30
Lena bemerkte den Stau auf dem Freeway 110 erst, als sie schon auf der Auffahrt war und es kein Zurück mehr gab. Nun ging es nur noch vorwärts, und zwar zentimeterweise.
Allerdings störte sie das nicht weiter, denn sie dachte immer noch über Dean Tremells Worte beim Mittagessen nach.
Ihr Mobiltelefon vibrierte, doch es gelang ihr nicht, es schnell genug aus der Tasche zu nehmen. Als sie es auf den Beifahrersitz warf, wurde eine etwa zehn Jahre alte Erinnerung in ihr wach. Es war ein Interview, das sie entweder in KPCC oder KCRW gehört hatte, zwei Stationen, die dem Nachrichtensender National Public Radio angeschlossen waren und die Stadt zwischen Pasadena und Santa Monica versorgten. Der Journalist hatte den Vorstands vorsitzenden eines der größten Technologiekonzerne des Landes befragt, eines Unternehmens, das alles von Geschirrspülmaschinen bis hin zu Flugzeugdüsen herstellte. Der Mann war als Erfinder bekannt, plante, sich zur Ruhe zu setzen, und hatte ein Buch geschrieben. Als der Reporter sich erkundigte, woher er seine vielen Ideen habe, hatte er etwas geantwortet, das Lena nie mehr vergessen hatte. Er hatte gemeint, die besten Einfälle kämen ihm, wenn er etwas ganz Alltägliches täte wie zu kochen, im Garten zu arbeiten oder seinen Schreibtisch aufzuräumen. Die interessantesten Geistesblitze jedoch habe er am Steuer seines Wagens. Auf den Fahrten ins Büro und wieder nach Hause, allein im Auto, könne er seine Gedanken schweifen lassen. Er hatte hinzugefügt, die Einführung des Mobiltelefons sei ein herber Schlag für den Erfindergeist. Niemand könne mehr ungestört unterwegs sein und in Ruhe über seine Ziele und Pläne nachdenken. Stattdessen würden die Menschen wie die Aufziehmännchen über Belanglosigkeiten schwatzen.
Lena erinnerte sich an das Interview, weil sie die Meinung des Mannes teilte und Hochachtung vor ihm hatte. Doch als der Verkehr allmählich flüssiger wurde, schien ihr Verstand im Leerlauf festzustecken. Sie brauchte eine längere Strecke, viele, viele Meilen, um Dean Tremells Anliegen zu begreifen.
Niemals hätte sie erwartet, dass er sie um Hilfe bitten würde. Diesen Gesprächsverlauf hatte sie nicht vorausgeahnt und nicht gewusst, dass das die ganze Zeit seine Absicht gewesen war.
Lena nahm die nächste Ausfahrt und fuhr quer durch die Stadt zum Parker Center. Als sie in das heruntergekommene Parkhaus einbog, betete sie, dass es nicht über ihr zusammenstürzen würde, bevor sie einen Parkplatz gefunden hatte. Während sie über die Straße eilte, blinkte ihr Mobiltelefon wieder. Die moderne Technik mochte ihre Nachteile haben, aber wenigstens wusste sie, dass der Anrufer ein Freund war.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Ich beobachte dich vom zweiten Stock aus«, erwiderte Rhodes. »Ich bin gerade zurückgekommen.«
Lena blickte auf und erkannte ihn am Fenster. »Wie geht es deiner Schwester?«
»Prima. Der Arzt glaubt, sie ist über dem Berg.«
Lena merkte Rhodes an, dass er sich immer noch Sorgen machte. Sie hörte es an seiner Stimme.
