22

Lena schaltete die Scheibenwischer ein und bog am Ende der Auffahrt links ab. Inzwischen regnete es heftiger. Die Straße fühlte sich glitschig an.

Ramira hatte auf ein persönliches Treffen bestanden und weigerte sich, am Telefon mit der Sprache herauszurücken. Nicht einmal eine Andeutung hatte er gemacht. Schließlich hatte Lena sich zu einem Treffen im Blackbird breitschlagen lassen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass seine Informationen es wirklich wert waren, mitten in der Nacht in die Innenstadt zu fahren.

Lena sah in den Rückspiegel. Der Asphalt hinter ihr glänzte. Irgendwo jenseits der Kurve setzte sich ein Auto in Bewegung. Vermutlich Klinger und sein Kofferträger – die beiden Superbullen –, die sich nach einem langen Tag, an dem sie ihr Haus verwanzt und gegen das Gesetz verstoßen hatten, mit einem Kaffee und ein paar Doughnuts stärken wollten. Aber offenbar galten die Gesetze sowieso nicht mehr.

Sie fuhr den Hügel hinunter, gab Gas und lauschte dem Regen, der auf das Autodach prasselte. An der nächsten Kurve schaute sie wieder in den Rückspiegel und bemerkte die Scheinwerfer vor dem Felsvorsprung fünfzig Meter hinter sich. Während sie die Geschwindigkeit des anderen Wagens einzuschätzen versuchte, beobachtete sie, wie die hellen Lichter jenseits der beschlagenen Heckscheibe immer größer wurden.

Sie hatten es anscheinend eilig und kamen rasch näher.

Lena hatte den Verdacht, Klinger könnte seine schwachsinnige Überwachungsaktion verschärft und beschlossen haben, sich von nun an auf Schritt und Tritt an ihre Fersen zu heften. Aber warum machte er so überhaupt keinen Hehl daraus, dass er sie verfolgte? Insbesondere in einer Sonntagnacht im strömenden Regen, während sie ganz allein auf der Straße waren? Aus welchem Grund gaben sich die zwei überhaupt keine Mühe, nicht aufzufallen?

Inzwischen war es so hell im Wageninneren, dass sie wegen des grellen Lichts nichts mehr im Rückspiegel erkennen konnte. Der andere Wagen war nur noch wenige Meter hinter ihr auf der rutschigen Fahrbahn.

Lena wusste nicht, weshalb sie plötzlich schon wieder an das Zigarettenpäckchen in Rhodes’ Handschuhfach denken musste. Das war ihr im Laufe des Tages schon einige Male passiert, doch es war ihr gelungen, die Gier zu unterdrücken und weiterzuarbeiten.

Sie überfuhr das Stoppschild an der Scenic Avenue und beschleunigte bis hinunter zur Franklin Avenue. Anstatt den Freeway zu nehmen, raste sie die Straße entlang bis zum Gower Gulch. Die Scheinwerfer folgten ihr und bogen sogar hinter ihr in die Ladenstraße ein. Inzwischen zitterte Lena am ganzen Leibe. Sie fand eine Parklücke vor dem Rite-Aid-Drogeriemarkt und stieg aus. Während sie durch den Regen hastete, hielt sie zwischen den anderen Wagen auf dem Parkplatz Ausschau nach dem Caprice. Doch als sie den überdachten Gehweg erreicht hatte, konnte sie ihn nirgendwo entdecken.

Stattdessen sah sie, dass ein schwarzer Audi vor dem Denny’s Restaurant stoppte. Zwei Männer traten in den Regen hinaus. Nachdem sie sie vielleicht einen Moment länger als nötig gemustert hatten, gingen sie ins Lokal.

