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Der Barkham Boulevard war gesperrt. Der gesamte, aus vier Häusern bestehende Gebäudekomplex war geräumt und verriegelt worden. Die Häuser waren dreistöckig und quadratisch, eine Mischung aus moderner Architektur und Tudor-Stil, angeordnet um Gärten, die mit Swimmingpools, Palmen und Liegestühlen ausgestattet waren. Dass das Bates-Motel aus dem Film Psycho gleich hinter dem nächsten Hügel auf dem Studiogelände von Universal stand, war etwas, woran Lena jetzt lieber nicht denken wollte.
Nun wartete sie mit Rhodes am Pool, gut versteckt unterhalb von Cavas Wohnung im zweiten Stock. Die beiden Detectives würden sich nicht an der Festnahme beteiligen. Lena war das Risiko zu groß. Sie wollten Cava lebend. Nach einer ausführlichen Diskussion mit Barrera im Parker Center hatte man Lieutenant Chase Thomas von der Spezialeinheit als Einsatzleiter hinzugezogen. Thomas hatte bei einem Banküberfall vor einem Jahr fünfzehn Geiseln befreit und dafür die Tapferkeitsmedaille bekommen, die höchste Auszeichnung für heldenhaftes Verhalten im Dienst. Er gehörte zu den besten in seinem Beruf und war durch und durch ein Profi. In fünf Minuten würde er sich mit seiner Mannschaft nach oben zu Cavas Wohnungstür schleichen.
Während sie im noch immer unbenutzten Büro des Captains den Einsatz planten, hatte die Chefetage interessanterweise nichts von sich hören lassen. Polizeichef Logan hatte weder einen Mucks von sich gegeben noch Anweisungen erteilt, sondern hüllte sich in Schweigen. Klinger war den ganzen Tag nicht im Gebäude gesichtet worden.
Lena deutete das als schlechtes Omen.
Die Tatorte in Ramiras Haus an der Edgewater Terrace und Fontaines Villa am South Mapleton Drive waren von Kollegen aus den jeweils zuständigen Revieren untersucht worden. Beide Male war die Entscheidung unter großem Zeitdruck und mehr oder weniger aus Verzweiflung gefallen. Allerdings war, wie Lena die Sache sah, der Baum nicht an der Wurzel faul, sondern zerfiel von der Krone aus. Also war ihre beste und einzige Chance, Tremell das Handwerk zu legen, die Ermittlungen so gut wie möglich vom Parker Center fernzuhalten. Sie musste auf die untergeordneten Stellen und die Mordkommissionen in den einzelnen Stadtvierteln vertrauen, wo die Einflussmöglichkeiten des Polizeichefs begrenzt waren, damit er keine Gelegenheit erhielt, die Ergebnisse zu manipulieren. Inzwischen lag auf der Hand, dass Logan ihr den Fall zugeteilt hatte, um ihre Karriere zu ruinieren. Doch noch wichtiger war, dass er anscheinend mit den Tätern unter einer Decke steckte. Er hatte sie angefordert, weil er sicher gewesen war, dass sie scheitern würde. Doch indem sie beide Male die Polizeizentrale verständigt hatte, hatte sie ihm die Tour vermasselt. Sie hatte weitere Kollegen in den Fall einbezogen. Zusätzliche Augen und Ohren, Menschen, die unvoreingenommen waren.
Ihr Mund war trocken. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie Thomas, gefolgt von zehn Männern, den Garten betrat. Alle trugen Helme und kugelsichere Westen. Vier hatten Schnellschussgewehre bei sich, die anderen Automatikwaffen. Doch es waren die Schnellschussgewehre, die Lena besonders auffielen. Es handelte sich um Modelle der Bauart Winchester SX3, die in knapp 1,5 Sekunden zwölf Schuss abgeben konnten.
