7
Als Lena die Vorhalle des Parker Center betrat und die Sicherheitsabsperrung umrundete, rief einer der beiden Kollegen am Empfang ihren Namen und hielt ihr einen dicken braunen Umschlag hin.
»Das hat ein Bote vor fünf Minuten abgegeben«, verkündete er. »Jetzt haben Sie mir den Weg nach oben erspart.«
»Danke.«
Sie warf einen Blick auf den Absender, erkannte den Namen aber nicht. McBride. Navy Street. Venice Beach. Nichts davon kam ihr vertraut vor.
Sie stieg in den Aufzug, drückte auf den Knopf für ihre Etage und musterte noch einmal das Päckchen. Es war ein Luftpolsterumschlag, dessen Inhalt sich nicht nach einem Buch oder einer CD anfühlte. Endlich schlossen sich die Aufzugtüren, und das Gefährt ruckelte ächzend und zitternd in den zweiten Stock hinauf.
Das Parker Center, auch Glashaus genannt, war innerhalb der nächsten fünf Jahre zum Abriss vorgesehen. Lena versuchte, sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, da sie ohnehin nichts tun konnte, um diesen Vorgang zu beschleunigen. Dennoch fürchtete sie bei jeder Fahrt mit dem Aufzug um ihr Leben. Obwohl das Parker Center das letzte Erdbeben nicht unbeschadet überstanden hatte, stritt die Stadtverwaltung diesen Umstand hartnäckig ab und verschloss die Augen vor der Wahrheit, denn die Kosten für einen Neubau einzusparen, war offenbar wichtiger als die Sicherheit der Menschen, die in diesem Gebäude arbeiteten. Zumindest vermittelten die Zahlen Lena diesen Eindruck. Das Northridge-Erdbeben hatte Los Angeles vor knapp fünfzehn Jahren erschüttert. Allerdings wollte die Stadtverwaltung einen Neubau erst nach einer Wartezeit von zwanzig Jahren bewilligen. Für die hier beschäftigten Mitarbeiter bedeutete das lebenslänglich, also die gesamte Dauer ihrer beruflichen Laufbahn.
Die Aufzugtüren öffneten sich, und Lena schob den Gedanken beiseite. Sie ging den Flur entlang, bog um die Ecke und passierte den Schreibtisch des Lieutenants im vorderen Teil des Großraumbüros. Die Abteilung für Raub und Tötungsdelikte bestand aus vierundzwanzig zu vier Sechsergruppen zusammengeschobenen Schreibtischen. Heute war Freitag, knapp zwei Wochen vor Weihnachten, und offenbar waren fast alle Kollegen zu Tisch. Nur Stan Rhodes hielt die Stellung und winkte Lena zu, während er mit jemandem telefonierte. Da Lieutenant Barrera nicht an seinem Computer am Schreibtisch saß, arbeitete er vermutlich in Captain Dillworths Büro gegenüber der Vernehmungszimmer.
Captain Dillworth selbst unternahm mit seiner Frau eine Kreuzfahrt durch Alaska, vermutlich in der Hoffnung, noch Eisberge und Eisbären zu Gesicht zu bekommen, bevor Erstere schmolzen und Letztere in den Fluten versanken. Das Fallaktenarchiv befand sich zwar inzwischen eine Etage höher in der Abteilung für ungelöste Fälle, doch da der einzige Konferenztisch in diesem Stockwerk in seinem Büro stand, schloss er es niemals ab.
Froh, beinahe allein zu sein, ließ Lena sich an ihrem Schreibtisch nieder. Sie blickte aus dem Fenster und dachte über ihr Gespräch mit Ramira nach. Der Mann hatte doch sicher übertrieben! Gut, der Polizeichef und sein Handlanger hatten sie gestern Abend ziemlich in die Mangel genommen, aber mehr steckte sicher nicht dahinter. Es war nur eine neue Variation des in den vergangenen acht Monaten gespielten Themas gewesen. Ihres von kleinen Schikanen geprägten Alltags. Niemals hatte Lena den Verdacht gehabt, dass ihr ernsthaft Gefahr drohte. Sie war felsenfest überzeugt gewesen, dass sie den längeren Atem hatte und abwarten konnte, bis Gras über die Sache gewachsen war. Nun sah sie Ramiras forschenden Blick und das ängstliche Flackern in seinen Augen vor sich, und seine Warnung hallte ihr in den Ohren.
Lena fragte sich, warum sie sich überhaupt mit derartigen Albernheiten beschäftigte. Weshalb machte sie sich solche Sorgen, dass es sie bis an ihren Schreibtisch verfolgte?
Sie warf einen Blick auf die Uhr und packte ihren Laptop aus. Bis zur Besprechung blieb ihr noch eine Viertelstunde. Während der Computer hochfuhr, griff sie nach der Lasche auf der Rückseite des Umschlags und riss ihn auf. Dann hielt sie den Umschlag ans Licht, das durch das Fenster hereinfiel, und spähte hinein. Ihr Puls ging schneller.
