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Lena Gamble schenkte sich eine neue Tasse Kaffee ein, umrundete damit den Küchentresen und setzte sich an den Tisch im Wohnzimmer. Während sie den ersten Schluck aus der dampfenden Tasse nahm, betrachtete sie die Stadt jenseits der Fensterscheibe. Es war zwei Uhr nachmittags. Das kochend heiße Gebräu schmeckte kräftig und stark und weckte ihre Lebensgeister. Sie hatte den Tag freigenommen und nichts getan, außer die Zeitung zu lesen und Musik zu hören. Es war das erste Mal seit langem, dass sie ganz bewusst dem Müßiggang frönte, ein Gefühl, das sie sehr genoss.

Endlich waren die Reparaturen am Haus abgeschlossen, wirklich ein Grund zum Feiern. Das vor acht Monaten von den Santa-Ana-Winden abgedeckte Dach war erneuert worden, und zwar mit fünfzehn Jahren Garantie auf die Handwerksarbeiten. Das Unterholz rings um das Haus hatte man für den Fall eines erneuten Waldbrandes weitere zwanzig Meter zurückgestutzt. Und außerdem hatte Lena alle Möbel ihres Bruders – und die Beweismittel, die sie enthielten – entfernen und austauschen lassen. Gestern waren die Maler endlich fertig geworden und hatten nur den Geruch nach frischer Farbe und Silikonmasse zurückgelassen. Jetzt war alles still. Leer. Ein Zustand, der in ihr die Sehnsucht nach David wachrief. Sie wünschte, er wäre noch da, am Leben, und würde seine Musik spielen. Hier in diesem kleinen Haus auf dem Hügel oberhalb von Hollywood und Los Angeles, das sie früher miteinander geteilt hatten.

Lena drehte sich um und spähte ins Schlafzimmer. Durch das Fenster war die zweistöckige Garage auf der anderen Seite der Auffahrt zu erkennen. Kurz nach ihrem Einzug hatte ihr Bruder das Gebäude in ein hochmodernes Tonstudio verwandelt und den Erfolg der dritten CD seiner Band auf die verbesserte Akustik zurückgeführt. Doch das alles war nun vorbei. Das Studio wurde seit knapp sechs Jahren nicht mehr benutzt. Als Lena sich abwandte, fragte sie sich, was der Ausdruck »einen Schlussstrich ziehen« wohl bedeuten mochte. Wer hatte ihn erfunden und warum? Für sie war er nur eine abgedroschene Phrase, die keinen Sinn ergab.

Wie ihr klar war, grübelte sie vermutlich deshalb darüber nach, weil sie die letzte Nacht zum ersten Mal seit dem Abschluss des Falls Romeo und der Aufklärung des Mordes an ihrem Bruder nicht oben im Gästezimmer verbracht hatte. Eine ganze Flasche Wein war nötig gewesen, um die Erinnerungen zu vertreiben und Lena außer Gefecht zu setzen. Allerdings hatte sie in ihrem neuen Bett die ganze Nacht durchgeschlafen, und zwar ohne Träume, Alpträume oder eines der anderen quälenden Phänomene, die mit dem Ziehen eines Schlussstriches einherzugehen schienen.

Sie hatte schlechte Karten gehabt. So viel stand fest. Der Mord an ihrem Bruder war sinnlos gewesen. Etwas, das sie für den Rest ihrer Tage mit sich würde herumschleppen müssen. Doch nun war es Zeit, die Karten neu zu mischen. Zeit, für eine neue Runde und ein neues Spiel. Zeit, dem Drang zu widerstehen, zu passen und die Schulden zu bezahlen.

Lena legte die Zeitung weg, öffnete die Schiebetür und trat auf die Terrasse hinaus. Der Wind hatte aufgefrischt und trocknete die Stadt, nachdem es zehn Tage pausenlos wie aus Kannen geregnet hatte. Obwohl im ganzen Tal, von der Innenstadt bis zum Meer, hell die Sonne schien, würden die Temperaturen vermutlich nicht die zehn Grad übersteigen. Dennoch war die Aussicht vom Gipfel des Hügels an diesem Nachmittag atemberaubend. Die ganze Stadt wirkte blitzblank und schimmerte im dunstigen Licht. Lena hatte den Pool zwar nicht geheizt, doch Dampf stieg aus dem Wasser auf und trieb wie ein farbiger Nebel der Sonne entgegen. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden. Der Friede. Die trügerische Ruhe in einer Stadt, die so viele Menschen ihr Zuhause nennen wollten.

Sie fragte sich, wie lange diese Illusion sich wohl halten würde. Allein in diesem Jahr waren in Los Angeles vierhundertachtundsiebzig Morde verübt worden. Da es bis Silvester nur noch achtzehn Tage waren, stand zu befürchten, dass sie die Fünfhunderterhürde noch reißen würden. Lena hielt das zumindest für wahrscheinlich. Innerhalb der letzten elf Monate war die Anzahl der Gefängnisinsassen auf einhundertdreiundsiebzigtausend gestiegen, was in etwa der Bevölkerungszahl der amerikanischen Stadt entsprach, die im Hinblick auf ihre Größe an vierundzwanzigster Stelle im Land stand. Die Strafanstalten, obwohl eine Stadt ohne Namen, eigene Footballmannschaft oder Festtagsparade, bildeten eine Gemeinde, in der mehr Menschen lebten als in Pasadena.

