5

Da Lena zu aufgeregt war, um auf den Aufzug zu warten, hastete sie die Treppe hinunter zum Büro des Leichenbeschauers. Unten angekommen, schlug ihr der Geruch nach Desinfektionsmittel und Verwesung entgegen. Mit angewiderter Miene eilte sie an den entlang der linken Wand aufgereihten Leichen vorbei, wobei sie es vermied, sie anzusehen.

In der letzten Nacht hatte sie kein Auge zugetan, sich immer wieder hin und her gewälzt und aus dem Fenster neben dem Bett geschaut. Wie sie wusste, rührte ihre Schlaflosigkeit daher, dass die Ermittlungen auf der Stelle traten. Hinzu kamen der Druck aus der Chefetage, die fehlenden Beweise, dass sie die Identität des Opfers nicht kannte und dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Es war ein allgemeines Gefühl der Ratlosigkeit, das sich einfach nicht abschütteln ließ.

Im Umkleideraum zog Lena einen OP-Overall über ihren Hosenanzug, griff nach einem Paar Überschuhe und setzte sich auf die Bank. Als die Tür aufschwang, hob sie den Kopf und sah Art Madina vor sich, der gerade die Schutzmaske abnahm.

»Wie war es in New Haven?«, fragte sie.

»Ein wenig beängstigend.«

»Viele Diavorführungen?«

»Der Kongress behandelte das Thema Nahrungsmittelversorgung. Die Bundesregierung hat wegen des Krieges die Anzahl der Kontrolleure halbiert. Niemand kümmert sich mehr um den Laden.«

»Was hat unsere Nahrungsmittelversorgung denn mit Pathologie zu tun?«

»In den letzten fünfundzwanzig Jahren haben wir uns hauptsächlich mit HIV beschäftigt, Lena. Inzwischen ist jedoch der Rinderwahn unser Problem. Durch Abkochen lässt sich der Erreger nicht abtöten, weil er genau genommen gar nicht lebt. Außerdem ist die Krankheit unheilbar. Es gibt kein Medikament, das den Patienten retten könnte.«

»Ist die Lage so ernst?«

»Wie ich schon sagte kümmert sich niemand um den Laden. Essen Sie viel Rindfleisch?«

Sie warf ihm einen Blick zu und bemerkte im nächsten Moment das Glas Vicks VapoRub auf dem Regal.

»Reichen Sie mir mal den Ketchup rüber«, meinte sie.

Lächelnd händigte Madina ihr eine Schutzbrille, eine OP-Maske und das Vicks VapoRub aus. Er war ein zierlicher Mann von Anfang vierzig, mit aufmerksam leuchtenden Augen und so kurz geschnittenem Haar, dass es fast militärisch wirkte. Inzwischen war Madina die erste Wahl des Staatsanwalts, wenn es darum ging, bei einem Prozess Beweise zu präsentieren. Lena bemerkte, dass er sich heute noch nicht rasiert hatte, und auch die dunklen Ringe unter seinen Augen, die sich bis auf die Wangen hinunterzogen. Obwohl er letzte Nacht vermutlich nicht viel Schlaf abbekommen hatte, war sie froh, dass er die Autopsie durchführte.

»Was hat der Chef gesagt?«, erkundigte sie sich.

Madina zuckte mit den Achseln. »Das Flugzeug ist erst um halb sieben gelandet, sodass ich mir die Mühe gespart habe, nach Hause zu fahren. Die Röntgenaufnahmen sind komplett. Die Leiche liegt auf dem Tisch, und alles ist bereit. Sie sind eine halbe Stunde zu früh dran.«

»Ja, ich weiß.«

Er schob die Türen auf. Im Raum fanden drei Autopsien gleichzeitig statt. Der Hausfotograf wanderte von einem Tisch zum nächsten. Lena hörte, dass ein Assistent die Schädelsäge anwarf. Die elektrischen Insektenfallen surrten und knackten, wenn eine Fliege, angezogen von der heißen Luft, darin verglühte. Lena atmete tief durch und konzentrierte sich auf das Gel, mit dem sie ihre Nasenlöcher bestrichen hatte. Heute wirkte der Mentholgeruch nicht, und sie fragte sich nach dem Grund. Ein Blick durch den Raum verriet ihr, dass die Leiche an der rückwärtigen Tür bereits stark vewest war.