»Das freut mich aber«, antwortete sie. »Außerdem bin ich froh, dass du wieder da bist.«
»Ich auch«, sagte er. »Ich kann Barrera nicht finden, und auch sonst ist niemand da. Ich brauche die neuesten Informationen.«
»Ich bin in zehn Minuten bei dir. Muss vorher noch etwas abgeben.«
Lena steckte das Telefon ein, schulterte ihren Aktenkoffer und fragte sich, ob Rhodes an ihrem Tonfall herausgehört hatte, dass etwas im Argen lag. Ob er sie wohl so gut kannte wie umgekehrt? Sie betrat das Gebäude, fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock und ging den Flur entlang in die Abteilung für Urkundenfälschung. Irving Sample, der Leiter, war nicht da. Lena kramte die Formulare, die Jennifer McBride in der Arztpraxis ausgefüllt hatte, und ihre Selbstauskunft für die Wohnung in der Navy Street heraus. Dann hinterließ sie Irving eine schriftliche Nachricht und ihre Mobilfunknummer auf einem Zettel und legte ihm alles auf den Schreibtisch. Da Sample McBrides Führerschein untersucht hatte, war er bereits mit dem Fall vertraut.
Sie entschied sich gegen den Aufzug, nahm die Treppe in den zweiten Stock und betrat die Nische vor dem Büro des Captains von der Rückseite her. Von den Verwaltungskräften fehlte jede Spur, und sie konnte auch Lieutenant Barrera nicht durch die Glasscheibe sehen. Als sie den Blick durch das Großraumbüro schweifen ließ, waren alle Schreibtische, auch der von Rhodes, unbesetzt. In ihrem Postfach entdeckte sie einen braunen Umschlag. Die Papiere darin waren noch warm vom Faxgerät. Das Deckblatt verriet ihr, dass sie aus Dean Tremells Büro kamen.
Wieder vibrierte ihr Mobiltelefon. Da sie dachte, dass es Rhodes war, klappte sie es auf. Aber es war Irving Sample, der inzwischen wieder an seinem Schreibtisch saß.
»Ich habe gerade Ihre Nachricht gelesen«, begann er. »Wonach soll ich suchen?«
»Ich habe Ihnen zwei Formulare gebracht. Das erste ist eine einseitige Selbstauskunft, die das Opfer wegen einer Wohnung ausgefüllt hat, das zweite ein zweiseitiges Formblatt aus der Praxis seiner Ärztin.«
»Das sehe ich selbst«, entgegnete er. »Falls es Sie interessiert, ob es die Schrift von ein und derselben Person ist, lautet die Antwort ja.«
»Ich verstehe«, meinte Lena. »Allerdings bereitet mir das zweiseitige Formular aus der Arztpraxis Kopfzerbrechen. Vielleicht bilde ich es mir ja bloß ein. Ich hatte nur den Eindruck, dass sie sich bei der ersten Seite sehr beeilt und sich bei der zweiten Zeit gelassen hat. Ohne die Selbstauskunft wegen der Wohnung wäre mir das nie aufgefallen.«
Sample schwieg. Sie hörte im Hintergrund Papiere rascheln.
»Ich kann Ihre Vermutung nachvollziehen«, sagte er schließlich. »Es besteht ein Unterschied. Er ist zwar kaum wahrnehmbar, jedoch vorhanden. Man hat ihr diese Formulare in der Arztpraxis ausgehändigt, und sie hat die erste Seite vollgekritzelt, so schnell sie konnte. Aber worauf wollen Sie hinaus?«
Lena stellte den Aktenkoffer auf den Boden und schaute aus dem Fenster. »Aus welchem Grund könnte sie am Anfang schneller geschrieben haben als am Schluss? Die meisten Leute, die in Eile sind, geraten doch gegen Ende unter Zeitdruck. Sie sehen auf die Uhr und bemühen sich, möglichst rasch fertig zu werden. Als ich die beiden Formulare nebeneinandergelegt habe, dachte ich mir, dass sich ein Vergleich vielleicht lohnen könnte. Oder finden Sie das albern?« Sample antwortete nicht sofort, und als er endlich das Wort ergriff, hörte sie ihm sein Zögern an.
»Das Mädchen war nicht wie die meisten, richtig?« »Nein«, sagte Lena. »Das glaube ich auch.« »Ich tue, was ich kann«, erwiderte er. »Sobald ich mehr weiß, gebe ich Ihnen Bescheid.«
Lena beendete das Gespräch. Die Vorstellung, wie Irving Sample kopfschüttelnd an seinem Schreibtisch im dritten Stock saß, war ihr peinlich. Ihre Theorie war an den Haaren herbeigezogen, und vermutlich wollte er nur höflich sein. Ihre Anfrage war offensichtlich sinnlos. Und außerdem telefonierte sie zu viel.
