38
Als Erstes musste Lena sich setzen. Bloom wies auf den Küchentisch, aber ihr wäre jeder Raum im Haus recht gewesen. Sie brauchte einige Zeit, um sich wieder zu fassen, ihre Gedanken zu ordnen und die neuen Entwicklungen emotional zu verarbeiten.
Sie war nicht tot. Sie war nicht in der Wüste hingerichtet und in einem flachen Grab als Futter für die Kojoten zurückgelassen worden. Außerdem wusste sie inzwischen mehr. Jane Doe Nr. 99 war nicht länger eine Unbekannte, die unter der gestohlenen Identität von Jennifer McBride lebte.
Sie war Mike Blooms Schwester gewesen. Auf der Rückfahrt zum Haus hatte er Lena ihren wirklichen Namen verraten: Jennifer Bloom.
Lena sah zu, wie Bloom zwei Tassen Kaffee einschenkte und sich zu ihr an den Tisch setzte. Er wirkte zwar noch immer traurig, aber nicht länger bedrohlich. Selbst seine Stimme hatte sich verändert.
»Ich hielt es für wichtig, dass sie ihren Vornamen behält«, begann er. »Schließlich durfte sie sich nicht verplappern.«
»Soll das heißen, dass Sie ihr die neue Identität verschafft haben?«
Er zuckte mit den Achseln. »Als ehemaliger Polizist hatte ich Zugriff auf die Informationen, die sie brauchte, und konnte sie richtig einsetzen. Allerdings dauerte es einige Zeit, eine Frau mit demselben Vornamen zu finden. Nach einer Weile stieß ich dann auf Jennifer McBride, hatte aber ein ungutes Gefühl dabei, weil das Mädchen bei einem Banküberfall erschossen worden war. Doch da sonst alles passte, haben wir uns für sie entschieden. Dass die beiden sich nicht ähnlich sahen, betrachtete ich als Vorteil. Außerdem war alles über McBrides Vergangenheit im Internet nachzulesen, was die Sache sehr erleichterte, weil wir die neue Identität so mit jeder Menge Details anreichern konnten.«
»Was ist mit dem Führerschein Ihrer Schwester? Laut Zulassungsstelle ist er echt. Als wir McBrides Namen durch den Computer laufen ließen, stand nirgendwo, dass sie verstorben ist.«
»Ich hielt es für wichtig, dass meine Schwester einen Ausweis hatte, der über alle Zweifel erhaben war. Ein Freund von mir arbeitet bei der Zulassungsstelle und hat sich bereit erklärt, McBrides Lebensgeschichte für mich zu überarbeiten. Er hat ein paar Daten gelöscht. Dann ist Jennifer in ein Büro der Zulassungsstelle gegangen. Man hat sie fotografiert und ihr die Theorieprüfung abgenommen, und sie ist wieder hinausspaziert.«
Lena lehnte sich zurück. Ihr brummte der Schädel. Sie blickte sich in dem Haus um, das ähnlich großzügig geschnitten war wie ihr eigenes in den Hügeln von Hollywood. Die vielen Bilder an den Wänden und die vollen Bücherregale im Wohnzimmer überraschten sie.
»Ich muss mich entschuldigen«, flüsterte Bloom. »Dafür, wie ich vorhin mit Ihnen gesprochen habe und wie ich mit Ihnen umgesprungen bin. Ich wusste nicht, was gespielt wurde, und wollte mich vergewissern, dass Sie keine Bedrohung für mich darstellen.«
Mit bemüht ruhiger Hand trank Lena einen Schluck Kaffee. Dann zog Bloom sein Mobiltelefon heraus und zeigte ihr das Foto, das er von ihr gemacht hatte, während sie ihr eigenes Grab schaufelte. Anschließend klickte er zu einem anderen Foto, das ihm offenbar von jemandem, der sie überprüft hatte, gesendet worden war. Lena dankte im Geist dem Erfinder des Mobiltelefons, denn das von Bloom hatte ihr das Leben gerettet.
Sie musterte den Mann, seine braunen Augen, seine sonnengebräunte Haut und seinen Gesichtsausdruck, den sie noch vor einer knappen halben Stunde als Wahnsinn missdeutet hatte.
