkte Rhodes an, wie es in seinem Verstand arbeitete. Er überlegte. Nach einer Weile ergriff er wieder das Wort.

»Als ich letzte Woche im Krankenhaus war, bin ich im Wartezimmer mit einem Typen ins Gespräch gekommen. Er kam auch aus LA., und wir haben uns eben so unterhalten. Nach einer Weile habe ich mich erkundigt, was er denn beruflich macht, und er antwortete, er sei Platzhalter.«

»Was ist denn bitte ein Platzhalter?«

»Das Gleiche habe ich ihn auch gefragt. Schaust du dir manchmal die Preisverleihungen im Fernsehen an?«

Lena schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht«, meinte Rhodes. »Er hat mir erklärt, wenn ein Promi mal rausmuss, um eine zu rauchen oder aufs Klo zu gehen, setzt er sich auf dessen Stuhl. Und wenn derjenige dann zurückkommt, steht er wieder auf und verschwindet.«

»Und welchen Sinn soll das haben?«

»Er hat mir erzählt, die Fernsehproduzenten hätten es nicht gern, wenn bei Kamerafahrten durch den Saal unbesetzte Stühle zu sehen wären. Es muss immer den Eindruck machen, als wäre kein Platz mehr frei. Und deshalb beschäftigen sie extra Leute, die diese Plätze besetzen.«

»Gut«, sagte Lena. »Und was hat das mit unserem Fall zu tun?«

Rhodes zog an der Zigarette und gab sie zurück. »Er hat hinzugefügt, die Promis könnten es nicht leiden, angestarrt zu werden, weil es sie verlegen macht, und dann würden sie böse. Man müsse also den Platz wechseln, ohne Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen. Ansonsten sei man seinen Job rasch wieder los. Er meinte, das sei gar nicht so einfach, wie es sich anhört.«

»Also verdient dieser Typ seine Brötchen damit, dass er absichtlich wegschaut.«

»Richtig«, entgegnete Rhodes. »Und außerdem war er ein richtiger Idiot. Ich habe ihn nur wegen Dean Tremell erwähnt. Der macht es nämlich genauso. Er hat die besten Beziehungen, aber keiner darf ihn ansehen. Er ist bereit, jeden geforderten Preis zu bezahlen, damit er weiter auf Wolke sieben schweben kann. Wie kommen wir an ihn ran? Und wem außer Barrera können wir sonst noch vertrauen?«

Zwei schwierige Fragen, auf die es keine Antwort gab. Lena betrachtete Fontaines Villa. Die Fenster waren wieder dunkel. Sie hatten das Haus genauso hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatten.

»Das soll also heißen, dass wir den Mord melden müssen.«

Rhodes musterte sie. »Und wir beide wissen, wie es drinnen im Haus aussieht.«

»Nämlich genau so, dass es sich mit Tremells Plänen deckt.«

»Alle sind tot, Lena. Alle, die im Bilde waren. Bis auf mich, dich und den Zeugen ist niemand mehr übrig.«

»Avadar glaubt, der Zeuge sei abgehauen.«

»Dann also nur noch wir beide.«

»Da wäre noch jemand«, meinte sie.

»Wer?«

»Ein Mitglied der Polizeikommission. Senator Alan West.«

»Ist deine Rufnummer noch unterdrückt?«

Lena nickte.

»Dann verständigst du besser die Polizeizentrale.«

Sie konnte die Angst in seinem Gesicht sehen, sobald er die Tür öffnete. Die beiden Leibwächter, die den Senator flankierten, blickten argwöhnisch drein.

»Immer mit der Ruhe«, sagte West zu den Männern. »Das sind Freunde von mir.«

Allerdings stand das Misstrauen den Leibwächtern weiter ins Gesicht geschrieben, auch wenn sie einige Schritte zurückwichen. Es waren Hünen, zwei Schwergewichtler in dunklen Anzügen und mit derben Gesichtern, die keinen Hehl daraus machten, dass sie bewaffnet waren. Während Lena und Rhodes eintraten, fragte sie sich, ob die zwei wohl als Beschützer genügen würden. Der Senator wohnte nördlich vom Strip in den Hügeln unweit des Hedges Place. Das große, moderne Haus bot einen Panoramablick in alle Richtungen.

Und genau das war das Problem. Es gab zu viele Fenster. Außerdem war es zu leicht einsehbar.

West schickte die Leibwächter weg und bat die Besucher ins Wohnzimmer. Das Funkeln in seinen blauen Augen war ebenso verschwunden wie das Lächeln, an das sie sich noch von letzter Woche erinnerte. Er war lässig mit einem Pullover und einer Stoffhose bekleidet. Offenbar bedrückte ihn etwas.