Autopsien durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. So notwendig sie auch sein mochten.

Madina wies in eine Ecke. Lena schaute in die angegebene Richtung und dachte im ersten Moment an eine Verwechslung, denn die junge Frau auf dem stählerenen Autopsietisch schien intakt zu sein, während das Opfer in den Müllsäcken ganz offensichtlich zerstückelt gewesen war. Erst beim Näherkommen stellte Lena fest, dass Madina die Einzelteile wieder zusammengesetzt hatte. Dabei hatte er so gründliche Arbeit geleistet, dass Jane Doe wieder beinahe unversehrt wirkte – eine Frau von Anfang zwanzig mit einem kleinen eintätowierten Herz zwischen der rasierten Vagina und dem Ende der Bikinizone.

Lena zählte die Schnittstellen: drei an jedem Bein sowie Bruchstellen oberhalb der Handgelenke, Ellenbogen und Schultergelenke. Nachdem sie die durch die Enthauptung entstandene Wunde gemustert hatte, betrachtete sie das Gesicht des Opfers. Die Züge von Jane Doe Nr. 99 waren durch schwere Misshandlungen entstellt. Bis auf die sanften braunen Augen war nicht viel ausgespart worden. Einerseits fiel es Lena nicht leicht, sie anzusehen, andererseits machte sie einen so schutzlosen Eindruck, dass es schwer war, den Blick abzuwenden.

»Haben Sie sie schon vermessen?«

»Eins siebzig«, erwiderte Medina. »Sechzig Kilo. Sie hatte eine Brustvergrößerung, und ihr Nabel ist gepierct. Der Ring liegt da drüben auf dem Tisch. Ich vermute, dass sie eine Schönheit ist, wenn wir ihre Nase und ihre Wangenknochen erst rekonstruiert haben. Ein richtiges Klasseweib. Außerdem muss der Kerl, der ihr das angetan hat, ziemlich kräftig sein.«

Lena machte Platz, während Madina ein Skalpell auswählte und die Brust der Frau öffnete. Sie erinnerte sich an ihre erste Autopsie. Sie hatte auch in diesem Raum stattgefunden. Lena hatte kaum hinschauen können und den Großteil der Zeit die Fliesen an der Decke gezählt. Bevor man im vergangenen Jahr die Beleuchtung ausgewechselt hatte, waren es siebenhundertneunundzwanzig gewesen. Inzwischen war die Anzahl auf siebenhundertfünfzehn gesunken.

Madina warf Lena einen Blick zu und legte dann die Lunge des Opfers in einen extragroßen Plastikbehälter.

»Sie ist in der Stadt aufgewachsen«, stellte er fest. »Jane Doe ist kein Mädchen vom Lande.«

»Woran merken Sie das?«

»An den schwarzen Flecken auf ihrer Lunge. Betrachten Sie nur diese Kohleablagerungen. Das kommt nicht vom Rauchen, sondern von der Luftverschmutzung. Vor dreißig Jahren hätte nur die Lunge eines Bergarbeiters so ausgesehen.«

Lena untersuchte das Gewebe. Jane Does Lunge war mit dunkelgrauen Punkten übersät, die Holzkohlestückchen ähnelten.