Ob diese trügerische Ruhe wohl irgendwann Wirklichkeit werden würde?

Die Heizung sprang an, und der Wind, der von draußen hereinwehte, pustete die Zeitung vom Tisch. Lena kehrte ins Haus zurück und schloss die Schiebetür. Beim Aufheben der Zeitung bemerkte sie auf Seite drei des Kalifornienteils ein Foto, das ihr zuvor nicht aufgefallen war. Eine Villa in Beverly Hills war unter einem halben Meter Schnee begraben. Da sie sich an die Wetterkapriolen der letzten Woche in Malibu erinnerte, las sie den Artikel weiter, bis ihr klarwurde, dass der Schnee nicht Ergebnis eines Unwetters, sondern von einer Firma für Spezialeffekte in Burbank künstlich hergestellt worden war. Wieder eines der vielen Trugbilder dieser Stadt, eigens produziert und über Haus und Garten verteilt, weil irgendein reicher Mann seinen Kindern weiße Weihnachten spendieren wollte. Anstatt die Ferien in den Bergen zu verbringen, plante er, sein Haus jeden Tag für zehntausend Dollar pro Lieferung einschneien zu lassen. Lena rechnete nach. Weiße Weihnachten in Beverly Hills waren offenbar für kümmerliche einhundertzwanzigtausend Dollar zu haben. L.A. war als gewaltige Täuschungsmaschinerie bekannt, gegen den hier vorherrschenden Wahnsinn war anscheinend kein Kraut gewachsen.

Das Telefon läutete in seiner Ladestation auf dem Küchentresen. Lena blätterte die Zeitung um, stand auf und warf einen Blick auf die Anzeige, bevor sie das Gespräch annahm. Es war ihr Vorgesetzter Lieutenant Frank Barrera vom Dezernat für Raub und Tötungsdelikte, der sie an ihrem freien Tag anrief.

»Gute und schlechte Nachrichten«, begann er. »Bei Ihnen alles in Ordnung, Lena?«

»Bestens. Was gibt es denn? Ich kann Sie kaum verstehen.«

»Moment. Ich mache rasch die Tür zu.«

Barrera flüsterte. Lenas Blick fiel auf die Kaffeetasse auf ihrem Tisch. Nachdenklich nahm sie noch einen Schluck. Der Schreibtisch ihres Vorgesetzten stand ganz vorne im Großraumbüro. Wenn er also eine Tür schließen wollte, bedeutete das, dass er sich im Büro des Captains befand und nicht belauscht werden wollte.

In den letzten Monaten war Lena mit Fällen von Schusswechseln unter Beteiligung eines Polizeibeamten förmlich zugeschüttet worden. Derartige Ermittlungen verschlangen viel Zeit, verursachten jede Menge Verwaltungsarbeit und waren deshalb das genau Gegenteil dessen, was sie an ihrem Beruf liebte. Noch schlimmer war, dass der Befehl, sie aus der gewöhnlichen Ermittlungstätigkeit herauszunehmen, direkt aus dem Büro des Polizeipräsidenten im fünften Stock kam. Lena sah das als klares Zeichen dafür, dass man in der Chefetage einen Sündenbock brauchte und sie ausgesucht hatte, um für die Ergebnisse im Fall Romeo zu büßen. Immerhin hatte der letzte gefallene Dominostein eine Dienstmarke getragen, wieder ein Schlag ins Kontor der Polizei. Doch allmählich machte es ihr zu schaffen, dass kein Ende der Strafarbeit abzusehen war. Der neue Polizeichef Richard S. Logan, sein Kofferträger Lieutenant Ken Klinger und die Bürokraten im fünften Stock waren offenbar recht nachtragend. Noch immer hatte Lena keinen neuen Partner, und sie machte sich langsam Sorgen, dass an den Gerüchten, die in der Abteilung kursierten, etwas Wahres sein könnte: Die Lawine der Fälle von Schusswechseln unter Beteiligung eines Polizeibeamten würden nie enden, weil man versuchen wollte, sie auszuhungern und ihr das Leben so lange zur Hölle zu machen, bis sie freiwillig um eine Versetzung ersuchte oder, noch besser, ihren Hut nahm.

Als Barrera sich wieder meldete, klang seine Stimme klarer, allerdings noch immer besorgt.

