3

Lena warf ihren Aktenkoffer auf den Beifahrersitz, sprang in ihren Honda Prelude und ließ den Motor an. Nachdem sie die Heizung reguliert hatte, drehte sie am Radio herum, bis sie den Sender KEOQ gefunden hatte. Aber noch ehe sie lauter stellen konnte, begann ihr Mobiltelefon zu vibrieren. Ein Blick auf die Anzeige verriet ihr, dass der Moment der Wahrheit da war. Der Anruf kam direkt aus Polizeipräsident Logans Büro im Parker Center.

»Hier spricht Lieutenant Klinger, Gamble. Sind Sie schon am Tatort?«

Sie zuckte mit den Achseln. Klinger musste doch wissen, dass Barrera sie gerade erst kontaktiert hatte. Also konnte es ihm nicht um Informationen gehen. Der Mann führte etwas anderes im Schilde.

»Ich fahre soeben los, Lieutenant.«

»Drücken Sie mal ein bisschen auf die Tube, Detective. Beeilung.«

Offenbar war das ein Vorgeschmack auf das zukünftige Arbeitsklima, sagte sich Lena. Klinger und seine Leute im fünften Stock würden ihr die ganze Zeit über die Schulter schauen. Am liebsten hätte sie entgegnet, dass in einer Mordermittlung kein Platz für Bürohengste und Besserwisser war. Verbrechen wurden mit dem Verstand rekonstruiert und auch damit aufgeklärt. Aber sie schwieg. Während sie lauschte, wie Klinger alles wiederholte, was Barrera ihr erst vor zehn Minuten erzählt hatte, wurde ihr klar, dass sie diesen Mann kaum kannte. Ihre Wege kreuzten sich nur selten. Klinger war etwa vierzig und seit fünfzehn Jahren bei der Polizei. Soweit Lena gehört hatte, hielt er sich für einen begabten Ermittler, obwohl er kaum praktische Erfahrung mit tatsächlichen Mordfällen besaß. Stattdessen hatte er den Großteil seiner beruflichen Laufbahn im Parker Center bei der Abteilung Interne Ermittlungen verbracht, die unter Polizeichef Logan im Dezernat für Qualitätskontrolle umbenannt worden war. Bei der gesamten Polizei gab es keinen einzigen Kollegen, der dieser Abteilung – ganz gleich, wie sie inzwischen auch heißen mochte – nicht von ganzem Herzen misstraute. Deshalb war Lena ebenso erstaunt gewesen wie alle anderen, als der Polizeipräsident bei seinem Amtsantritt Klinger zu seinem Assistenten ernannt hatte. Auch wenn der Polizeipräsident von auswärts stammte, musste ihm doch klar gewesen sein, dass er damit die Moral der Truppe aufs Spiel setzte. Ganz gleich, welche Talente Klinger auch haben mochte, war es kein kluger Schachzug gewesen.

Lena zwang sich, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Klinger hatte ihr gerade eine Frage gestellt, aber bis auf seinen herablassenden Tonfall war nichts bei ihr angekommen.

»Hören Sie mir überhaupt zu, Gamble?«

»Ja, Lieutenant.«

»Dann antworten Sie mir. Liegt Ihnen der Terminplan des Polizeichefs vor oder nicht?«

»Ich bin bestens gerüstet.«

»Dann wissen Sie ja, wo Sie uns finden können, ganz gleich, wie spät es ist. Und jetzt fahren Sie zum Tatort und melden sich so schnell wie möglich, Detective. Der Polizeipräsident behält Sie im Auge und möchte über jeden Schritt der Ermittlungen informiert werden. Ist das klar? Jeden Bericht. Jeden Hinweis.«

»Gibt es da etwas, das ich wissen sollte, Lieutenant?«

Er zögerte einen Moment, als hätte er nicht mit diesem Einwand gerechnet und läse nur von einem Drehbuch ab. »Jeder Fall ist wichtig«, entgegnete er schließlich. »Es ist eine Ermittlung wie alle anderen, Gamble.«

Lena verstand genau, was Klinger ihr sagen wollte, denn eigentlich entsprach es auch ihrer eigenen Auffassung. Allerdings schwang in seiner Stimme etwas mit, das sie argwöhnisch machte. Was wurde hier gespielt? Plötzlich hatte sie eine Idee, warum der Polizeipräsident diesem Fall solche Bedeutung beimaß.