Lena verharrte reglos, bis die Tür hinter ihnen zufiel. Interessant war, dass sie die beiden kannte, die eine traurige Berühmtheit genossen. Jack Dobbs und Phil Ragetti waren Partner gewesen, zwei Polizisten der alten Schule, die in den vorzeitigen Ruhestand geschickt worden waren, nachdem sie einen Mordverdächtigen halbtot geschlagen hatten. Die zwei Detectives waren kurz vor ihrem Rauswurf – kein Ruhmesblatt für die Polizei – in die Abteilung für Raub und Tötungsdelikte befördert worden. Lena fragte sich, warum sie weder ins Gefängnis gewandert waren noch ihre Pensionen verloren hatten. Auf sie machten Dobbs und Ragetti jedenfalls den Eindruck von zwei Schlägertypen mittleren Alters, die noch immer gern den dicken Maxe markierten. Ragetti wohnte in einem Haus mit Blick auf den Stausee in den Hollywood Hills, nur anderthalb Kilometer von Lena entfernt. Sie hatte gehört, es sei bei den Waldbränden im vergangenen Frühjahr bis auf die Grundmauern zerstört worden, er wolle es jedoch wieder aufbauen.

Lena ging in den Drogeriemarkt und kaufte ein Päckchen Zigaretten. Als sie wieder herauskam, entfernte sie die Zellophanhülle und zündete sich eine an. Lena war noch nie Gewohnheitsraucherin gewesen. Nur ein halbes Päckchen vor acht Monaten, als ihr letzter Fall eine ziemlich heikle Wendung genommen hatte. Sie sog den Rauch in die Lunge und pustete ihn in die kalte Nachtluft hinaus.

Dabei wandte sie den Blick nicht von dem schwarzen Audi ab. Dobbs und Ragetti hatten drei Jahre vor ihrem, Lenas, Dienstantritt in der Abteilung ihren Hut nehmen müssen. Und dennoch hatten sie sie ebenso erkannt wie umgekehrt. Sie hatten auf Anhieb gewusst, dass sie Polizistin war, und zwar gleich beim Aussteigen aus dem Auto. Das war eine Berufskrankheit, die man sich einfing, sobald man begann, in Uniform auf Streife zu gehen – wir gegen den Rest der Welt.

Lena zog noch einmal an der Zigarette.

Der Anblick der beiden Exkollegen war für sie wie ein schlechtes Omen, der krönende Abschluss eines scheußlichen Tages. Eine Warnung, welche Zukunft ihr blühte, wenn sie jetzt einen Fehler machte. Dann würde auch sie ihre Sonntagabende in einem Diner in Hollywood totschlagen müssen. Eine harte Landung nach einem langen Absturz.

Sie nahm noch einen letzten Zug an ihrer Zigarette, schnippte die Kippe in den Regen hinaus und sah zu, wie sie verlosch, während sie ins Auto stieg. Dann verließ sie den Parkplatz und bog in den Sunset Boulevard ein, in Richtung Auffahrt zum Freeway in die Innenstadt.

Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten. Als sie das Café betrat und Ramira nirgendwo entdeckte, bestellte sie sich einen Becher Hausmischung und setzte sich an einen freien Tisch mit Blick zur Tür. Vor ihrem Aufbruch hatte sie Bobby Rathbone erreicht und sich für Mitternacht mit ihm verabredet. Da sie bis dahin noch eine Stunde Zeit hatte, beschloss sie, den Tag und die neuesten Entwicklungen Revue passieren zu lassen.

Lena entfernte den Deckel vom Becher und hielt ihr Gesicht in die Dampfwolke. Dann nahm sie einen kleinen Schluck, spürte, wie sich das warme Getränk in ihrem Magen ausbreitete, schlug ihr Notizbuch auf und holte einen Stift heraus.

Jane Doe, alias Jennifer McBride, war von ein und demselben Mann entführt und ermordet worden.

Das stand für Lena inzwischen fest, und sie konnte es auch beweisen. Der Täter nannte sich Nathan Good. Lena kannte sein Aussehen, ungefähres Alter und seinen Körperbau. Außerdem wusste sie, was für ein Auto er fuhr, falls er es nicht inzwischen abgestoßen hatte. Der Zustand der Frauenleiche entsprach den grausigen Funden in der vom Täter angemieteten Garage in der Barton Avenue. Vermutlich würde die Spurensicherung die Übereinstimmungen innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden bestätigen.

