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Es war halb sechs Uhr morgens. Lena nahm das Mobiltelefon von der Ladestation, betrachtete die Anzeige und rechnete mit dem Schlimmsten. Um diese unchristliche Zeit waren normalerweise keine guten Nachrichten zu erwarten. Verdattert las sie Irving Samples Namen. Sample saß offenbar an seinem Schreibtisch in der Abteilung für Urkundenfälschung im Parker Center. Entweder war er sehr früh zur Arbeit gefahren oder hatte wie Lena gar nicht geschlafen.
Sie klappte das Telefon auf und zog sich einen Hocker an den Tresen. Es interessierte sie nicht mehr, dass jemand lauschen könnte. Als sie vor zwei Stunden nach draußen gegangen war, hatte sie den Caprice davonfahren hören. Da ihre Karriere bei der Mordkommission ohnehin vorbei war, lohnte es sich anscheinend nicht mehr, sie zu überwachen.
»Ich habe die Antwort gefunden«, verkündete Sample.
»Die Antwort worauf?«
»Es geht um die Formulare, die das Opfer in der Arztpraxis ausgefüllt hat. Ich kenne die Lösung des Rätsels. Jetzt weiß ich, warum sie sich bei der ersten Seite so beeilt hat und bei der zweiten langsamer wurde. Es hat zwar eine Weile gedauert, aber ich bin dahintergekommen. Sie sehen keine Gespenster, Lena, sondern sind auf etwas gestoßen, das außer Ihnen niemandem aufgefallen ist.«
Sample sprach sehr schnell. Lena merkte ihm an, wie aufgeregt er war.
»Gut«, erwiderte sie. »Dann also raus mit der Sprache. Warum hat Jennifer McBride sich anfangs gehetzt und dann herumgetrödelt?«
Sample lachte auf. »Das hat sie gar nicht«, entgegnete er. »Auf der ersten Seite hat sie sich verschrieben und den Text durchgestrichen. Als sie mit der zweiten Seite fertig war, hat sie um eine weitere Kopie der ersten gebeten und sie zum zweiten Mal ausgefüllt. Sie hat sich genauso verhalten, wie Sie gesagt haben, also der menschlichen Natur entsprechend. Anfangs hat sie langsam geschrieben und ist gegen Ende schneller geworden.«
»Soll das heißen, dass zwei Versionen der ersten Seite existieren?«
»Genau. Und der Stift, den sie benutzt hat, hat auf der zweiten Seite Abdrücke von beiden hinterlassen.«
»Was hat sie durchgestrichen?«
»Eine Telefonnummer. Die, die man für den Notfall angeben muss.«
Lena nahm einen Stift vom Tresen. »Wie lautet die Nummer?«, stieß sie mühsam hervor.
Sample diktierte sie ihr. Nachdem er fertig war, las Lena sie sicherheitshalber noch einmal laut vor.
»Richtig«, stellte er fest. »Und die Vorwahl ist die von Las Vegas.«
»Ja«, stammelte Lena. »Vegas.«
»Dann ist es also wichtig. Ich war nicht sicher.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Es ist nicht mein Verdienst, Lena, sondern Ihrer. Ich freue mich, dass ich Ihnen helfen konnte.«
Lena klappte das Telefon zu und starrte auf die Nummer. Nun hatte sie ein klares Bild von den Abläufen vor sich. Die Frau, die sich als Jennifer McBride ausgab, litt an Schilddrüsenproblemen und musste zum Arzt. Nach dem Ausfüllen der Formulare hatte sie sie sicher noch einmal überprüft, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich die richtigen Kontaktdaten der echten Jennifer McBride angegeben hatte. Dabei hatte sie die Telefonnummer aus Las Vegas bemerkt, erkannt, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und das Ganze durchgestrichen.
Allerdings musste die Nummer für sie eine besondere Bedeutung gehabt haben. Eine andere Erklärung gab es nicht, warum sie eigens um ein neues Formular gebeten oder sich überhaupt verschrieben hatte. Offenbar hatte die Frau, die in Jennifer McBrides Identität geschlüpft war, doch Freunde oder Angehörige.