Es war die Mordstatistik. Er wollte verhindern, dass die Anzahl der Fälle während seiner Dienstzeit die Fünfhundertermarke überschritt, weil das seinem guten Ruf geschadet hätte. Gestern hatten bis zu dieser magischen Grenze dreizehn Leichen gefehlt. Heute waren es nur noch zwölf.

Es ging nur um politische Eitelkeiten.

Der bloße Gedanke stieß sie so ab, dass sie am liebsten aufgelegt hätte. Diesen Leuten kam es nur auf Äußerlichkeiten an, nicht auf Menschen. Zahlen waren wichtiger als Menschenleben. Dem Polizeichef und seinem Helfershelfer war das Opfer völlig gleichgültig. Sie wollten den Fall so schnell wie möglich abschließen, bevor die Presse sich daran festbiss. Wenn man den Polizeichef dann nach der Mordrate fragte, konnte er guten Gewissens erwidern, die Aufklärungsquote sei gestiegen. Auf diese Weise hatte er die Möglichkeit, die Debatte an sich zu reißen und die Statistik sowie die dazugehörigen Opfer unter den Teppich zu kehren.

»Sonst noch etwas, Lieutenant?«, erkundigte sie sich.

»Jawohl, Gamble. Sie sind Detective bei der Polizei von Los Angeles. Verhalten Sie sich entsprechend und fallen Sie nicht aus der Rolle.«

Ein Klicken. Er hatte aufgelegt.

Eine Weile verging. Lena klappte ihr Telefon zu und blickte die Auffahrt entlang und hinüber zu ihrem Haus. Ein leichter Westwind wehte, und sie hörte trotz des Motorengeräuschs das Rascheln der Palmen. Sie überlegte, warum sie Polizistin hatte werden wollen. All die Gründe, warum sie sich für diesen Beruf entschieden hatte. Und sie wusste, dass sie es schaffen würde. Ganz gleich, wie sie sich jetzt auch fühlen mochte, sie würde sich behaupten.

Lena schaltete das Radio ab, rollte die Auffahrt entlang und machte sich über die Serpentinenstraße auf den Weg nach Hollywood. Sie öffnete die Fenster und ließ den kalten Wind durchs Auto peitschen, bis sie sich endlich beruhigt hatte und die Gedanken an Klinger im Rückspiegel verschwunden waren. Sie freute sich schon darauf, endlich wieder einen richtigen Fall zu bearbeiten. Doch sie hatte auch Angst davor.

Als sie die Gower Street erreichte, wurde die Straße gerade. Sie passierte das Monastery of the Angels, betrachtete kurz die Statue der Jungfrau Maria auf dem Hügel, biss dann die Zähne zusammen und trat den ganzen Weg bis zum Franklin Boulevard das Gaspedal durch. Kurz darauf war sie auf dem Hollywood Boulevard und bog in die Ivar Avenue ein.

Sie sah den Transporter des Leichenbeschauers hinter einer Reihe schwarzweißer Streifenwagen mitten auf der Straße stehen. Jemand hatte gelbes Absperrband an der Ecke Hollywood Boulevard bis zur Ivar Avenue und zur Yucca Street quer über den Gehweg gespannt. Der Wagen der Kriminaltechnik war schon da, parkte rückwärts in der Seitengasse und versperrte den Zugang. Als Lena einen Blick über die Straße warf und den Kleinbus eines Nachrichtensenders mit dazugehöriger Videokamera bemerkte, verstand sie den Grund. Der Wagen sollte offenbar als Sichtschutz dienen.

Sie drehte sich zur Straße um. Offenbar war der Parkplatz gegenüber vom Knickerbocker Hotel von der Polizei mit Beschlag belegt worden. Nachdem sie sich bei einem mit einem Klemmbrett bewaffneten Polizisten eingetragen hatte, stellte sie ihren Wagen ab.

Das merkwürdige Gefühl in ihrer Brust meldete sich zurück, zusammen mit einem Anflug von Selbstzweifeln, die flackerten wie eine Glühbirne, die kurz davor war, den Geist aufzugeben. Als sie mit ihrem Aktenkoffer den Gehweg entlangmarschierte, sah sie kurz zu dem Hotel hinüber. Marilyn Monroe und Joe DiMaggio hatten ihre Flitterwochen im Knickerbocker verbracht. Elvis hatte während seiner Dreharbeiten zu Love Me Tender dort gewohnt. Allerdings war das schon lange her. Inzwischen war das Knickerbocker ein Seniorenheim für russische Einwanderer in einem Viertel, wo ansonsten Obdachlose und Junkies das Straßenbild prägten.

