37

Lena stoppte den Mietwagen vor der Garage und versuchte vergeblich, das entmutigende Gefühl des Grauens zu vertreiben. Als sie ausstieg und zu Blooms Pickup hinüberging, wurden ihr die Knie weich. Dabei zermarterte sie sich das Hirn, wie sie sich aus dieser Situation befreien sollte. Aber der Geistesblitz blieb aus. Mike Bloom und seine Glock ließen sich nicht ignorieren.

»Einsteigen«, befahl er. »Sie fahren.«

Sie gehorchte. Bloom nahm auf dem Beifahrersitz Platz, warf ihr den Schlüssel zu und wies auf die scheinbar endlose Wüste, die jenseits seiner Auffahrt begann.

»Hier entlang«, sagte er. »Los geht’s.«

Lena lenkte den Wagen vom Kies in den Sand und fixierte dabei so lange wie möglich Blooms Haus im Rückspiegel. Verstohlen behielt sie den Tacho im Auge, um mitzurechnen, wie viele Kilometer sie zurücklegen würden. Ihre Finger am Lenkrad zitterten. Als sie zum Sprechen ansetzte, wies er sie an, den Mund zu halten.

Während der Fahrt herrschte ein unheimliches Schweigen. Sie holperten über kleine Büsche, durchquerten ein ausgetrocknetes Bachbett und rumpelten über den unebenen Boden. Lena wusste, dass sie nur eine Uberlebenschance hatte, wenn Bloom sie als menschliches Wesen wahrnahm. Doch als sie ihn ansah, erkannte sie nur ein wahnsinniges Funkeln in seinen Augen und seine gnadenlos entschlossene Miene. Der Hoffnungsschimmer legte sich schlagartig. Nach etwa drei Kilometern umrundete der Pickup einen Hügel. Sie hatten eine Lichtung erreicht.

»Die Stelle gefällt mir«, verkündete Bloom. »Anhalten und aussteigen.«

Lena tat es und beobachtete, wie der Mann eine Schaufel von der Ladefläche nahm und ihr zuwarf.

»Graben«, sagte er.

Lena griff nach der Schaufel, musterte ihn und schätzte die Entfernung zwischen ihnen ab.

»Ich weiß schon, was Sie jetzt denken«, höhnte er. »Ihre Augen sind geweitet, und Ihr Atem geht schnell. Sie sind nervös, weil Ihnen klar ist, dass Sie jetzt sterben werden. Außerdem haben Sie nun eine Schaufel in der Hand. Sie glauben, das könnte Ihre Gelegenheit sein, mich auszuschalten. Vergessen Sie es, Schlampe. Ein Mensch braucht eins Komma fünf Sekunden, um sieben Meter zurückzulegen – etwa dieselbe Zeit, die ich benötigen würde, meine Waffe zu ziehen und abzudrücken. Das nennt man die Sieben-Meter-Regel. Hinzu kommt, dass der Abstand zwischen uns größer ist und dass ich die Waffe schon schussbereit auf Sie gerichtet habe. Also fangen Sie an zu graben.«

Lena rammte die Schaufel in den Sand, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Er ließ sich auf einem Felsen nieder, verzog das Gesicht, zündete sich noch eine Marlboro an und rieb sich das rechte Bein. Wenn er eine Schwachstelle hatte, musste es dieses Bein sein. Offenbar war etwas damit nicht in Ordnung. Eine Muskelzerrung im Unterschenkel? Oder vielleicht ein Bänderriss im Knie?

Lena warf eine weitere Schaufel voll Sand aus dem Loch. Sie spürte die Sonne auf dem Rücken. Beim Graben achtete sie ganz genau auf ihr Tempo, nicht zu langsam und nicht zu schnell, sondern ruhig und regelmäßig, um nicht aufzufallen und die Sache so lange wie möglich hinauszuzögern. Vielleicht konnte sie so ja genug Zeit schinden, bis ihr endlich der zündende Gedanke kam. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie niemandem gesagt hatte, wo sie war. Nur Ramira wusste, dass sie sich nicht in Los Angeles aufhielt.

»Sie haben die Vergangenheitsform benutzt«, meinte Bloom nach langem Schweigen.

Lena hörte auf zu graben und sah ihn an.

»Vorhin am Haus haben Sie die Vergangenheitsform benutzt«, wiederholte er. »Was ist mit ihr passiert?«

»Sie wurde ermordet. Mittwochnacht. Genau vor einer Woche.«

Sie beobachtete seine Reaktion und stellte fest, dass er den Blick senkte und den Kopf schüttelte. Offenbar war er wirklich tief getroffen. Und noch wichtiger war, dass sein Schmerz echt zu sein schien.

»Sie waren früher Polizist«, fuhr sie fort.

Bloom erwiderte ihren Blick, antwortete aber nicht.

»Ich habe Sie überprüft, nachdem ich Ihre Telefonnummer hatte«, fügte sie hinzu.

»Woher haben Sie die Nummer?«

Er zog wieder an seiner Zigarette. Obwohl er ihr eine Frage gestellt hatte, schien ihn nicht zu interessieren, ob sie etwas darauf erwiderte.

»Sie hat sie bei ihrer Ärztin hinterlassen.«

»Jetzt weiß ich, dass Sie Scheiße labern«, gab er zurück. »Jennifer würde so etwas nie tun.«

»Ich bin Detective bei der Mordkommission und versuche dahinterzukommen, wer sie war.«

Er zuckte mit den Achseln. »Und was glauben Sie?«

»Dass sie als Prostituierte in Venice Beach arbeitete und ihre wahre Identität verschleiern wollte, indem sie den Namen einer anderen Frau benutzte.«

»Soll das alles sein?«, meinte er.