Mit einem Achselzucken nahm Lena an ihrem Schreibtisch Platz. Sie stellte fest, dass Rhodes’ Jacke über seiner Stuhllehne hing. Wo mochte er nur stecken? Sie beugte sich über die Papiere, die ihr aus Dean Tremells Büro gefaxt worden waren. Es war eine Kopie der Geburtsurkunde des Kindes dabei. Ebenso die Entlassungspapiere seiner Schwiegertochter aus dem Krankenhaus. Außerdem gehörte eine Abschrift der Rechnung dazu. Sämtliche persönlichen Daten und Geldbeträge waren geschwärzt, sodass dem Formblatt nur die Länge des Krankenhausaufenthalts und die Endsumme zu entnehmen waren. Dennoch hatte Dean Tremell wie versprochen sein Büro angerufen. Und er hatte ihr damit wirklich viel Zeitaufwand erspart. Ohne Zweifel hatte seine Schwiegertochter einen Sohn zur Welt gebracht, während die Schwangerschaft der Frau, die sich Jennifer McBride nannte, vermutlich so verlaufen war wie von ihrer Ärztin vermutet. Sie hatte entweder abtreiben lassen oder eine Fehlgeburt erlitten. Jedenfalls gab es kein Kind.
Als Lena ein Geräusch hörte und sich umdrehte, sah sie Barrera aus einem der Vernehmungszimmer treten. Rhodes folgte ihm und schloss die Tür. Im nächsten Moment hatten die beiden sie entdeckt und kamen mit besorgten Mienen auf sie zu.
»Lena«, verkündete Barrera. »Sie haben Besuch.«
Lena warf Rhodes einen Blick zu. »Ja, wir haben erst vor zehn Minuten miteinander telefoniert.«
»Ich meine nicht Rhodes«, entgegnete Barrera, »sondern Justin Tremell.«
Die zwei Männer musterten sie abwartend.
»Er wartet schon seit über einer Stunde«, fuhr Barrera fort. »Und er möchte nur mit Ihnen sprechen. Als Rhodes eingetrudelt ist, habe ich ihn hinzugebeten. Doch der Junge hat bloß den Kopf geschüttelt und darauf beharrt, dass Sie es sein müssen. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«
Lena zögerte. Eigentlich hielt sie es für verfrüht, ihr Treffen mit Dean Tremell zu erwähnen, weil sie selbst noch nicht wusste, wie sie die Informationen einordnen sollte.
»Wollen Sie oben anrufen und das Gespräch aufzeichnen lassen?«, fragte sie.
Barrera steckte die Hände in die Taschen und sah sich im leeren Großraumbüro um. »Das Tonband läuft bereits, und ihm wurden schon seine Rechte vorgelesen. Ich habe mit Lamar geredet. Er hat die Monitore abgeschaltet, damit niemand im fünften Stock mitkriegt, dass der Junge hier ist. Sie haben den Chef ja gestern gehört. Falls die da oben Wind davon bekommen, dass Sie mit Justin Tremell in einem Vernehmungszimmer sitzen, können Sie Ihr Testament machen. Und ich ebenfalls.«
Lena drehte sich zu Rhodes um. Da er drei Tage fort gewesen war, wusste er nichts von ihrem Zusammenstoß mit dem Polizeichef und wirkte deshalb ein wenig ratlos.
Sie wandte sich wieder ihrem Vorgesetzten zu. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir ihn später unbemerkt aus dem Gebäude schmuggeln. Ich erzähle Rhodes, was in den letzten Tagen gelaufen ist. Wir gehen ins Büro des Captains.«
Lenas Aktenkoffer lag neben ihr auf einem unbenutzten Schreibtisch. Rhodes griff nach der Mordakte und entdeckte die Unterlagen, die Dean Tremell ihr gefaxt hatte.