Außerdem lag es auf der Hand, dass dieser Nathan Good ein schwer gestörter Mensch war. Hinzu kam, dass alle ihre heutigen Beobachtungen Art Madinas Vermutung belegten: Der Verdächtige besaß medizinische Kenntnisse. Sämtliche Indizien wiesen auf einen Psychopathen hin. Einen Spinner, der zwar nicht alle Tassen im Schrank, aber einen scharfen Verstand hatte.

Lena warf einen Blick auf die Tür. Als von Ramira noch immer jede Spur fehlte, beugte sie sich wieder über ihr Notizbuch und überflog die Aufzeichnungen, die sie sich am Vorabend nach ihrer Unterredung mit Justin Tremell und seinem Vater gemacht hatte.

Reiche Leute bezahlten andere dafür, dass sie ihnen die Drecksarbeit abnahmen. Lena zweifelte keine Minute daran, dass Nathan Good trotz seiner grausigen Verbrechen nichts weiter als ein Lohnsklave war.

Hier ging es um Justin Tremell, ein reiches, verdorbenes Söhnchen, das versuchte, die Fehler der Vergangenheit ungeschehen zu machen. Der junge Mann hatte geheiratet und inzwischen selbst einen Sohn und wollte seinem Vater und dem Rest der Welt deshalb verheimlichen, dass er noch immer ein kleiner Mistkerl war, der es mit jungen Prostituierten trieb. Ein frecher Bursche, dessen Hände selbst im Kreuzverhör nicht zitterten und der darauf beharrte, Jennifer McBride nicht zu kennen. Die Zeugen, die sie zusammen gesehen hätten, hätten sich eben geirrt, denn er habe den ganzen Abend mit seiner Frau und seinem Sohn zu Hause verbracht.

Lena überlegte, was diese ruhigen Hände wohl zu bedeuten hatten. Nathan Goods Gräueltaten schienen so gar nicht zu Justin Tremells Verhalten während der Befragung zu passen. Sie grübelte lange über die beiden Männer nach. Tremell und Good waren schätzungsweise im gleichen Alter. Und Tremell konnte Good jeden geforderten Preis vermutlich aus der Portokasse zahlen.

Allerdings war auch eine Frau an der Sache beteiligt. Eine Frau, die die Männer verzauberte, sich Jennifer McBride nannte und Tremell kennengelernt hatte. Offenbar hatte sie genau gewusst, wer er war, und gehofft, einmal so richtig absahnen zu können. Vielleicht genug, um endgültig aus dem Gewerbe auszusteigen. Die fünfzig Riesen auf ihrem Girokonto waren dafür jedoch zu wenig. Nein, sie reichten nicht annähernd.

Während Lena die Fakten weiter im Geiste durchging, kam sie zu dem Schluss, dass sie so viele Fortschritte machen konnte, wie sie wollte – die Fragen überwogen weiterhin die Antworten. Und ganz gleich, wie lange sie sich auch das Hirn zermarterte, kam sie einfach nicht dahinter, wie Joseph Fontaine ins Bild passte. Der Arzt aus Beverly Hills hatte von McBrides Tod gewusst, noch ehe sie ihm von dem Mord erzählt hatten. Auf ihre Frage nach seinem Verhältnis zu der jungen Prostituierten hatte er sich hinter seiner Assistentin versteckt, geleugnet und mit seinem Anwalt gedroht.

Fontaine hatte etwas mit der Sache zu tun. Lena begriff nur den Zusammenhang nicht und verstand nicht, was gespielt wurde.

Sie sah auf die Uhr und hob den Kopf. Ramira betrat gerade das Café. Er schien eher zu schweben als zu gehen. Als er sie entdeckte und auf ihren Tisch zusteuerte, wusste sie sofort, dass sie sich die Fahrt in die Innenstadt hätte sparen können. Vor einer Dreiviertelstunde hatte der Reporter noch völlig verstört geklungen. Inzwischen war er offenbar in Hochstimmung.

