49
Sie fuhren auf dem Westchester Parkway nach Osten. Wegen des Nebels betrug die Sichtweite nur zwei Wagenlängen, und die Scheibenwischer des Crown Vic waren mit der eiskalten Dampfschicht auf dem Glas überfordert. Lena konnte mit Mühe die Heckleuchten des Autos ausmachen, die gelegentlich den Nebel durchdrangen und dann wieder verschwanden. Rhodes beschleunigte und konzentrierte sich, beide Hände am Lenkrad, auf die Straße. Ab und zu warf er einen Blick in den Rückspiegel und starrte dann erneut geradeaus.
»Wer saß in dem Lincoln?«, fragte er schließlich.
Lena wandte sich zu ihm um und stellte fest, dass er schon wieder in den Rückspiegel schaute. Der Lincoln befand sich dicht hinter ihnen und rollte wie ein Geisterauto mit abgeschalteten Scheinwerfern durch die Nacht.
»Wie lange verfolgen die uns schon?«, erkundigte sie sich.
»Seit der Navy Street. Wer ist in diesem Auto?«
»Polizeichef Logan«, antwortete sie.
Rhodes öffnete das Handschuhfach und griff nach seinem Notfallpäckchen Zigaretten. Als er ihr eine anbot, schüttelte sie den Kopf und sah zu, wie er seine anzündete.
»Wer sonst noch?«, hakte er nach.
»Ein Typ, den ich nicht kenne. Vermutlich irgend so ein aufgeblasener Anzugträger aus der internen Abteilung.«
»Und weiter?«
»Also gut«, seufzte sie. »Barrera. Er fährt.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Laut ausgesprochen waren die Worte so schonungslos scharfkantig gewesen wie Glasscherben. Rhodes öffnete das Fenster einen Spalt weit, rauchte und dachte nach.
»Und wie war dein Eindruck?«, fragte er schließlich.
»Dass wir hier einen Guerillakrieg führen, in dem ich nicht mehr weiß, wer Freund und wer Feind ist.«
»Heutzutage nennt man diese Leute nicht mehr Guerillas, Lena, sondern Aufständische.«
»Meinetwegen. Dann haben wir also zwei Verräter mit einer Geisel vor uns und werden von drei Aufständischen verfolgt. Wenn wir versuchen, die Aufständischen abzuhängen, verlieren wir die Verräter mit ihrer Geisel aus den Augen. Tolle Aussichten, oder?«
Rhodes grinste sie an. »Vielleicht sollten wir nachher einen trinken gehen, um ein bisschen auszuspannen. Ich kenne in diesem Viertel eine gute Kneipe.«
Plötzlich durchdrangen die Heckscheinwerfer vor ihnen wieder die Nebelbank. Sie waren zu hell und viel zu nah. Rhodes ging vom Gas und warf die Zigarette weg. Sie passierten die Wegweiser zum Hollywood Park Casino und zur Rennbahn. Ein Stück voraus versank die Avenue of Champions im Dunst. Im nächsten Moment wurde Lena klar, wohin Dobbs und Ragetti Jennifer Bloom brachten. Und als sie in südlicher Richtung rechts abbogen, bestätigte sich ihre Vermutung.
Das Cock-a-doodle-do stand drei Kilometer weiter am Ende dieser Straße.
»Weißt du, wohin sie wollen?«, meinte sie.
Rhodes nickte. »Der Parkplatz liegt tiefer als das Gebäude und grenzt an den Freeway Nr. 105 an. Die Prairie Avenue führt über beides hinweg. Ich glaube, ich habe auf der anderen Straßenseite ein Stück Brachland gesehen. Wir sollten dort parken und uns zur Rückseite des Lokals schleichen.«
Lena stimmte zu. Gerade hatten sie die Überführung erreicht, und sie konnte den leuchtenden Neonhahn durch den Nebel erkennen. Als das Gebäude aus dem Dunst hervortrat, stellte sie fest, dass die Fenster dunkel waren. Kein einziges Auto stand auf dem Parkplatz. Es war Donnerstagnacht. Offenbar war das Restaurant schon geschlossen. Erneut warf Rhodes einen Blick in den Rückspiegel. Beim Umdrehen bemerkte Lena, dass der Lincoln langsamer wurde, immer weiter zurückblieb und schließlich verschwand.
Rhodes schwieg zwar, wirkte aber erschrocken. Er wechselte auf die rechte Fahrspur und wartete ab, bis der Audi das Ende des Mittelstreifens erreicht hatte und abgebogen war. Die Brachfläche befand sich neben dem Gebäude an der Straßenecke. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern verharrte Rhodes am Straßenrand, während der Audi wendete und umkehrte. Sobald der Wagen auf den Parkplatz des Cock-a-doodle-do rollte, trat er aufs Gas und parkte hinter dem Gebäude.