»Es ist etwas passiert«, sagte er. »Eine Leiche in Hollywood.«

»Warum ausgerechnet ich?«

»Weil Sie in der Nähe sind. Die Tote wurde einen halben Häuserblock nördlich des Hollywood Boulevard gefunden. Das ist eine Seitengasse zwischen der Ivar Avenue und der Cahuenga Avenue.«

»Also hinter dem Tiny’s.«

»Genau. In der Gasse hinter der Kaschemme.«

Lena wollte schon nach einem Stift greifen, hielt aber inne. Es war unnötig, dass sie sich die Adresse notierte. Vor ihrer Beförderung in die Eliteabteilung Raub und Tötungsdelikte im letzten Februar hatte sie, erst als Streifenpolizistin, dann als Detective, in Hollywood gearbeitet und kannte das Viertel, ja, sogar die besagte Kneipe und die Seitengasse hinter der Ivar Avenue. Der Tatort befand sich mitten im Stadtzentrum, nur einen Häuserblock westlich der Vine Avenue.

»Kennen wir den Namen des Opfers?«, fragte sie.

»Wir haben überhaupt nichts in der Hand. Ich weiß nur, dass die Kollegen aus Hollywood bereits dort sind und uns den Fall übergeben werden.«

Barrera war ihr Verbündeter. Als sie hörte, wie seine sonst so feste Stimme zitterte, setzte sie sich auf einen Hocker an den Küchentresen. Für gewöhnlich wurden Tötungsdelikte von den Detectives vor Ort bearbeitet. Dass man den Fall an höhere Ebene weiterleitete, konnte nur eines von zwei Dingen bedeuten: Er war entweder medienwirksam oder ganz besonders grausig.

»Warum wir, Frank?«

»Eine schlimme Sache, Lena, wirklich schlimm. Das Mädchen wurde total zerstückelt.«

»Also kriege ich nach acht Monaten wieder einen Fall, nur weil ich in der Nähe wohne?«

Barrera räusperte sich. »Jetzt kommt die schlechte Nachricht, der eigentliche Grund meines Anrufs, Lena. Der Befehl stammt vom Polizeichef persönlich. Erst dachte ich, es wäre wieder einer dieser Fälle von Schusswaffengebrauch unter Beteiligung eines Polizeibeamten, aber Fehlanzeige.«

»Was mag dahinterstecken?«

»Irgendwie macht mich die Sache stutzig. Entweder hat er Druck von außen gekriegt, Sie einzusetzen, oder es ist eine Art …«

Falle, dachte Lena. Der Lieutenant brauchte den Satz gar nicht zu beenden. Sie hatte schon verstanden. Der Polizeichef wollte sie loswerden und hoffte, ihr etwas unterschieben zu können, um ihren Abschied zu beschleunigen. Vielleicht würde dieser Fall ja ihr letzter sein.

»Was ist mit einem Partner?«, erkundigte sie sich.

»Sie sind auf sich allein gestellt. Ich werde dafür sorgen, dass Sanchez und Rhodes Sie wenn nötig unterstützen, aber ansonsten fliegen Sie solo. Meldung erstatten Sie direkt beim Polizeichef oder seinem Assistenten.«

»Klinger?«

»Ja, Klinger. Ich habe Ihnen gerade den heutigen Terminplan des Polizeichefs gemailt. Er möchte informiert werden, nachdem Sie den Tatort besichtigt haben. Selbst wenn Sie ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen müssen, will er Sie unbedingt sehen. Also seien Sie da.«

»Kein Problem.«

»Lena.«

»Ja?«

»Ich habe mit Rhodes geredet und ihn gebeten, Sie nicht damit zu belasten. Doch er denkt das Gleiche wie ich.«

»Und das wäre?«

»Dass an der Sache etwas faul ist.«

Lena wandte sich zum Fenster um und stellte fest, dass ihre Finger leicht zitterten.

»Als ich ans Telefon gegangen bin, haben Sie von guten und von schlechten Nachrichten gesprochen, Frank. Wo bleiben denn die guten?«

Er lachte auf, um sie aufzumuntern. »Der Tatort ist in Hollywood. Sie haben doch früher mit Pete Sweeney zusammengearbeitet? Er war Ihr Partner, richtig?«

»Ja.«

»Nun, Sweeney und Banks haben den Notruf entgegengenommen. Sie wissen, dass es Ihr Fall ist, und werden Ihnen den restlichen Tag unter die Arme greifen. Danach lassen sie Sie in Ruhe. Einverstanden?«

Sie nickte, bevor ihr einfiel, dass sie ja am Telefon war. Dabei dachte sie an die fünfte Etage des Parker Center und betrachtete durch den Türspalt ihre Pistole auf dem Nachttisch. Eine Smith & Wesson, Kaliber .45 Halbautomatik. Die Sonne hing tief am Dezemberhimmel und war zur anderen Seite des Hauses gewandert. Die durch das Fenster hereinströmenden Strahlen tauchten die Waffe in einen rotgoldenen Schein. In diesem Jahr hatte sie im Dienst einen Mann getötet, ein Schuss, abgefeuert, als es keinen anderen Ausweg mehr gab. Jeden Tag musste sie an diesen Blick in den Abgrund denken.

»Ich schaffe das«, sagte sie.

Barrera senkte die Stimme. »Gut«, erwiderte er. »Aber nichts überstürzen. Immer auf Nummer sicher gehen. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«

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