Es war ein Ausweis. Genauer genommen ein Führerschein. Außerdem hatte sich in einer Ecke des Umschlags noch etwas verfangen. Zunächst hielt sie es für einen Schlüsselring. Doch als sie die Luftpolsterfolie weiter auseinanderzog, stellte sie fest, dass es sich um ein kleines Speichermedium von der Größe eines Feuerzeugs handelte. Jemand hatte ihr einen USB-Stick geschickt.
Lena holte ein Paar Handschuhe aus ihrem Aktenkoffer, schob den Laptop beiseite und kippte Führerschein und USB-Stick auf den Schreibtisch. Danach drehte sie den Führerschein um und musterte das Foto. Langes blondes Haar. Sanfte braune Augen. Hohe Wangenknochen.
Jane Doe Nr. 99 war keine Jane Doe mehr.
Die Frau hieß Jennifer McBride. Und Art Madina hatte Recht gehabt. Bei einer Rekonstruktion des Gesichts des Opfers wäre eine schöne junge Frau zum Vorschein gekommen.
Lena verglich die Absenderadresse mit der auf dem Führerschein. Der Absender hatte die Adresse des Opfers angegeben. Jennifer McBride hatte in der Navy Street gewohnt und zwei Wochen vor ihrem Tod ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.
»Warum hast du Handschuhe an?«, erkundigte sich Rhodes. »Alles in Ordnung?«
Sie blickte auf. Rhodes hielt das Telefon vor die Brust gedrückt. Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben. Inzwischen war sein Partner Tito Sanchez hereingekommen und stand nun neben ihm.
»Wo ist Barrera?«, fragte sie.
Rhodes’ Augen wanderten zum Büro des Captains in der Nische hinter ihr und wieder zurück.
»Es ist etwas passiert«, sagte sie.
Vielleicht war es ihr Tonfall gewesen. Möglicherweise auch Rhodes’ instinktive Fähigkeit, sie zu durchschauen, ihre wieder zum Leben erwachte Freundschaft und ihr Bauchgefühl, dass es in diesem Fall endlich voranging. Rhodes beendete das Telefonat, und kurz darauf scharten sich drei Männer um Lenas Schreibtisch. Sie erklärte ihnen, was geschehen war, und schilderte ihnen grob den Fundort der Leiche. Während sie ihnen die Autopsieergebnisse erklärte, zog sie den Laptop näher heran und steckte den USB-Stick ins Laufwerk. Dann klickte sie das entsprechende Symbol an und wartete ab.
Es war eine einzige Datei – ein Video. Sanchez löschte die Deckenbeleuchtung. Dann beugten sich alle über den Bildschirm von Lenas Laptop.
Die Aufnahmen waren nachts entstanden und so miserabel in der Auflösung, dass sie nach Lenas Ansicht sicher mit einem Mobiltelefon gemacht worden waren. Offenbar war der Kameramann äußerst nervös gewesen und hatte sich zwischen zwei geparkten Autos versteckt gehabt. Die Kamera zitterte. Der ganze Film dauerte nur fünf Sekunden. Danach schaltete er zum Anfang zurück und begann wieder von vorne.
Lena konnte in der Dunkelheit einen in etwa fünfundzwanzig Metern Entfernung abgestellten Wagen erkennen. Ein Stück weiter erhob sich ein Gebäude mit einer Neonreklame auf dem Dach. Ein blonder Mann warf etwas in den Müllcontainer neben dem Wagen. Anschließend drehte er sich zur Kamera um und bückte sich zu einem großen Gegenstand hinunter, der auf dem Boden lag. Sein Gesicht war so verschwommen, dass man es nicht erkennen konnte. Die Neonreklame auf dem Dach wurde von digitalem Flackern überdeckt. Doch die letzte Einstellung des Films war plötzlich hell erleuchtet, sodass der Umriss auf dem Boden deutlich auszumachen war.
Der Mann beugte sich über Jennifer McBrides Leiche.
»Gütiger Himmel!«, rief Barrera aus. »Wir haben einen Zeugen.«
»Oder der Zeuge hat uns«, meinte Rhodes. »Glauben Sie, es war ihre Handtasche, die er da in den Müllcontainer geworfen hat?«
Lena betrachtete McBrides Führerschein auf dem Tisch und dann wieder den Bildschirm, wo der Film erneut damit anfing, dass der Mann etwas im Müllcontainer verschwinden ließ.
»Das ist ihre Handtasche«, stellte Barrera fest.
Lena stimmte zu. Sie konnte den Blick nicht vom Bildschirm abwenden. Als der Mann sich zur Kamera umwandte, klickte sie auf Pause, sodass das Bild erstarrte. Das Gesicht des Mannes war zwar noch immer verschwommen, jedoch eindeutig vorhanden. Und er trug etwas um den Hals, das in der Dunkelheit funkelte. Eine Art Medaillon.
