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Der King war tot.

Cava blickte hinauf zur Decke, wo Vinny Bings Preisboxergestalt an einem Seil baumelte. Die Heizung hatte sich eingeschaltet, und aus den Düsen in den Deckenbalken strömte warme Luft. Dass der King noch immer sein Fernsehlächeln zu tragen schien, gab der Szene eine ganz besondere Note. Sein offener Mund ließ gelbe Zähne sehen.

Über eine Stunde hatte Cava sich vor dem Autohaus den Arsch abgefroren. Er hatte jede Bewegung des Kings durch die Glasscheibe verfolgt, während dieser für die Nacht seinen Laden abschloss. Wie sich herausstellte, hatte Vinny eine Schwäche für CDs von Frank Sinatra, Popcorn aus der Mikrowelle und gläserweise Bourbon. Außerdem machte es ihm offenbar Spaß, in seinem Kostüm durch den Ausstellungsraum zu tänzeln, Musik zu hören und in den Schreibtischen seiner Mitarbeiter zu wühlen, wenn niemand da war.

Cava hatte ihn abgepasst, als er zur Tür hinausspaziert war. Der King hatte sehr überrascht getan, und die Sache hatte in den ersten fünf oder zehn Minuten gedroht, aus dem Ruder zu laufen, denn der Mann hatte während des Kampfes zugebissen wie ein tollwütiger Hund. Doch nun war alles vorbei. Der King und seine Sendung im Kabelfernsehen würden weit hinten irgendwo im Lokalteil der Zeitung erwähnt werden und bald in Vergessenheit geraten.

Cava betrachtete das Telefon, das er dem Mann abgenommen hatte. Es war mit einer Krone aus Diamanten verziert. Darunter stand »Vinny«, sein Vorname. Wenn man das Telefon aufklappte, erklang ein Liedchen, das Cava zunächst nicht erkannte. Als er endlich wusste, was es war, wünschte er fast, er hätte den Schwachkopf nicht umgebracht. Es handelte sich dabei um die Erkennungsmelodie der Wahl zur Miss America, die früher im Fernsehen übertragen worden war. Das Lied wurde stets zum Schluss der Sendung gespielt, wenn die Siegerin ihr Krönchen erhielt und wie auf ein Stichwort in Tränen ausbrach.

Cava schob den Gedanken beiseite und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte. Nach dreimaligem Läuten hörte er ihre Stimme, die sich mit einem »Hallo« meldete.

»Lena?«, fragte er.

Sie antwortete nicht sofort. Doch er konnte sich ihr Gesicht gut vorstellen. Die Funkwellen schienen ihr Entsetzen zu übertragen.

»Wo sind Sie?«, erkundigte sie sich.

»Frei wie ein Vogel und auf dem Weg ins Paradies, und zwar mit einem billigen Paar Siebenmeilenstiefel. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich hier rausspazieren würde.«

»Sie sind ein Polizistenmörder, Cava.«

»Heißt das, dass unsere Abmachung nicht mehr gilt?«

Wieder hielt sie inne. Und erneut stand ihm ihr Gesicht vor Augen. Ihm gefiel dieses Bild, und er hoffte, dass es mit der Zeit nicht verblassen würde.

»Woher haben Sie diese Nummer?«, wollte sie schließlich wissen.

»Ich habe sie auf Ihrem Display gesehen, als Sie Ihr Telefon aufgeklappt und es abgeschaltet haben.«

»Sie müssen sich stellen, Cava. Glauben Sie mir, es ist Ihre beste Chance zu überleben.«

»Seien Sie still und hören Sie mir zu«, entgegnete er. »Ich rufe aus einem bestimmten Grund an.«

»Und der wäre?«

»Mein Beitrag zur Abmachung und ein seltener Moment geistiger Klarheit. Tremells Kleiner hatte wirklich keine Ahnung von dem Mord. Der Alte hat ihn nur als Lockvogel benutzt, um das Mädchen aus dem Puff zu holen. Der Junge dachte, sein Vater wolle bloß ihren Ruf schädigen, indem er sie als Nutte hinstellt.«

Wieder Schweigen. Cava glaubte, im Hintergrund Verkehrslärm zu hören. Offenbar saß sie im Auto.

»Und jetzt deckt er seinen Vater«, erwiderte sie.

»Das würden die meisten Söhne tun. Aber von dem Mord hat er nichts geahnt.«

»Was sonst noch?«

Der Schatten des Kings glitt über das Schlüsselbrett an der Wand. Cava folgte ihm mit Blicken und studierte die Beschriftungen an den Schlüsseln. Er konnte sich jedes beliebige Auto auf dem Hof aussuchen. Heute war kostenloses Autofahren angesagt.

»Ich rufe deshalb an, weil Sie etwas übersehen haben«, sprach er weiter.

»Was denn?«

»Ein Puzzleteilchen. Es ist Ihnen durch die Lappen gegangen, obwohl es wichtig ist.«

»Was ist?«

Er schwieg eine Weile und überlegte. »Das überlasse ich Ihnen«, meinte er dann. »Ich habe Ihre Nummer. Wenn ich im Paradies bin, melde ich mich.«

Er klappte das Telefon zu und steckte es ein. Dann musterte er das Schlüsselbrett und entschied sich wieder für einen SRX Crossover. Auf dem Weg zur Tür drehte er sich noch ein letztes Mal um und warf einen Blick auf Vinny Bing, den Cadillac-King, der ihn von der Decke aus gespenstisch anlächelte.

»Nur nicht hängen lassen«, meinte er.

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