»Was hast du mir zu sagen, Denny? Warum sind wir hier?«

»Ich hole mir erst mal einen Kaffee.«

Er wollte Zeit schinden, um sich eine Ausrede einfallen zu lassen und seinen Hals zu retten. Lena konnte nicht sagen, wer ihr mehr auf die Nerven fiel. Ramira oder Klinger. Jedenfalls verplemperten beide ihre wertvolle Zeit.

»Du kannst meinen haben«, meinte sie.

»Der ist doch sicher schon kalt.«

Lena schüttelte enttäuscht den Kopf. »Du hast behauptet, dass du in Schwierigkeiten steckst. Es ist Sonntagnacht, und ich habe einen langen Tag hinter mir. Also raus mit der Sprache. Erklär mir, was los ist.«

Ramira errötete und nahm endlich Platz. »Tut mir leid, Lena, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Sie musterte ihn forschend. »Du hast darauf beharrt, wir müssten reden. Außerdem hast du behauptet, du hättest Informationen über den Mörder. Du hast dich ziemlich eindeutig ausgedrückt. Deshalb bin ich hier.«

»Am Telefon habe ich gar nichts gesagt. Nur, dass ich dich treffen will.«

»Richtig. Und du hast über das Opfer gesprochen. Die Frau im Müllcontainer. Es handelt sich hier um Ermittlungen in einem Mordfall, Denny. Das ist wichtiger als deine nächste Story. Wenn du mir etwas verheimlichst, erfüllt das den Straftatbestand …«

»Ich bin Reporter, verdammt. Beruhige dich, Lena.«

»Dein Beruf ist mir scheißegal. Solltest du mir Fakten verschweigen, die morgen in der Zeitung stehen, nehme ich dich fest.«

»Ich weiß von nichts«, erwiderte er.

Lena schob den Kaffeebecher über den Tisch. Er starrte eine Weile darauf und schien zu überlegen. Offenbar war die Sache so besorgniserregend, dass sich sein Blick verdüsterte.

»Du baust gerade mächtig Scheiße, Denny.«

»Als ich anrief, glaubte ich, ich wäre da an einer Sache dran. Inzwischen habe ich rausgefunden, dass es ein Irrtum war.«

»An was warst du dran?«, hakte sie nach.

»Nichts. Eine falsche Spur.«

»Worum ging es?«

Er schwieg eine Weile. Wieder der düstere Blick.

»Worum ging es?«, beharrte sie.

»Wer sie war«, entgegnete er. »Ich dachte, ich wüsste es, aber ich war schief gewickelt.«

»Mit wem hast du gesprochen? Wer hat dir weisgemacht, dass du falschliegst? Wer ist gut genug über den Fall im Bilde, um dir so etwas einzureden?«

Wortlos schüttelte er den Kopf.

»Hat es vielleicht mit dem Buch zu tun, das du gerade schreibst? Wer versorgt dich mit Informationen? Klinger? Oder Senator West von der Kommission?«

Ramira wirkte erstaunt. »Was soll mit ihm sein?«

»Ist er deine Quelle?«

»Quelle wofür? West kommt mit dem Polizeichef etwa so gut aus wie du. Das sollte eigentlich vor allem dir klar sein. Hör mich an: Ich habe einen Fehler gemacht, und es tut mir leid. Entschuldige, dass ich dich heute Nacht hierherbestellt habe.«

Er griff nach dem Kaffeebecher und trank einen großen Schluck wie ein Verdurstender. So, als könnte das heiße Getränk dafür sorgen, dass mitten in der dunklen Nacht die Sonne aufging. Lena beobachtete, wie er den Becher senkte, die Brille abnahm und sie mit einer Serviette putzte.

»Du hast gesagt, dein Leben sei in Gefahr«, flüsterte sie.