»Sie ist doch noch so jung.«

Der Pathologe lachte auf. »Aber sie atmet seit zwanzig Jahren, Lena. Tag für Tag. Zwanzig Jahre ohne Pause. Warum, glauben Sie, leiden so viele Kinder an Asthma? Die Antwort ist nicht weiter schwer. Denken Sie nur an die Freeways.«

Medina wandte sich wieder der Leiche zu. Lena beobachtete, wie er die Operation beendete, und half ihm dann, Jane Does Hände mit Tinte zu bestreichen und Abdrücke von ihren Handflächen und Fingerspitzen zu nehmen. Seltsamerweise hatte Lena das Gefühl, dass der frische Duft des Parfüms der Frau kurz den Gestank im Raum überdeckte. Allerdings war der Eindruck schon im nächsten Moment wieder verschwunden. Als sie fertig waren und der Hausfotograf seine letzte Runde gemacht hatte, bildete der Körper keine Einheit mehr. Er war nicht mehr die Summe seiner Einzelteile, kein hübsches Mädchen, das noch das ganze Leben vor sich hatte. Lena musterte die Tote und dachte an den Mörder.

Er hatte sein Opfer auf die schlimmste Weise entwürdigt und keine Gnade gezeigt.

»Was ist mit dem Todeszeitpunkt?«, fragte sie.

Madina zuckte nur mit den Achseln und notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett. »Gestern«, antwortete er. »Im Moment kann ich ihn nicht näher bestimmen. Aber wir haben ein Problem, Lena.«

»So kann man es natürlich auch ausdrücken.«

»Nein, ich rede hier von einem wirklichen Problem. Es handelt sich nicht um ein Sexualverbrechen. Und der Täter ist eindeutig kein heruntergekommener Obdachloser.«

»Was soll das heißen?«

Anstelle einer Antwort begann Madina, den Körper wieder zusammenzusetzen, bis die Schnittstellen nahezu unsichtbar waren und Jane Doe nahezu unversehrt erschien.

»Lassen Sie uns mit der Todesursache anfangen«, meinte er. »Hier am Hals hat sie eine Schnittwunde. Sie wurde nicht zufällig gesetzt, sondern genau an der richtigen Stelle.«

Lena beugte sich vor. »An der richtigen Stelle wofür?«

»Er hat ihr nicht die Halsvene durchtrennt, sondern die Halsschlagader. Und er wusste genau, was er tat.«

»Was hat das zu bedeuten?«

»Das müssen Sie mir verraten.«

»Arterien leiten das Blut vom Herzen weg«, erwiderte sie. »Venen führen es zurück.«

»Genau. Der Mann, den Sie suchen, hat sich die Arteria carotis, die Halsschlagader ausgesucht, weil er dem Herzen das Blut entziehen wollte. Sein Plan war, sie auszubluten. Sehen Sie die Fesselungsmale an ihren Beinen und Knöcheln. Er hat sie kopfüber aufgehängt und sie am Leben erhalten, Lena, damit ihr Herz weiterschlug, bis sie verblutet war. Und deshalb finde ich, dass wir es mit einem wirklichen Problem zu tun haben.«

Lena wandte sich zum Autopsietisch um und betrachtete die in überdimensionierten Plastikbehältern verstauten Organe von Jane Doe. Bei allen anderen Autopsien, denen sie beigewohnt hatte, waren die inneren Organe kräftig gefärbt gewesen, während die von Jane Doe einen blassen Braunton aufwiesen. Nicht die Zeit hatte diese Farbveränderung hervorgerufen, sondern der Blutverlust.

»Fällt Ihnen etwas auf?«, meinte Madina in drängendem Tonfall. »Schauen Sie sich nur ihre Leber an. Eigentlich sollte sie dunkelviolett sein.«

Lena warf einen Blick auf den Behälter und drehte sich dann wieder zu der Leiche um. Der Mörder hatte die Frau bei lebendigem Leibe verbluten lassen. So sehr sie sich auch bemühte, sich den Moment nicht allzu deutlich auszumalen, wurde sie von Grauen ergriffen. Hier hatte sie es mit einer ganz eigenen Art von Wahnsinn zu tun. Einer neuen Form, wie sie ihr bis jetzt noch nicht begegnet war.

»Was können Sie mir über den Täter erzählen?«, fragte sie Madina.

»Eine ganze Menge. Eigentlich fast alles, was Sie über ihn wissen wollen, abgesehen von Namen und Adresse.«

Sie blickte ihn unverwandt an.