Jemand rief ihren Namen. Lena hob den Kopf und stellte fest, dass ein weiterer Kleinbus eines Nachrichtensenders eingetroffen war. Ein dritter wartete darauf, dass die rote Ampel an der Ecke umsprang. Sie hielt Ausschau nach einem vertrauten Gesicht, konnte jedoch niemanden entdecken. Als sie sich weiter umsah, erkannte sie Ed Gainer, den leitenden Ermittler aus dem Büro des Leichenbeschauers, der ihr aus seinem Wagen zuwinkte.

»Ich komme gleich«, sagte er. »Haben Sie schon was gehört?«

»Nur ein Wort: Beeilung.«

Er nickte in Richtung der Medienvertreter. »Das Büro des Polizeichefs hat die Meldung per Funk durchgegeben. Ich fasse es nicht, dass es nicht telefonisch passiert ist. Eigentlich müssten sie es besser wissen.«

Lena zuckte mit den Achseln. Natürlich wussten sie es besser. So wie jeder, der eine Dienstmarke trug: Am Polizeifunk hörten die Reporter mit.

Während sie sich am Transporter der Kriminaltechnik vorbeischlängelte, fragte sie sich, warum der Polizeichef und sein Assistent wohl die Presse hergelockt haben mochten. Wieder musste sie an das Wort Falle denken. Im nächsten Moment trat sie in die Seitengasse und fühlte sich fast, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Die ganze Straße war in einen tief dunkelgrauen Nebel gehüllt, und der Geruch nach Küchendünsten aus dem Tiny’s lag in der Luft. Lena wedelte den Qualm weg und entdeckte ihren ehemaligen Partner Pete Sweeney, der mit Terry Banks mitten auf der Straße stand. Einige Spurensicherungsexperten warteten am Straßenrand, während ein gedrungener Mann, dessen Haut die Farbe von Kaffee mit Sahne hatte, den Tatort mit einer motorbetriebenen Nikon fotografierte. Der Fotograf hieß Lamar Newton und war ebenfalls ein Freund und Verbündeter, auf den Lena sich verlassen konnte.

Lena näherte sich und folgte der Richtung der Kameralinse, bis ein Müllcontainer ihr die Sicht versperrte. Sie ging schneller und warf dabei einen Blick zurück zu den beiden Mordermittlern aus Hollywood. Sweeney, eigentlich ein Bär von einem Mann und stets die Gelassenheit in Person, war kreidebleich im Gesicht und wirkte verstört. Terry Banks machte einen nicht minder beklommenen Eindruck. Seine ebenholzschwarze Haut und sein kahlrasierter Schädel waren trotz des kalten Windes schweißnass.

Sweeney winkte Lena heran. Als sie endlich um den Müllcontainer herumspähen konnte, war auf dem Boden allerdings keine Leiche zu sehen. Nur fünf grüne Müllsäcke, der vorderste davon aufgerissen.

»Tut mir leid, dass du den Fall hier abgekriegt hast, Lena. Du bist nicht zu beneiden.«

Sweeneys Stimme war leise und konnte den Lärm der Stadt und das rhythmische Geräusch des Kameramotors kaum übertönen.

Lena drehte sich zu dem Müllsack um. Es gehörte nicht viel dazu, um zu erraten, was er enthielt. Etwas Grausiges. Etwas, das so schrecklich war, dass man den Fall an das Dezernat für Raub und Tötungsdelikte weiterverwiesen hatte.

Sweeney versetzte ihr einen Rippenstoß und wies auf den schwarzweißen Streifenwagen, der direkt hinter ihnen stand. Auf dem Rücksitz saß ein Jugendlicher. Die Tür war offen, und der Junge trug Handschellen. Sein Haar war lang und braun, und Lena erkannte an seinen schmutzigen Kleidern und den löchrigen Schuhen, dass sie einen Obdachlosen vor sich hatte. Als er sie ansah, traf sie ein Blick aus stumpfen Augen, der ihr sagte, dass er entweder ein religiöser Fanatiker oder ein Drogensüchtiger war. Doch schon im nächsten Moment verrieten ihr seine bis zum Zahnfleisch heruntergefaulten Zähne, dass er Crack, nicht etwa Jesus Christus verehrte.

»Der Kleine hat den Tag auf dem Planeten X verbracht und dabei mächtig Hunger gekriegt«, erklärte Sweeney. »Wir konnten nur aus ihm herausholen, dass er vor etwa einer Stunde zu diesem Müllcontainer gegangen ist. Er hat die Tüten herausgefischt und gedacht, seine nächsten Mahlzeiten seien gesichert.«

»Fröhliche Weihnachten«, fügte Banks hinzu. »Genug Proviant für eine Woche.«

»Wie heißt er?«, fragte Lena.