Ramira warf ihr einen Blick zu, ohne sie wirklich zu sehen, und setzte die Brille wieder auf. Er wirkte müde und überarbeitet. Nach einem weiteren Schluck Kaffee zog er Notizblock und Stift aus der Tasche.

»Ich habe mich getäuscht«, antwortete er. »Aber da wir schon mal hier sind, kannst du mir ja erzählen, was heute in der Barton Avenue los war. Liegen offizielle Ergebnisse vor, die ich verwenden darf? Wir haben beobachtet, wie eine Pressspanplatte aus der Garage getragen wurde. Paladino hat niemanden an seine Mandanten herangelassen. Er hat sie weggebracht und behauptet jetzt, dass sie nicht mehr dort wohnen.«

Lena biss sich auf die Lippe und starrte ihr Gegenüber verständnislos an. »Es geht hier darum, wer das Opfer war«, stellte sie fest. »Nicht darum, dass du glaubtest, etwas zu wissen, und eines Besseren belehrt wurdest. Wie hast du dich am Telefon ausgedrückt, Denny? Ich stecke in der Klemme, hast du gesagt. Aber richtig. Mein Leben ist in Gefahr. Ich habe Informationen über die Leiche, die ihr in Hollywood gefunden habt. Und jetzt hast du diese Informationen plötzlich nicht mehr, flüchtest dich in Ausreden und hoffst, dass ich deine Tricks nicht durchschaue.«

Ramira ließ den Stift sinken. Lena sah auf die Uhr und erhob sich.

»Du hast mir dein Wort gegeben«, meinte sie.

»Ich mache alles wieder gut, ich schwöre.«

»Doch ich werde dann nicht mehr für dich da sein, Denny. Nie wieder.«

Zornig und enttäuscht marschierte sie hinaus und dachte dabei an den bedrückten Blick des Reporters. Es war etwas geschehen, und zwar etwas, das Ramira nun geheim halten wollte.

Auf der Heimfahrt konnte sie sich des Verdachts nicht erwehren, dass Ramira ebenso unter Zeitdruck stand wie sie. Der Reporter war zu klug, um sie ohne triftigen Grund um diese Uhrzeit zu einem Treffen zu bestellen. Außerdem wäre er intelligent genug gewesen abzusagen, falls sich dieser Grund als Irrtum entpuppte. Niemals hätte er ihr gutes Verhältnis wegen einer bloßen Vermutung, einer vagen Idee oder einer unbewiesenen Tatsache aufs Spiel gesetzt. Als Lena die Hollywood Hills erreichte, war sie überzeugt, dass Ramira am Telefon die Wahrheit gesagt hatte. Er wusste etwas über den Mord. Und er steckte in Schwierigkeiten.

Lena bog in ihre Auffahrt ein und bemerkte den silberfarbenen Porsche Carrera 911 vor dem Tonstudio ihres Bruders. Sie stoppte mit quietschenden Bremsen, riss die Wagentür auf und sah Bobby Rathbone von der Veranda hinter dem Haus treten.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte er.

Lena zuckte mit den Achseln. Es regnete immer noch. »Danke, dass du so kurzfristig Zeit hattest.«

»Kein Problem«, erwiderte er. »Welche Infos brauche ich, bevor ich anfange?«

»Sie sind vor ein paar Stunden weg und hatten den ganzen Tag Zeit, hier ihr Unwesen zu treiben.«

»Profis?«

Lena schüttelte den Kopf. »Die Typen waren nicht von der Abteilung Spezielle Ermittlungen, sondern von der Internen.«

»Was ist das für Musik?«

Lena hielt inne und lauschte dem Stück, das durch das Haus dröhnte. Sie erkannte das Lied von Megadeth und hoffte, dass Klinger Freude daran hatte.

Killing Is My Business … and Business Is Good.