»Mehr oder weniger.«

»Weitere Informationen brauchen Sie nicht. Also Maul halten und graben.«

Lena machte sich wieder an die Arbeit. Als sie nach einer Weile aufschaute, bemerkte sie, dass er etwas in sein Mobiltelefon flüsterte. Allerdings dauerte das Telefonat nicht lang und war nach drei oder vier Minuten beendet. Ihm war nicht entgangen, dass sie ihn musterte, und er drohte ihr mit der Pistole, sodass sie sich umdrehte. Dann zog Bloom sein Hosenbein bis über das Knie hoch. Lena fiel es wie Schuppen von den Augen. Nun war ihr klar, wie Bloom die letzten vier Jahre verbracht hatte.

Der Mann hatte rechts eine Beinprothese, die nicht richtig an seinem Oberschenkel saß und dringend angepasst werden musste. Wieder wechselten sie einen Blick.

»Bilden Sie sich bloß nichts ein«, drohte er. »Um eine blöde Schlampe wie Sie abzuknallen, brauche ich keine zwei Beine.«

Lena ging nicht darauf ein. »Sie waren im Irak. Deshalb sind Sie bei der Polizei ausgeschieden.«

Anstelle einer Antwort machte er sich an seiner Beinprothese zu schaffen.

»Haben Sie sich freiwillig gemeldet?«

Er lachte auf. »Ja, ich habe mich von den Lügen einwickeln und mich anwerben lassen. Und wenn ich könnte, würde ich wieder hingehen. Nicht für die Schwachköpfe von Politikern, die uns diesen Schlamassel erst eingebrockt und dann in aller Seelenruhe zugeschaut und Däumchen gedreht haben. Und auch nicht für diese miesen Feiglinge von Fernsehreportern, die seit dem 11. September jedem in den Arsch kriechen und sich einen Dreck um die Wahrheit scheren. Nein, nicht einmal für mein gottverdammtes Vaterland, weil ich inzwischen nicht mehr weiß, was dieses Wort bedeutet. Ich würde wegen der Jungs zurückkehren, die ich dort kennengelernt habe und die von Leuten wie Ihnen über den Tisch gezogen worden sind. Ich würde den Menschen helfen, die dort leben und die man verarscht hat. Und ich würde die Lügen ungeschehen machen und alles reparieren, was wir zerstört haben.«

Seine Stimme erstarb. Sein Zorn und seine Verbitterung schienen sich zu legen, und wieder herrschte Schweigen.

»Haben Sie Probleme mit Ihrer Prothese?«, erkundigte sich Lena.

»Mit dem Bein ist alles in Ordnung«, erwiderte er. »Es ist das Futter. Ich hätte es heute auswechseln sollen. Hab ich aber nicht.«

Bloom zog sein Hosenbein herunter und stand auf. Dann stützte er das rechte Bein in den Sand und drehte seinen Oberkörper. Die Bewegung schien zu nutzen, denn seine Züge entspannten sich. Er nahm wieder auf dem Felsen Platz und zündete sich eine Zigarette an.

»Sie müssen weitergraben«, meinte er. »Mir ist es egal, aber die Kojoten erschnuppern alles bis zu einer Tiefe von einem Meter. Wenn Sie nicht aufgefressen werden, sondern in Frieden ruhen wollen, graben Sie weiter.«

Lena schwieg. Sie rammte die Schaufel in den Sand und wuchtete noch eine Ladung aus dem Loch. Im nächsten Moment läutete sein Mobiltelefon. Sie sah, wie er es aus der Tasche zog. Er sagte nicht viel. Soweit Lena hörten konnte, beantwortete er Fragen, statt welche zu stellen. Nach dem Telefonat starrte er sie wieder an und zog an seiner Marlboro. Inzwischen wirkte er nervös und unruhig. Außerdem sprach er nicht mehr mit ihr, sondern saß nur da, beobachtete ihre Fortschritte beim Graben und rauchte.

Zehn Minuten und noch eine Zigarette später erhob er sich und kam auf sie zu.

»Das reicht«, stellte er fest. »Raus aus dem Loch.«

Lena begann zu zittern. Sie rang nach Atem. Während sie aus dem Loch kletterte, ließ sie ihn nicht aus den Augen. Er griff in die Tasche und vertauschte seine Pistole mit ihrer. Sie wusste nicht, ob sie die Augen schließen sollte, und dachte an ihren Bruder, der vor sechs Jahren ermordet worden war, an den Tod ihres Vaters und an ihre Mutter, die die Familie verlassen hatte. Eine ganze Menge von Dingen gingen ihr im Kopf herum, die in keinem Zusammenhang mit diesem Fall oder der Wüste standen, die ihr Grab werden sollte.

Bloom näherte sich, die Waffe in der Hand. Es war vorbei. Als er so dicht vor ihr angekommen war, dass er sie nicht mehr verfehlen konnte, blieb er stehen und warf die Zigarettenkippe in den Sand. In der Stille konnte Lena ihre Armbanduhr ticken hören. Die Zeit verfloss.

Dann reichte Bloom ihr ihre Pistole und holte ihren Dienstausweis aus der Tasche.

»Meine Schwester war keine Nutte«, sagte er. »Wir müssen zurück zum Haus.«

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