»Es bleibt die Frage nach dem Warum«, meinte sie. »Warum haben Sie all das veranstaltet?«
Bloom überlegte. »Wenn Sie Jennifer je kennengelernt hätten, wüssten Sie es. Aber ich glaube, die Antwort ist, dass sie früher verheiratet war. Sie hat den Typen geliebt, und ich hatte ihn auch sehr gern. Er war bei mir, als ich mein Bein verlor. Er hat noch mehr verloren. Und sie auch.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Jennifer Bloom war also Kriegswitwe gewesen.
»Es hat sie schwer getroffen«, fuhr Bloom fort. »Doch sie hatte einen starken Willen und war kein Mensch, der sich so leicht unterkriegen lässt. Wenn sie einen Raum betrat, begann alles zu strahlen. Nach einiger Zeit war sie darüber hinweg und wollte ein neues Leben anfangen.«
»Weshalb musste sie dann McBrides Identität stehlen?«
»Folgen Sie mir.«
Bloom ging durchs Wohnzimmer voran ins obere Stockwerk. Auf dem Weg den Flur entlang merkte Lena ihm an, dass ihm sein Bein wieder zu schaffen machte. An der Zimmertür am Ende des Flurs trat Bloom beiseite. Es war kein Schlafzimmer, sondern ein Kinderzimmer.
»Den Tod ihres Mannes hat sie verwunden«, erklärte Bloom. »Aber dieser Schlag war zu viel für sie. Ich glaube, keine Mutter kann den Tod eines Kindes verkraften.«
Lena fühlte sich, als schwanke der Boden unter ihren Füßen. Die Luft knisterte. Sie betrachtete die Wiege, den Wickeltisch und das Mobile am Fenster. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Jennifer Bloom hatte wegen ihrer Schilddrüsenprobleme Dr. Ryan aufgesucht. Dr. Ryan nahm an, dass ihre Patientin schwanger gewesen war, das Kind jedoch nicht ausgetragen hatte, weil sie nicht darüber sprechen wollte.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Bloom von der Schwelle aus.
Lena schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie mir, was geschehen ist.«
Er kam ins Zimmer und hinkte zu einer Kommode hinüber. Lenas Blick fiel auf das gerahmte Foto, das Jennifer mit ihrem Mann und ihrem Baby darstellte. Offenbar war es im Garten vor der Windmühle aufgenommen worden. Drei Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten, festgehalten in einem Moment, in dem ihnen die Zukunft rosig erschien.
»Sie hatte einen Sohn«, fuhr Bloom fort. »Einen kleinen Jungen, erst anderthalb Jahre alt. Allerdings war er nicht ganz gesund. Er litt an Asthma, wenn auch nicht immer. Die Anfälle kamen nur gelegentlich, waren aber ziemlich beängstigend.«
Offenbar bereitete es Bloom Mühe, darüber zu sprechen und sich daran zu erinnern. Er schwieg eine Weile, griff dann nach einer Plastiktüte, die auf der Kommode lag, und reichte sie Lena.
»Diese Medikamente hat der Arzt verschrieben. Der Kleine starb etwa zwanzig Minuten nachdem seine Mutter sie ihm gegeben hatte. Eine Minute hat er noch geatmet, in der nächsten war er tot. Vermutlich hatten viele Kinder das gleiche Pech. Das Medikament wurde vom Markt genommen, obwohl sie sich damit Zeit gelassen haben. Die Arzneimittelbehörde ermittelt noch.«
Lena bemerkte den Inhalator und die Atemmaske in Kindergröße auf der Kommode. Dann untersuchte sie die Medikamente in der Tüte. Als sie die Etikette las, fühlte sie sich, als stünde sie wieder vor ihrem offenen Grab in der Wüste. So als hielte Bloom noch die Waffe in der Hand und hätte gerade abgedrückt. Das Medikament stammte aus der Produktion von Anders Dahl Pharma. Im Kleingedruckten war sogar Dean Tremells Name vermerkt.
Jennifer Bloom war niemals Nutte gewesen, sondern eine besorgte Mutter und wie ihr Mann einen Heldentod gestorben. Inzwischen fing der Fall an, radioaktiv zu strahlen.