Barrera rückte näher an den Bildschirm heran. »Madina denkt, dass wir es mit einem Chirurgen zu tun haben?«
»Einem Chirurgen mit militärischer Ausbildung«, ergänzte Lena.
Barrera schüttelte den Kopf und erbleichte. »Ein Arzt, der aus dem Krieg zurück ist.«
Seine Stimme erstarb, und Lena konnte sich vorstellen, was in ihm vorging. Nach der Autopsie hatte sie die Angelegenheit mit Madina besprochen. Sie suchten einen Arzt mit Militärerfahrung, der vermutlich eine Ausbildung am Medical Center der University of Southern California durchlaufen hatte. Seit dem Anfang des Irakkriegs hatte das Verteidigungsministerium seine Ärzte in der hiesigen Notaufnahme trainiert, denn dank der hohen Verbrechensrate in dieser Stadt musste ein Mediziner dort unter ganz ähnlichen Bedingungen arbeiten wie in einem Kriegsgebiet. Samstagnachts ging es in der Notaufnahme ebenso oft um Leben und Tod wie auf einem Schlachtfeld, da jedes Jahr über zweitausend Menschen mit Stich-oder Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden.
Vielleicht konnte man ihnen im Medical Center ja weiterhelfen. Allerdings brauchten sie mehr als einen vagen Verdacht, bevor sie eine Anfrage starteten. Sie mussten die Identität des Mannes eingrenzen.
Barrera betrachtete das Video auf dem Computerbildschirm. »Das Gebäude im Hintergrund sieht aus wie ein Restaurant. Irgendein Vorschlag, wo das sein könnte?«
»Überall«, erwiderte Sanchez. »Die Bildqualität ist eine Katastrophe.«
Rhodes nickte. »Am besten bringen wir den Film rauf in die Kriminaltechnik. Vielleicht fällt denen ja etwas dazu sein.«
Nachdenklich trat Barrera einen Schritt zurück und sah Rhodes an. »Sie und Tito sind doch diese Woche bei Gericht. Sie bearbeiten denselben Fall, oder?«
»In einer Stunde müssen wir wieder im Gerichtssaal antreten.«
»Wer ist der Staatsanwalt?«
»Roy Werner«, antwortete Sanchez.
Lena warf einen Blick auf die Uhr. »Ich bin schon zehn Minuten zu spät zu meiner Besprechung mit dem Polizeichef.«
»Worum geht es?«, erkundigte sich Barrera.
»Die Autopsie.«
»Vergessen Sie es«, erwiderte er. »Wir kennen den Namen des Opfers und seine Adresse. Sie und Rhodes fahren sofort nach Venice Beach. Tito, Sie gehen allein zum Gericht. Ich bringe das Video rauf und überprüfe den Führerschein. Dann unterhalte ich mich mit dem Polizeichef. Hat jemand Einwände?«
Sanchez schüttelte den Kopf. »Kein Problem. Ich bin sowieso der Hauptzeuge. Ich gebe Werner Bescheid.«
Lena sah Sanchez an und wusste, dass er es ehrlich meinte. Außerdem war er inzwischen an außerplanmäßige Einsätze gewöhnt. Da Rhodes’ Schwester an Brustkrebs erkrankt war, war Tito in den letzten drei Monaten häufig für seinen Partner eingesprungen und hatte Überstunden geschoben, damit dieser freinehmen und sie auf ihrer Farm in Oxnard besuchen konnte.
»Was ist mit dem Zeugen?«, fragte Rhodes. »Das Video ist nur fünf Sekunden lang. Der Mensch, der das Ganze beobachtet hat, hat die Tat vermutlich von Anfang bis Ende mitgekriegt. Und warum ist der Umschlag an Lena persönlich adressiert? Frankiert ist er auch nicht.«
Barrera wandte sich an Lena. »Ist er denn nicht mit der regulären Post gekommen?«
»Ein Bote hat ihn am Empfang abgegeben?«
»Ich überprüfe das«, sagte er. »Und jetzt los.«
Lenas und Rhodes’ Blicke trafen sich. Alles klappte wie am Schnürchen. Doch während sie ihre Sachen zusammenpackte, musste sie an die Ermordete denken. Wie hatte sie gelebt? Wer war sie gewesen? Hatte sie Eltern, die sie vermissten? Einen Ehemann oder sogar ein Kind? Wie sollte sie Jennifer McBrides Familie beibringen, dass sie getötet worden war? Dass ein Wahnsinniger ihre geliebte Angehörige zerstückelt hatte?
Lena brauchte kein Mittagessen, um auf Zack zu bleiben.
Nachdem sie McBrides Adresse auf einem Zettel notiert hatte, sah sie Rhodes an. Er holte gerade seinen Schlüssel vom Schreibtisch, schlüpfte in seine Jacke und wirkte ebenso zornig, sprungbereit und aufgekratzt, wie sie sich fühlte. Das erkannte sie an seinem Gesicht.