Lena stieg aus und zückte ihre Pistole. Nachdem Rhodes ihrem Beispiel gefolgt war, eilten sie auf Zehenspitzen über die Brachfläche. Auf dem Freeway herrschte so wenig Verkehr, dass Lena sich schon fragte, ob er womöglich gesperrt war. Sie sah, wie sich am hinteren Teil des Parkplatzes die Pfeiler der Autobahnbrücke aus dem Nebel erhoben. Die Überführung der Prairie Avenue schien sich an die Wolken zu klammern und sie zu Boden zu ziehen. Als sie näher kamen, wurde es trotz des Nebels plötzlich hell, und sie bemerkten, dass der Audi den Parkplatz des Cock-a-doodle-do wieder verließ und direkt auf sie zukam. Zu ihrem Entsetzen konnte Lena unter der Autobahnbrücke einen großen Schatten ausmachen. Der Gegenstand war lang gestreckt und dunkel und als ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, nahm sie den Schatten deutlicher wahr.
Es war Dean Tremells Limousine, die da unter der Überführung im Gras stand.
Lena packte Rhodes an der Hand und zog ihn hinter den ersten Pfeiler. Tremell befand sich in Begleitung seines Fahrers, und Lena stellte fest, dass sein Sohn und Klinger an der Motorhaube lehnten. Die ganze Szene wirkte wie eine Drogenübergabe und schien dem Vorstandsvorsitzenden eines Pharmaunternehmens auf den Leib geschrieben. Allerdings wusste Lena genau, was hier gespielt wurde. Tremell wollte Jennifer Bloom kaufen, und Dobbs und Ragetti hatten ihm die Ware gerade geliefert. Der alte Mann musste von Bloom erfahren, mit wem sie gesprochen hatte. Und er hatte diesen Ort für die Unterredung gewählt, weil ihre Leiche hier gefunden werden sollte, wenn er mit ihr fertig war.
Lena wurde von Aufregung ergriffen. Sie beobachtete, wie Klinger den Audi mit Handzeichen den Hügel hinunter dirigierte und anschließend zum Parkplatz des Cock-a-doodle-do zurückkehrte. Die herannahenden Scheinwerfer ließen den Nebel aufleuchten. Hinter den Pfeiler geduckt, stellte Lena fest, dass Dobbs Bloom aus dem Auto zerrte und sie zu Boden stieß. Bloom fing zu schreien an, begriff jedoch nach einer Weile offenbar, wie zwecklos es war, und verstummte.
Als Ragetti die Scheinwerfer abschaltete, wurde es wieder dunkel. Dann ging er zu Dean Tremell hinüber und schüttelte ihm die Hand.
»Kannst du verstehen, was sie sagen?«, raunte Rhodes.
»Nein.«
»Ich sehe Cava nirgendwo. Wo mag er stecken?«
»Im Paradies«, erwiderte Lena.
Die beiden Männer umrundeten die Limousine. Der Kofferraum öffnete sich, und Lena erkannte eine Reisetasche. Nachdem Tremell den Reißverschluss aufgezogen hatte, nahm Ragetti den Inhalt in Augenschein. Trotz der Entfernung und des Nebels war Lena klar, dass er Geld zählte. Und nach der Größe der Reisetasche zu urteilen, musste es sich um eine beträchtliche Summe handeln. Doch letztlich spielte es keine Rolle. Alles wurde gleichgültig, denn im nächsten Moment spürte Lena, wie ihr jemand eine Pistole an den Hinterkopf hielt. Die Welt blieb stehen.
»Kein Mucks, sonst sind Sie beide tot.«
Es war Klingers Stimme, die sanft und leise hinter ihnen aus der Dunkelheit drang. Anscheinend hatte er sie schon vor einer Weile bemerkt und war um das Cock-a-doodle-do herumgegangen und ihnen unter der Prairie Avenue hindurch zu dem Stück Brachland gefolgt.
»Waffen fallenlassen«, befahl er. »Aber ganz langsam.«
Klinger stieß Lenas Kopf gegen den Betonpfeiler. Sie blickte Rhodes an. Als sie hörte, wie seine Glock auf dem Boden aufkam, ließ auch sie ihre .45er fallen. Klinger hob die Pistolen auf und steckte sie in seinen Gürtel. Dann zielte er mit seiner Waffe auf sie und trat einen Schritt zurück.
»Umdrehen«, wies er sie an.