»Ich wollte, dass die Jungs ein bisschen Unterhaltung haben.«

Rathbone lachte auf. Die beiden hatten sich in der Plattenfirma ihres Bruders kennengelernt und waren seit fast zehn Jahren befreundet. Rathbone war Inhaber eines Unternehmens, das Abhöranlagen entfernte und ausschließlich für die Musikbranche tätig war. Ein Tonstudio nach Wanzen abzusuchen, war inzwischen gang und gäbe, seit Großkonzerne kleinere Firmen aufkauften und sie ausschlachteten, um ihr Image aufzupolieren und höhere Gewinne für ihre Aktionäre zu erwirtschaften. Rathbone genoss trotz seiner erst dreißig Jahre den Ruf, der beste Techniker in der Branche zu sein, und hatte Auftraggeber in Los Angeles und Seattle. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er gerade eine Filiale in Nashville eröffnet. Lena wusste, dass er ebenso viele Wanzen anbrachte wie er entsorgte, denn auch das gehörte zum Geschäft. Er bewegte sich am Rande der Legalität und verdiente ein Vermögen damit.

»Also los«, meinte er.

Er ging zu dem Carrera hinüber, schaltete die Alarmanlage ab und holte einen schwarzen Aktenkoffer aus Aluminium heraus. Lena betrachtete sein langes, schmutzig blondes Haar, die blauen Augen, die Jeans, das T-Shirt und die Lederjacke. Er war mager und trug einen Schal um den Hals. So zwielichtig sein Beruf auch sein mochte, freute sie sich immer wieder, ihn zu sehen.

»Schließ die Tür auf«, wies er sie an. »Und lass die Musik laufen. Wir treffen uns hinten.«

Während Rathbone auf die Veranda zusteuerte, öffnete Lena die Vordertür, durchquerte das Wohnzimmer und entriegelte die Terrassentür. Sobald sie sie aufgeschoben hatte, schnallte Rathbone sich ein kleines elektronisches Gerät vor die Brust und förderte einen Kopfhörer aus dem Aktenkoffer zutage. Er setzte ihn auf und winkte Lena nach draußen. Dann nahm er einen Schraubenzieher und eine Taschenlampe und betrat das Haus.

In der Küche fing er an. Als er vor dem Telefon stand, bemerkte Lena, dass die LED-Anzeigen seines Gerätes zu blinken begannen. Rathbone zerlegte den Telefonhörer, betrachtete den Inhalt und schlich weiter. Langsam und methodisch arbeitete er sich vor, wobei er besonders auf die Verkabelung der Stereoanlage achtete. Immer wieder blieb er an einer Steckdose stehen, entfernte die Blende und untersuchte die Vorrichtung in der Wand. Nachdem er das Wohnzimmer zweimal durchkämmt hatte, war das Schlafzimmer an der Reihe. Da Lena draußen vor der Schiebetür stand, konnte sie nicht sehen, was er dort tat. Zehn Minuten später kam er wieder heraus und pirschte sich nach oben. Nach weiteren fünf Minuten war er zurück und gesellte sich zu Lena auf die Veranda.

Er lächelte sie an. »Ich brauche etwas aus meinem Auto«, flüsterte er ihr, übertönt von der Musik, ins Ohr. »Tu mir den Gefallen und mach überall im Parterre das Licht aus.«

Sie beobachtete, wie er das Gerät von seiner Brust nahm und durch den Regen die Stufen hinunterlief. Dann ging sie hinein, um das Licht auszuknipsen. Bei ihrer Rückkehr war Rathbone gerade dabei, einen weiteren Aktenkoffer auf der Terrassenliege abzustellen. Als er ihn öffnete, kamen einige Nachtsichtgeräte zum Vorschein.

Er griff nach einem, schaltete es ein und reichte es Lena.