»Was ist denn das?«, erkundigte er sich.
Lena steckte die Papiere hastig in ihren Aktenkoffer. Sie wollte nicht, dass sie in die Mordakte aufgenommen wurden. Das Risiko war zu groß, dass ihre Nachforschungen, was die wahre Identität von Tremells Enkel anging, zu Futter für die Presse wurden.
»Nicht weiter wichtig«, meinte sie. »Eine Sackgasse, mit der wir uns nicht weiter zu befassen brauchen.«
Als Lena die Tür öffnete, saß Justin Tremell auf einem Stuhl am anderen Ende des Raums und starrte an die Decke. Bei ihrem Anblick sprang er auf und schüttelte ihr die Hand. Er verhielt sich aufgeschlossen und höflich – und wie Lena sofort auffiel, war er nervös. Anders als bei ihrer ersten Begegnung am Samstag trug er keine mürrische Miene mehr zur Schau. Und auch seine Hände waren nicht mehr so ruhig. Tremell machte einen aufgelösten Eindruck. Offenbar hatte der schlaksige Junge mit den Luxusproblemen endlich begriffen, dass er sich der Wirklichkeit stellen musste.
Nachdem er wieder Platz genommen hatte, setzte sich Lena ihm am Tisch gegenüber. Der Raum war eng. Die Neonröhre über ihren Köpfen surrte.
»Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen«, begann sie.
»Ich weiß. Deshalb bin ich ja hier.«
»Warum haben Sie nicht Lieutenant Barrera gebeten, mich anzurufen, wenn Sie mit mir reden möchten?«
»Weil Sie noch in der Besprechung mit meinem Vater waren. Ich wollte nicht stören.«
Lena musterte ihn forschend. Er schien die Wahrheit zu sagen.
»Wollen Sie einen Anwalt?«, fragte sie.
»Nein, alles bestens, danke.«
»Brauchen Sie einen Anwalt?«
Tremell sah sie an und senkte die Stimme. »Ich glaube nicht.«
Lena lehnte sich zurück. Es wurde still im Raum.
»Dann verraten Sie mir, warum Sie hier sind, Justin. Worüber möchten Sie mit mir sprechen?«
Anstelle einer Antwort rutschte Tremell auf seinem Stuhl herum und schien angestrengt nachzudenken. Dann atmete er tief durch. Als er endlich das Wort ergriff, war er kaum zu verstehen.
»Ich habe sie gekannt«, flüsterte er.
Wieder senkte sich eine Weile tiefes Schweigen über den Raum.
»Ich war in der fraglichen Nacht dort«, fuhr er schließlich fort. »Am Samstag habe ich alles abgestritten, weil mein Vater im Zimmer war. Tut mir leid, wenn Sie meinetwegen Schwierigkeiten hatten. Aber mir war klar, was er daraus schließen würde, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Er sollte nicht wissen, was ich getan hatte.«
Lena ließ die Worte auf sich wirken. Erneut wurde es totenstill im Raum. Nur die Neonröhren surren unbeirrt weiter.
»Und was haben Sie getan, wovon Ihr Vater nichts wissen soll?«
Tremell seufzte auf. »Jennifer war meine Freundin.«
»Ihre Freundin?«
»Meine Frau war schwanger. Es war eine Risikoschwangerschaft. Die letzten drei Monate musste sie im Bett verbringen, und ich kam einfach nicht klar damit. Ich brauchte ein Ventil. Dann habe ich Jennifers Anzeige in der L.A. Weekly gelesen. Es fing als Massage an und entwickelte sich immer weiter. Ich mochte sie, und sie war nett zu mir. Wahrscheinlich verstehen Sie mich nicht, denn ich verstehe es ja selbst nicht. Ich liebe meine Frau wirklich sehr, aber ich habe mich trotzdem in Jennifer verguckt. Wenn mein Vater das rauskriegt, bekommt er einen Tobsuchtsanfall.«
»Wusste sie, wer Sie sind?«
»Klar, doch solche Dinge interessierten sie nicht.«
»Sie hat also nie Geld von Ihnen verlangt?«
Er schüttelte den Kopf. »Für die ersten Massagen habe ich noch bezahlt. Als sich unser Verhältnis dann änderte, hat das aufgehört. Ich habe ihr stattdessen Geschenke gemacht.«
»Was für Geschenke?«
»Blumen. Einladungen zum Essen. Bücher. Was man einer Freundin oder Geliebten eben so schenkt.«
»Sie hat Sie nicht erpresst oder behauptet, dass sie schwanger ist?«
Tremell lehnte sich zurück und starrte Lena entgeistert an. Offenbar hörte er das zum ersten Mal. Sein Verhalten wirkte aufrichtig und nicht gespielt.