Sweeney spähte in den Streifenwagen. »Danny Bartlett, sechzehn Jahre alt, aus Little Rock, Arkansas. Letzten August ist er von zu Hause ausgerissen und hier gelandet. Als er die erste Tüte aufgemacht hat, war er noch voll drauf. Nichts Essbares und auch kein Nirwana.«

»Nur seine eigenen Dämonen«, ergänzte Banks. »Der kleine Stinker ist ausgerastet.«

Sweeney nickte. »Der Typ, der drüben im Tiny’s die Küche betreibt, hat den Kurzen rumschreien gehört und die Polizei gerufen. Mehr wissen wir auch noch nicht.«

Lena wandte sich wieder zum Müllcontainer um. Während Sweeney eine Wasserflasche aus der Tasche nahm und mit zitternder Hand einen Schluck trank, erschien endlich Ed Gainer vom Büro des Leichenbeschauers. Lena holte ein frisches Paar Gummihandschuhe aus ihrem Aktenkoffer.

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte sie.

Alle traten gleichzeitig einen Schritt vor. Langsam, aber entschlossen. Als sie vor dem grünen Müllsack standen, zog Lena die Plastikfolie auseinander und versuchte, beim Anblick des langen blonden Haars nicht zusammenzuzucken.

Es dauerte einen Moment, bis ihr das Ausmaß des Grauens klar wurde. Und noch einen weiteren, bis sie wieder durchatmen konnte.

Es war ein Bild wie aus einem Alptraum. Die junge Frau war schätzungsweise Anfang zwanzig. Der Täter hatte ihre Leiche fein säuberlich zerstückelt. Obwohl auch ihr Gesicht nicht verschont geblieben war, standen ihre Augen weit offen. Sie waren goldbraun.

Sweeney und Banks wichen zurück. Lena hörte, wie ihr früherer Partner noch einen Schluck Mineralwasser hinunterstürzte, als wäre es starker Schnaps. Jemand zündete eine Zigarette an. Als Gainer ein Stoßgebet an seinen Schöpfer murmelte, drehte sich Lena wieder zu der Leiche um und ließ den Anblick auf sich wirken. Sie wusste, dass sie es wieder einmal mit einem Beweis dafür zu tun hatten, dass die Evolution auf dem Rückzug war. Von Menschlichkeit oder gar Zivilisation fehlte in diesem Fall jede Spur. Und noch dazu hatte sie keinen Partner. Sie war im Alleinflug unterwegs und ganz und gar auf sich allein gestellt.

Leichengift
titlepage.xhtml
Leichengift_split_000.html
Leichengift_split_001.html
Leichengift_split_002.html
Leichengift_split_003.html
Leichengift_split_004.html
Leichengift_split_005.html
Leichengift_split_006.html
Leichengift_split_007.html
Leichengift_split_008.html
Leichengift_split_009.html
Leichengift_split_010.html
Leichengift_split_011.html
Leichengift_split_012.html
Leichengift_split_013.html
Leichengift_split_014.html
Leichengift_split_015.html
Leichengift_split_016.html
Leichengift_split_017.html
Leichengift_split_018.html
Leichengift_split_019.html
Leichengift_split_020.html
Leichengift_split_021.html
Leichengift_split_022.html
Leichengift_split_023.html
Leichengift_split_024.html
Leichengift_split_025.html
Leichengift_split_026.html
Leichengift_split_027.html
Leichengift_split_028.html
Leichengift_split_029.html
Leichengift_split_030.html
Leichengift_split_031.html
Leichengift_split_032.html
Leichengift_split_033.html
Leichengift_split_034.html
Leichengift_split_035.html
Leichengift_split_036.html
Leichengift_split_037.html
Leichengift_split_038.html
Leichengift_split_039.html
Leichengift_split_040.html
Leichengift_split_041.html
Leichengift_split_042.html
Leichengift_split_043.html
Leichengift_split_044.html
Leichengift_split_045.html
Leichengift_split_046.html
Leichengift_split_047.html
Leichengift_split_048.html
Leichengift_split_049.html
Leichengift_split_050.html
Leichengift_split_051.html
Leichengift_split_052.html
Leichengift_split_053.html
Leichengift_split_054.html
Leichengift_split_055.html
Leichengift_split_056.html
Leichengift_split_057.html
Leichengift_split_058.html
Leichengift_split_059.html