»Du willst bestimmt zuschauen«, raunte er. »Wir reden anschließend darüber, aber der Typ muss ein Drecksack sein, wie er im Buche steht, Lena.«

Er half ihr, das Nachtsichtgerät aufzusetzen und die Linsen vor ihren Augen zurechtzurücken. Nachdem er sich das zweite übergestülpt hatte, schlich er voran ins Schlafzimmer. Trotz der völligen Dunkelheit wirkte das Zimmer wie hell erleuchtet, auch wenn das Licht unheimlich grün war. Lena sah, dass Rathbone um die Ecke verschwand wie ein Gespenst und vor dem Wandschrank wieder auftauchte. Er winkte ihr zu und huschte dann voraus ins Bad, wo er auf die Steckdose über dem Waschbecken zeigte. Rathbone zog den Föhn aus der Steckdose und entfernte die Blende mit dem Schraubenzieher. Anschließend bedeutete er ihr, näher zu kommen, löste die Schrauben der Steckdose und zog sie so weit weg von der Wand, wie die unter Strom stehenden Kabel es zuließen. Er wies auf das kleine schwarze Kästchen zwischen den beiden Polen. Es war etwa so groß wie ein Daumennagel und sehr dünn.

Lena starrte eine Weile mit klopfendem Herzen darauf, bis sie schließlich das mikroskopische Objektiv erkannte.

Rathbone betrachtete sie durch sein Nachtsichtgerät und schüttelte den Kopf. Danach wandte er sich wieder der Steckdose zu und breitete die Arme aus wie eine Filmdiva. Offenbar wollte er ihr damit die Reichweite verdeutlichen. Obwohl Lena sie sich gut vorstellen konnte, sah sie dennoch hin. Die in der Steckdose verborgene Kamera hatte alle wichtigen Punkte im Blick: Kleiderschrank, Dusche und Badewanne.

Sie folgte Rathbone aus dem Haus. Doch als er die Schiebetür schloss, verstummte plötzlich wie auf ein Stichwort die Musik, und die Nacht wurde unheimlich still.

Sie zerrten sich die Nachtsichtgeräte von den Köpfen. Rathbone starrte Lena an. »Was war das gerade?«

Anstelle einer Antwort ließ Lena den Blick verdattert über den Hügel schweifen. Die gesamte Stadt verdüsterte sich. In einer Häuserzeile nach der anderen gingen die Lichter aus, als hätte jemand Dominosteine umgeworfen. Die Welle arbeitete sich auf die Wolkenkratzer in der Innenstadt zu. Als der Library Tower finster wurde, lauschte Lena in die Dunkelheit und zählte die Sekunden, bis eine Sirene das Schweigen durchschnitt. Die erste Alarmanlage in Hollywood, die auf Notstromaggregat lief.

Ein Stromausfall, der zweite innerhalb der letzten beiden Wochen. Laut Auskunft der Elektrizitätswerke waren die Leitungen durch die Weihnachtsbeleuchtung überlastet. Allerdings war das nichts weiter als eine faule Ausrede, denn schließlich benützte um diese Jahreszeit niemand seine Klimaanlage. Die angebliche Überlastung war nur ein Vorwand, um den Bürgern noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen.

Lena drehte sich um und sah zu, wie Rathbone sich eine Zigarette anzündete und den Blick über das Tal schweifen ließ. Die einzigen Lichter in der Stadt waren die der Autoscheinwerfer auf den Straßen, den Lebensadern von Los Angeles. Das Ergebnis war hübsch anzusehen. Rote und weiße Lämpchen funkelten in der schwarzen Nacht und strömten durch Straßen und Freeways wie Blut durch den menschlichen Körper.

Rathbone schnippte Zigarettenasche in die Luft, setzte sich auf die Mauer neben der Terrassenliege und sah Lena an. »Wir müssen weiter leise sprechen«, raunte er. »Die Hälfte der Spielzeuge in deinem Haus ist batteriebetrieben.«

Lena verstand und rückte näher an ihn heran.

»Du hast die Sachen deines Bruders nach oben geräumt«, stellte er fest.