»Jennifer war nicht schwanger«, erwiderte er. »Zumindest nicht, als ich sie kannte. Sie hatte ihre Tage. Mit Kopfschmerzen, Bauchweh und so weiter.«
»Hat sie es vielleicht als Darlehen bezeichnet?«, hakte Lena nach. »Sie könnte Sie ja gebeten haben, ihr finanziell unter die Arme zu greifen.«
»In diesem Fall hätte ich ihr das Geld gegeben, ohne Fragen zu stellen. Aber sie hat nie etwas von mir gefordert.«
Lena überlegte eine Weile. Bis jetzt war sie gemächlich vorgegangen, damit Tremell sich sicher und entspannt fühlte. Sie sah keinen Grund, ihre Taktik zu ändern.
»Warum waren sie am Mittwochabend im Cock-a-dood-le-do? Weshalb haben Sie Jennifer dort getroffen, wenn sie Ihre Freundin war?«
Tremell schob seinen Stuhl zurück, stützte die Ellenbogen auf die Knie und blickte Lena an. Sie hatte sich, auch was seine Augen anging, geirrt. Sie waren genauso grau und strahlend wie die seines Vaters.
»Ihre Leute führen doch Akten über mich«, meinte er. »Wahrscheinlich wissen Sie mehr über mich als ich selbst. Die Geschwindigkeitsübertretungen, das Fahren unter Alkoholeinfluss, die Kneipenschlägereien, die Frauen, mit denen ich mich früher herumgetrieben habe und deren Lebensinhalt es war, berühmt zu werden und in einer dieser dämlichen Unterhaltungsshows im Fernsehen aufzutreten. Nicht die vorgetäuschten Entziehungskuren haben mich gerettet. Auch nicht die Ermahnungen der Richter, die mich verurteilt haben. Nein, nicht einmal das peinliche Gefühl, das Sie an meiner Stelle vermutlich morgens beim Aufwachen gehabt hätten, denn es war mir nicht peinlich. Dazu war ich viel zu zugedröhnt. Meine Frau hat mich da rausgeholt. Sie hat mir die Möglichkeit eröffnet, aus dem Schatten meines Vaters zu treten und selbst etwas aus mir zu machen. Ich bin ein ziemlicher Spätentwickler. Und ich habe noch einen langen Weg vor mir. Aber sie hat ihn mir geebnet.«
»Wie kommt sie denn mit Ihrem Vater zurecht?«
Tremell grinste. »Nicht sehr gut. Doch er weiß, was sie mir bedeutet, und das muss genügen. Er duldet sie, und sie bemüht sich, nett zu ihm zu sein.
Lena betrachtete Tremell und studierte eindringlich seine Miene und seine lockere Körperhaltung. Der Mann ahnte wirklich nichts. Er wusste nicht, was sein Vater hinter seinem Rücken trieb. Als sie sich dessen sicher war, ging sie zur nächsten Frage über.