»Ich kann Denny nicht erreichen«, verkündete er. »Den ganzen Tag versuche ich es schon. Er geht einfach nicht ans Telefon.«

Lena betrachtete ihn, während er am Kamin Platz nahm. »Das wird er auch nicht mehr«, erwiderte sie.

West nahm diese Nachricht schweigend auf und ließ den Kopf hängen.

»Erzählen Sie uns von dem Buch, bei dem Sie ihm geholfen haben«, begann Lena. »Wir müssen alles über Formel D wissen.«

West versuchte, sich zusammenzunehmen, allerdings mit wenig Erfolg.

»Warum sagen Sie mir nicht, was mit Denny los ist?«, entgegnete er leise.

»Denny wurde ermordet«, antwortete Lena. »Sein Haus wurde durchwühlt.«

»Haben Sie etwas gefunden?«

»Eine Akte.«

»Was stand drin?«

»Interviewmitschriften für sein Buch. Wir hatten noch keine Gelegenheit, sie zu lesen.«

»Warum nicht?«

»Weil Fontaine ebenfalls tot ist.«

Die Tragweite dieser Worte senkte sich schwer über die Anwesenden. West lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster. Sein Gesicht war inzwischen so grau wie sein Haar.

»Dann bin ich vermutlich als Nächster dran«, flüsterte er.

»Sie sind Mitglied der Polizeikommission. Ein ehemaliger Senator der Vereinigten Staaten. Also können wir Ihnen so viele uniformierte Kollegen zur Verfügung stellen, wie Sie wollen oder brauchen.«

West schüttelte den Kopf. »Der Polizeichef steckt mit dem Oberstaatsanwalt unter einer Decke. Und der Oberstaatsanwalt geht wiederum mit jedem ins Bett, der ihm einen Scheck ausschreibt. Sie vergessen, dass ich die beteiligten Personen kenne. Und einer von ihnen kann es sich leisten, eine ganze Menge Schecks auszuschreiben.«

»Sie meinen Dean Tremell?«

West nickte. »Wie lange brauchen Sie noch, bis Sie genügend Beweise gegen ihn haben?«

»Wir haben das Mädchen identifiziert und wissen, dass es ermordet wurde. Viel mehr Details haben wir noch nicht.«

»Denny war ein guter Reporter. Sehr gründlich. Vermutlich werden seine Aufzeichnungen Sie einen großen Schritt weiterbringen.«

»Hoffentlich«, erwiderte Lena.

»Können wir unser Gespräch verschieben, bis Sie sie gelesen haben? Ich fühle mich plötzlich nicht sehr wohl.«

»Standen Sie einander so nah?«

»Jennifers Sohn starb nach der Einnahme des Medikaments«, antwortete er. »Sie kam hierher, um die Hintergründe aufzudecken. Durch seinen Sohn hat sie Tremell kennengelernt. Über die Einzelheiten weiß ich nicht viel. Denny war bestens im Bilde. Jedenfalls hat sie sich in eine der Probandengruppen eingeschlichen und ist ihm aufgefallen. Der alte Mann hat eine Schwäche für attraktive Frauen und verliebte sich in sie. Sie hat mitgemacht, bis sie genug Informationen hatte, um Fontaine zur Rede zu stellen. Laut Denny hat sie Tremell um den Finger gewickelt. Nachdem sie den Arzt überredet hatte, den Mund aufzumachen, erschien sie in meinem Büro. Da ihr das rechte Vertrauen in unser Rechtssystem fehlte, hat sie sich noch am selben Tag an Ramira gewandt. Sie war klug. Denny war gewissermaßen ihre Rückversicherung.«

Seine Stimme erstarb. Sein Blick war immer noch auf die Hügel jenseits der Fensterscheiben gerichtet, während er seinen Erinnerungen nachhing.

»Wir unterhalten uns weiter, nachdem wir die Mitschriften gelesen haben«, sagte Lena.

»Ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen. Doch eines müssen Sie noch erfahren, ehe Sie gehen.«

»Und das wäre?«

»Ich habe gestern Abend mit Denny gesprochen, um ihn zu überzeugen, dass wir Hilfe brauchen. Ein Freund von mir ist beim FBI drüben in Westwood. Mir schien das eine gute Idee zu sein.«

»Und wie hat Denny darauf reagiert?«

»Genauso wie immer. Er brauche mehr Informationen. Es sei noch zu früh.«

»Was für Informationen?«

»Er wollte etwas nachprüfen und dann die ganze Sache Ihnen übergeben.«

»Was überprüfen?«

»Den Namen des Mannes, der Jennifer auf dem Gewissen hat.«

»Denny kannte seinen Namen?«

West drehte sich um und sah Lena endlich an. Ihre Blicke trafen sich.

»Nathan G. Cava«, erwiderte er.

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