Lena musterte ihn zornig. Seine Wange zeigte noch immer die Spuren der Abreibung, die Rhodes ihm vergangene Nacht verpasst hatte. Außerdem malte sich ein wahnwitziges Funkeln in seinen Augen, und sein Gesicht hatte einen tückischen Ausdruck, den sie noch nie zuvor bei ihm erlebt hatte. Lena wurde klar, dass die Maske endlich gefallen war. Nun zeigte der Mann sein wahres Ich, und mit dem war nicht zu spaßen.
»Los, Beeilung«, sagte er. »Den Hügel runter. Und immer hübsch artig sein.«
Er zeigte mit der Pistole nach links, biss die Zähne zusammen und winkte sie zur Limousine. Ragetti hielt im Geldzählen inne. Dobbs versetzte Bloom einen Stoß, knipste seine Taschenlampe an und zog die Pistole. Währenddessen war Justin Tremells Blick auf seinen Vater gerichtet. Der alte Mann stand, reglos und die Hände in den Taschen, im Nebel.
Lena ließ die Szene auf sich wirken. Dann drehte sie sich zu Tremell um und versuchte, seine momentane Stimmung einzuschätzen. Inzwischen war es zu spät, um herumzutaktieren.
»Machen Sie Einkäufe?«, fragte sie.
»So könnte man es ausdrücken.«
»Und ist die Ware den Preis wert?«
»Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, Detective, würde ich es sogar als Schnäppchen bezeichnen.«
Lena betrachtete erst Dobbs und das Mädchen und danach Ragetti mit seiner Geldtasche. Zwei Gorillas, die das Klassenziel nicht erreicht hatten.
»Die beiden Typen sind Abschaum«, meinte sie zu Tremell. »Wie viel zahlen Sie ihnen denn?«
Dobbs lachte auf. »Die Fotze hat ein ganz schön freches Mundwerk.«
»Maul halten«, zischte Rhodes.
Tremell unterbrach die beiden mit einer Handbewegung. Die Situation schien ihn zu amüsieren. »Eine Million Dollar.«
»Steuerfrei?«, erkundigte sich Lena.
Tremell überlegte grinsend. »Das liegt ganz bei den beiden Herren. Schließlich sind sie Freiberufler.«
Lena warf Jennifer Bloom einen raschen Blick zu und drehte sich dann wieder um. »Seit wann wissen Sie es?«
»Seit wann soll ich was wissen?«, gab Tremell zurück.
»Dass Sie die falsche Frau haben umlegen lassen. Dass es ihre Freundin war, die ermordet wurde.«
»Aber, Detective, ich bin Geschäftsmann. Ich lasse keine Leute umlegen.«
Lena schaute zu Justin Tremell hinüber, der reglos in der Dunkelheit verharrte. Er starrte immer noch seinen Vater an. Nach seinem verzweifelten Gesichtsausdruck zu urteilen, wäre er vermutlich am liebsten im Erdboden versunken. Lena erinnerte sich an Cavas Worte am Telefon, der Junge sei als Lockvogel missbraucht worden und habe nichts von dem Mord geahnt. Allerdings war seitdem eine Woche vergangen, sodass er jetzt sicher wusste, woher der Wind wehte. Sie hatte ganz den Eindruck, dass sein Vater ihn anwiderte und dass er mit der Sache nichts mehr zu tun haben wollte.
Also wandte Lena sich noch einmal an den alten Mann und formulierte ihre Frage anders.
»Wann haben Sie erfahren, wer sie war?«
»Schon ziemlich früh«, entgegnete Tremell.
»Wie früh?«
»An dem Abend, als Sie sich mit diesem Reporter im Café getroffen haben. Das war am Sonntag, richtig? Ramira hatte den ganzen Nachmittag am Telefon verbracht. Er war dahintergekommen. Meine Freunde haben alles mitgehört. Mich wundert, dass er Ihnen gegenüber nichts davon erwähnt hat.«
Lena überlegte. Sie dachte an Denny Ramira, an die Informationen, die er besessen hatte, und an seine Beweggründe, sie ihr zu verschweigen. Endlich verstand sie, warum diese Leute ihr Haus verwanzt hatten, obwohl sie sich so selten dort aufhielt. Es ging nur darum herauszufinden, wer mit wem Kontakt hielt, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. Die Häuser aller Beteiligten waren verkabelt worden.
Tremell räusperte sich. »Ich habe das Mittagessen mit Ihnen genossen, Detective. Sie sind eine attraktive Frau. Ich wünschte nur, Sie wären auch so klug wie schön. Eine richtige Traumfrau eben. Schade, dass Sie die Situation nicht so sehen können, wie sie wirklich ist, und nicht bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten. Ich versichere Ihnen, dass mir das, was jetzt kommt, keine besondere Freude bereitet.«
»Sie irren sich, Tremell. Ich sehe die Dinge genau, wie sie sind, nämlich, dass Sie Morde in Auftrag geben und nur aus Geldgier handeln. Wer sich Ihnen in den Weg stellt, wird beseitigt. Nicht einmal mit kleinen Kindern haben Sie Mitleid. Sie sind nicht besser als ein gewöhnlicher Drogendealer.«
Tremells Lächeln verwandelte sich in eine Fratze. Als er an ihr vorbei zu Klinger hinüberblickte, zitterte seine Stimme.