»Gut«, meinte sie. »Warum haben Sie sich also mit Jennifer getroffen?«
»Eigentlich wollte ich Schluss machen, habe es aber einfach nicht geschafft, es ihr zu sagen. An diesem Abend wollte ich ihr reinen Wein einschenken. Meine Frau hatte gerade meinen Sohn zur Welt gebracht. Es ging ihr besser. Es gab also keinen Grund, das Verhältnis mit Jennifer weiterzuführen, abgesehen davon, dass ich sie immer noch mochte. Und das reicht eben nicht.«
»Weshalb in diesem Lokal?«, erkundigte sich Lena. »Warum das Risiko, dass jemand sie erkennt?«
Er lachte auf. »Vermutlich ist es der einzige Schuppen in der ganzen Stadt, wo ich keinem Bekannten in die Arme laufe. Und selbst wenn, würde derjenige den Mund halten, weil man ihn sonst fragen könnte, was er selbst denn dort wollte.«
Dieser Einwand leuchtete ihr ein. Falls es nicht zu einem Mord gekommen wäre, wäre das Lokal wahrscheinlich nie erwähnt worden.
»Außerdem ist der Laden ganz anders, als man auf den ersten Blick glaubt«, fuhr er fort. »Insbesondere, wenn man gern Live-Musik hört. Das Essen ist gut, und die Besitzerin ist in Ordnung. Jennifer und ich haben uns dort getroffen, weil sie einen Termin in Torrance hatte. Es liegt auf halbem Weg.«
»Wie hat sie auf die Nachricht reagiert?«
»Sie hat es nie erfahren. Ich hatte einfach nicht den Mut, es ihr zu sagen. Und dann musste sie weg, weil sie den nächsten Termin hatte. Ich bin noch eine Weile geblieben. Als die Band Pause gemacht hat, bin ich gegangen.«
Lena ließ das Gespräch Revue passieren, das sie und Rhodes mit Natalie Wells geführt hatten. Tremells Aussage deckte sich mit der der Kellnerin.
»Was ist mit ihrem Beruf?«, fragte Lena. »Sie wussten ja offenbar, womit Jennifer ihren Lebensunterhalt verdiente. Waren Sie denn nie eifersüchtig?«
Tremell lief rot an. Seine Stimme wurde leiser. »Es fällt mir schwer, mit einer Frau darüber zu reden.«
»Glauben Sie mir, mich schockiert man nicht so leicht.«
Nachdem er eine Weile überlegt hatte, setzte er sich auf und zuckte mit den Achseln. »Die Wahrheit ist, dass es mir irgendwie gefallen hat. Es hat mich angemacht. Wahrscheinlich heißt das, dass mit mir noch immer etwas nicht stimmt, aber so war es nun mal. Außerdem hat Jennifer es nur selten erwähnt. Es schwebte eben immer so im Hintergrund. Hinzu kam, dass sie vorhatte auszusteigen. Sie hat mir erzählt, sie hätte jemanden kennengelernt, der ihr dabei helfen wollte.«
»Wen?«
Tremell schüttelte den Kopf. »Das hat sie mir nicht verraten, doch mir war klar, dass es ein Freier sein musste. Sie nannte ihn ihren Mäzen.«
»Und Sie waren noch immer nicht eifersüchtig?«
»Vielleicht ein bisschen«, räumte er ein. »Allerdings habe ich mir insgeheim eine einfache Lösung davon erhofft. Wenn sie sich von mir getrennt hätte, hätte ich es nicht tun müssen.«
»Und sie hat den Namen des Typen nie genannt oder ihn näher beschrieben?«
»Nein, doch ich hatte den Eindruck, dass er schon älter war. Vielleicht auch ein bisschen schräg drauf. Er hat ihr eine Krankenschwesterntracht gekauft und wollte, dass sie sie anzog. Mehr hat sie nie über ihn gesagt. Nur dass er auf Krankenschwestern steht und in Beverly Hills wohnt.«
Lena ließ die Worte auf sich wirken. Die beiden sahen einander schweigend an. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen, und Barrera kam hereingehastet.
»Verzeihung«, keuchte er. »Aber Sie müssen die Vernehmung später weiterführen, Lena. Ich brauche Sie dringend.«
Als Lena den Raum verließ, sah sie Rhodes in der Nische stehen. Barrera schloss die Tür.
»Es gibt Neuigkeiten«, raunte er.
»Fontaine?«
Barrera machte ein erstauntes Gesicht. »Nein«, entgegnete er. »Der Typ, der die Garage in der Barton Avenue gemietet hat. Wir haben seinen Namen und seine Adresse.«