Das Sondereinsatzkommando war bereit. Auf ein Nicken von Thomas huschten Lena und Rhodes den Gartenweg entlang und schauten zu, wie die Kollegen die Treppe hinaufliefen. Cavas Vorhänge waren geschlossen. Die Mannschaft eilte weiter, duckte sich unter den Fenstern durch und nahm ihre Positionen ein. Dann trat Thomas neben die Wohnungstür und klopfte kräftig an.
Dreißig schwüle und bedrückende Sekunden vergingen, ohne dass etwas geschah. Thomas unternahm einen zweiten Versuch, diesmal noch ein wenig lauter. Wieder verstrich eine Weile.
Lena beobachtete, wie er das Ohr an die Tür hielt. Nach einem dritten Anlauf wandte er sich zu Lena unten im Garten um. Sein Achselzucken konnte nur bedeuten, dass sich drinnen nichts rührte.
Lena fiel Cavas Auto in der Garage ein. Der SRX Crossover. Sie wussten, dass der Wagen dort stand. Außerdem erübrigte es sich, die Tür aufzubrechen, denn die Hausverwaltung hatte ihnen die Schlüssel ausgehändigt.
Nun kramte Thomas sie aus der Tasche und warf sie einem Kollegen zu. Nachdem die Schlösser geöffnet waren, wurde Cavas Tür mit dem Lauf einer Winchester SXC aufgeschoben.
Einige Minuten lang spähten die Männer argwöhnisch in die dunkle Wohnung und schlichen dann rasch und mit erhobenen Waffen hinein.
Lena und Rhodes machten ganz automatisch einen Schritt auf die Treppe zu. Sie spitzten die Ohren. Das Warten zerrte an Lenas Nerven.
Fünf endlose Minuten später erschien Thomas in der Tür und winkte sie zu sich. Während Lena die Treppe hinaufstürmte, war ihr erster Gedanke, dass Cava bereits vor ihrer Ankunft getötet worden war. Womöglich hatte sich im Laufe des Vormittags herumgesprochen, dass sie ihn aufgespürt hatten. Und schließlich konnte sich keiner der Beteiligten leisten, dass er redete. Als sie die Wohnungstür erreicht hatte, nahm Thomas den Helm ab. Offenbar war der Einsatz vorbei. Er musterte sie mit einem eigenartigen Ausdruck auf dem Gesicht.
»Das müssen Sie sich selbst anschauen«, meinte er. »Kommen Sie.«
Lena blieb fast das Herz stehen. Sie betrat die kärglich möblierte Wohnung und folgte Rhodes und Thomas an der Küche vorbei ins Schlafzimmer. Alle zehn Mitglieder des Sondereinsatzkommandos hatten sich ums Bett geschart und machten auf Thomas’ Befehl hin Platz, damit Lena sich über Nathan G. Cava beugen konnte.
Allerdings war er nicht tot. Der ehemalige Chirurg und heutige Auftragskiller erfreute sich ganz im Gegenteil bester Gesundheit.
Cava hatte einen Kopfhörer über den Ohren und die Augen geschlossen. Er hörte Musik, die durch das stille Zimmer hallte. Es war ein Blues-Stück, und noch dazu ein gutes – »Bobby’s Bob« von einem importierten Album von Ronnie Earl and the Broadcasters, das Hope Radio hieß.
»Er rührt sich nicht«, verkündete Thomas. »Total weggetreten.«
Rhodes wies auf den Nachttisch. Sechs oder sieben Einwegspritzen lagen neben einer noch unangebrochenen Packung, die fünf weitere enthielt. Cava hatte sich eine ordentliche Dröhnung Morphium genehmigt. Die Spritzen waren identisch mit denen, die sie auf Fontaines Schreibtisch gefunden hatten.
Er machte die Augen auf.
Alle Anwesenden zuckten zusammen.
Im nächsten Moment waren sechs Schnellschussgewehre und vier Automatikwaffen im Abstand von wenigen Zentimetern auf das Gesicht des Mannes gerichtet. Aber Cava schien sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er bewegte sich nicht einmal, sondern lag nur da, hörte Blues und räkelte sich voller Glückseligkeit in den Armen der großen weißen Krankenschwester.