»Dann gehen Sie also eindeutig von einem männlichen Täter aus.«

»Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte er und wies auf die Fesselungsmale. »Außerdem muss er recht stark sein. Sonst hätte er sie nicht an den Knöcheln hochheben können.«

»Was sonst noch?«

Madina nahm die Gesichtsmaske ab. »Er ist Chirurg.«

Eine Weile herrschte bedrücktes und unheilschwangeres Schweigen. Als Medina wieder das Wort ergriff, schwangen Verbitterung, Grauen und Enttäuschung in seinem Tonfall mit. Der Mörder war einer seiner Kollegen. Jemand, der Medizin studiert und den hippokratischen Eid abgelegt hatte.

»Ein ausgebildeter Chirurg also«, wiederholte Madina.

Wortlos beobachtete Lena, wie der Pathologe Jane Does Leiche wieder auseinandernahm, als hätten sie kein Opfer, sondern eine Schaufensterpuppe vor sich.

»Es ist nicht einfach, eine Leiche zu zerstückeln, Lena. Es haben sich schon viele Leute daran versucht. Mehr, als Sie denken. Aber die meisten haben keine Ahnung und hinterlassen Beweise. Hackspuren. Sägespuren. Schartige Ränder von einem Messer. Risswunden, die man auf einen Kilometer Entfernung erkennt.«

Lena erinnerte sich an ihren ersten Eindruck von der Leiche beim Betreten des Autopsiesaals. Jane Does Arme und Beine hatten sich so nahtlos aneinandergefügt, dass sie schon geglaubt hatte, der Pathologe hätte die falsche Leiche erwischt.

Madina wies auf den Schnitt oberhalb des linken Handgelenks der Leiche und dann auf den Ellenbogen. »Dieser Schnitt stammt von einem Menschen, dem das Aussehen des fertigen Ergebnisses wichtig war. Lediglich ein Chirurg hätte Interesse daran, denn nur er hätte die möglichen Narben im Blick.«

»Doch er hat sie trotzdem in den Müll geworfen, damit niemand sie findet. In diesem Fall hätte sie kein Mensch zu Gesicht bekommen.«

»Das spielt für ihn offenbar keine Rolle. Jeder Schnitt wurde genau an der Stelle gesetzt, wo er am wenigsten Mühe erfordert. Der Mann ist ein Profi. Nichts weist darauf hin, dass er irgendwann gezögert hätte. Sehen Sie, wie gerade und sauber die Einschnitte sind? Es handelt sich um die Arbeit eines fähigen Chirurgen, Lena.«

»Also soll das heißen, dass der Fundort nicht von Bedeutung ist, weil er während des Zerstückeins der Leiche gar nicht daran gedacht hat?«

»Genau. Zwischen den beiden Aktionen besteht kein Zusammenhang. Als er ihre Hand vom Handgelenk getrennt hat, hat er sich nur für den Einschnitt und die mögliche Narbe interessiert. Alles sollte sauber und präzise sein. Das ist typisch für einen Chirurgen. Es liegt ihm im Blut und geschieht rein instinktiv. Anders könnte er gar nicht vorgehen.«

»Und zwar, weil er es in der Ausbildung so gelernt hat«, stellte Lena fest. »Es ist eine Frage der Berufserfahrung. Also hat er schon früher Amputationen durchgeführt.«

»So viele, dass er meiner Ansicht nach einige Zeit bei einem Auslandseinsatz verbracht haben muss. Irak oder Afghanistan. Um so gut zu werden, bedarf es einer Menge Übung. Und davon hatte dieser Kerl mehr als genug.«

Lena trat einen Schritt näher an das Opfer heran und betrachtete es. Die Beweislast war erdrückend. Jane Doe war ausgeblutet und zerstückelt worden, und zwar von jemandem, der sich in diesem Metier auskannte und so etwas, aus welchen Gründen auch immer, schon öfter getan hatte. Der bloße Gedanke jagte ihr einen Schauder den Rücken hinunter. Jane Does Mörder war ein Mensch, dem das Töten Spaß machte. Ein studierter Mediziner, dem die Qualität seiner Arbeit am Herzen lag …

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