»Schon vor einer Weile.«

»Oben ist alles sauber, Lena. Auch im Bad ist nichts. Solange du die Tür schließt, kannst du reden, so viel du willst, ohne dass dich jemand hört.«

»Danke für die Hilfe, Bob. Und was ist mit dem Erdgeschoss?«

Er zog noch einmal an seiner Zigarette. »Die Typen mögen keine Profis sein, sind aber gut ausgerüstet. Alles Geräte mit hoher Frequenz, weit oberhalb des Kurzwellenradius. Das einzige Billigteil ist das in deinem Telefon. Wenn du selbst gesucht hättest, hättest du es gefunden.«

»Das habe ich ja«, flüsterte sie. »Deshalb habe ich dich angerufen.«

»Und das war auch gut so, denn sie haben ein paar weitere Verbesserungen vorgenommen. Dein Telefon steckt in einer Buchse über dem Tresen. Die Lampe und das Ladegerät für dein Mobiltelefon werden von einem Dreiwegeadapter versorgt. In der Steckdose ist eine Wanze, Lena. Und eine zweite befindet sich im Dreiwegeadapter. Beide sind stark genug, um alles mitzuhören, was in der Küche und im Wohnzimmer gesprochen wird. Sogar hier draußen, wenn die Terrassentür offen wäre.«

Lena steckte die Hände in die Jackentaschen. Die Nachtluft war beißend kalt. Vielleicht lag es an der späten Stunde, vielleicht auch an ihren Erlebnissen des heutigen Tages, dass sie sich merkwürdig unberührt fühlte. Ihr reichte das Wissen, was Klinger hier getrieben und dass ein Mensch wie Rathbone, dem sie vertraute, es herausgefunden hatte. Die Frage nach dem Warum würde sie auf später verschieben.

»Alles in Ordnung?«, zischte er.

»Bestens«, flüsterte sie. »Erzähl weiter.«

»Die andere Seite des Wohnzimmers haben sie genauso verwanzt. Deine Stereoanlage und dein Computer stecken in einer Überspannschutzleiste.«

»Und da ist die Wanze drin.«

Er nickte. »Dazu auch noch eine in der Steckdose selbst. Im Schlafzimmer ist es genau dasselbe. Hinter der Kommode gibt es eine Steckdose und eine weitere neben deinem Bett, in die du den Radiowecker eingestöpselt hast.«

»Also muss ich annehmen, dass sie alles belauschen.«

»Das ist keine Annahme, Lena, sondern eine Tatsache. Sie können jedes Wort hören, das du im Erdgeschoss von dir gibst. Wenn du eine Nadel fallen lassen würdest, wüssten sie, auf welcher Seite des Zimmers es war.«

»Und das Bad?«

Er hielt inne und betrachtete sie. »Du hast die Kamera ja gesehen. Es handelt sich um eine TVC-X9 mit eingebautem Transmitter. In Farbe. Das Signal ist so stark, dass es Decken und Wände in einer Entfernung von bis zu einhundertfünfzig Metern durchdringt. Sogar zehnmal so viel, wenn es von nichts blockiert wird. Es sendet auf einer Privatfrequenz. Deshalb habe ich den Typen auch als Dreckskerl bezeichnet. Die Kamera erfüllt keinen beruflichen Zweck, sondern wurde nur angebracht, weil einer deiner Freunde ein Spanner ist. Vermutlich beobachtet er dich auf seinem Laptop und holt sich dabei einen runter.«

Lena brauchte eine Weile, um sich vorstellen zu können, wie Klinger sie als Wichsvorlage benutzte.

Als sie sich vom Haus abwandte, löste sich das Bild allmählich in Luft auf. Die Stadt unterhalb der Hollywood Hills war noch immer in Dunkelheit gehüllt. Sie beobachtete, wie sich Scheinwerfer und Rücklichter zu Flüssen und Strömen verbanden, die bis zum Horizont reichten. Bis in die pechschwarze Finsternis hinein.

»Warum tun sie dir so was an?«, flüsterte Rathbone.

Lena bemerkte den besorgten Blick ihres Freundes. Die Fragen lagen samt und sonders auf dem Tisch. Nur die Antworten fehlten.

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