»Es wird spät«, sagte er. »Wir müssen hier fertig werden, Ken. Also bringen Sie sie rauf auf den Hügel und verdienen Sie sich Ihren Bonus.« Dann wandte er sich an Bloom. »Sie steigen in die Limousine, Jennifer. Ich würde gern ein paar Worte mit Ihnen sprechen.«
Lena spürte, wie Klinger ihr die Pistole in die Seite stieß. Sie setzten sich in Bewegung, und zwar nicht in Richtung Brachfläche, sondern unter der Überführung hindurch zum Cock-a-doodle-do. Sie konnte den Caprice oben auf dem Hügel erkennen. Anscheinend wollte Klinger seine Überstunden auf dem Parkplatz ableisten. Also würde der dämliche durch den Nebel leuchtende Neonhahn das Letzte sein, was sie sah, bevor sie in das große schwarze Loch fiel.
Sie schaute zu Rhodes hinüber. Klinger war so klug, sie auf Abstand zu halten. Sie hatten keine Chance. Rhodes zuckte mit den Achseln und starrte Klinger finster an.
»Dafür kriegen Sie bestimmt einen Orden«, höhnte er.
»Maul halten und weitergehen, Rhodes.«
»Man wird Sie auszeichnen, Klinger. Und Ihr Foto in die Zeitung setzen. Und wissen Sie, wie die Bildunterschrift lauten wird? Ken klinger, der blödeste wichser, den es je GAB.«
»Sie erleichtern mir die Sache, Rhodes. Jetzt macht es erst so richtig Spaß. Bewegen Sie Ihren Hintern.«
Lena glaubte nicht, dass es hilfreich war, Klinger zu provozieren. Er blieb weiter auf Distanz und war offenbar so scharf darauf, sie beide abzuknallen, dass er sich keinen Fehler erlauben würde.
»Eines kapiere ich nicht«, meinte sie zu ihm. »Als Dobbs und Ragetti gefeuert wurden, waren Sie doch noch in der internen Abteilung. Sie selbst haben die beiden drangekriegt, Klinger.«
»Na und?«
»Ihnen haben sie das Ende ihrer Karriere zu verdanken. Befürchten Sie nicht, dass sie sich an Ihnen rächen könnten?«
Er zögerte, allerdings nur kurz. »Geld verändert so manches«, entgegnete er. »Das ist ein uraltes Gesetz.«
»Aber wer wird als Sündenbock herhalten müssen? Irgendeinen Schuldigen werden die wohl brauchen. Und da Cava verschwunden ist, sind Sie jetzt das schwächste Glied in der Kette, Klinger. Außer Ihnen ist niemand mehr übrig.«
»Maul halten. Alle beide.«
Inzwischen hatten sie den Gipfel des Hügels erreicht. Lena ahnte, dass die Zeit knapp wurde. Das dunkle Gebäude auf der anderen Seite des Parkplatzes ragte aus dem dichten Nebel. Der Neonhahn auf dem Dach zwinkerte ihr wie zum Abschied zu.
»Hier wären wir«, verkündete Klinger. »Und jetzt runter auf die Knie.«
»Sind Sie auch sicher, dass wir mit dem Gesicht nach Mekka zeigen?«, spöttelte Rhodes.
»Ich glaube, aus der Pilgerfahrt wird nichts mehr, du Scheißer. Runter auf die Knie, verdammt. Und brav das dämliche Huhn da drüben angrinsen.«
Lena holte tief Luft und ließ sich zu Boden sinken. Sie fühlte sich, als sacke ihr sämtliches Blut aus dem Gehirn. Alles um sie herum drehte sich, verschwamm und bewegte sich wie in Zeitlupe. Sie warf einen Blick auf Rhodes und versuchte, sich auf sein Gesicht zu konzentrieren. Er sah sie ebenfalls an. Sie erkannte Schweißperlen auf seiner Stirn. Seine Nasenlöcher waren gebläht, seine Augen weit aufgerissen, glänzend und voller Leben. Lena erinnerte sich an seine Worte im Auto, mit denen er versucht hatte, sie aufzuheitern. Dass sie vielleicht später einen trinken gehen würden. Nur, um mal richtig auszuspannen. Er kenne eine gute Kneipe in diesem Viertel.
Dann hörte sie das Geräusch. Den lauten, hohlen Knall.