Lena dachte an die Schneekugel neben dem Bett des Opfers. Schnee, der auf Las Vegas fiel. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich weder um ein Geschenk noch um ein Souvenir, sondern um ein Erinnerungsstück. Und die Chancen standen hoch, dass es etwas mit ihrem Zuhause zu tun hatte.
Sie drehte sich um und blickte aus dem Fenster. Die Sonne war noch hinter dem Horizont verborgen, die Stadt lag weiterhin unter einer Dunstglocke. Dennoch wählte sie die Nummer, hielt das Mobiltelefon ans Ohr und lauschte. Nach dreimal läuten meldete sich ein Mann mit »Hallo«. Seine Stimme klang leise und mürrisch, allerdings nicht schlaftrunken. Anscheinend war er trotz der frühen Stunde bereits wach gewesen.
»Ich suche Jennifer McBride«, sagte Lena.
Sein Zögern war verräterisch. »Wen?«, gab er schließlich zurück.
»Jennifer McBride.«
Wieder verging eine Weile. Als der Mann wieder das Wort ergriff, hörte sie, dass etwas in seinem Tonfall mitschwang. Offenbar hatte sie einen Nerv getroffen.
»Tut mir leid«, erwiderte er. »Hier gibt es niemanden, der so heißt. Sie haben sich bestimmt verwählt.«
Der Mann legte auf. Lena ging zu dem Tisch am Fenster, wo der Computer bereits im Netz war. Lena klickte das Symbol für AutoTrack an und gab ihren Benutzernamen und ihr Passwort ein. Als sich das Suchfenster öffnete, tippte sie die Telefonnummer ein und drückte auf Enter. Sofort erschien der Name eines Mannes auf dem Bildschirm. Mike Bloom, wohnhaft in Las Vegas, Nevada.
Lena notierte sich die Adresse und las dann die weiteren Informationen zu seiner Person. Bis vor vier Jahren war Bloom Detective bei der Polizei von Las Vegas gewesen. Mit seinen erst dreißig Jahren konnte er noch nicht im Ruhestand sein. Und da sie gerade selbst mit ihm gesprochen hatte, wusste sie, dass er noch lebte. Obwohl seine sämtlichen Arbeitsstellen, Adressen und Telefonnummern hier aufgelistet waren, erfuhr man erstaunlich wenig über ihn. Bis vor vier Jahren waren alle Daten des Mannes fein säuberlich aufgeführt – bis sein Leben von einem Tag auf den anderen plötzlich abgebrochen zu sein schien. Mit Ausnahme der Tatsache, dass ein Ford F-i 50 Pickup auf seinen Namen zugelassen war, herrschte völlige Funkstille.
Sie studierte Blooms Lebensgeschichte ein zweites Mal und überlegte. Ihn noch einmal anzurufen ergab wenig Sinn, und sie hatte auch nur wenig Lust, sich an die Polizei von Las Vegas zu wenden. Nach den Geschehnissen von gestern Abend wollte sie dem Mann keine Angst einjagen oder ihn möglicherweise warnen, auch wenn die Informationen über seine letzten vier Lebensjahre in etwa so aufschlussreich waren wie ein schwarzes Loch im All.
Lena öffnete den Schrank unter dem Bücherregal, in dem sich verschiedene Formulare der Polizei von Los Angeles befanden, damit sie auch von zu Hause aus arbeiten konnte. Hauptsächlich handelte es sich um die Formblätter, aus denen sich eine Mordakte zusammensetzte. Doch nun suchte sie eine ganz bestimmte Genehmigung, die sie brauchte, um mit einer Schusswaffe die Sicherheitskontrolle am Flughafen passieren zu können. Von Burbank bis nach Las Vegas war es mit dem Flugzeug nur eine Stunde. Nach einer Woche hatte sie nun endlich einen Hinweis darauf, wer das Mordopfer wirklich gewesen war. Einen echten Namen für eine tote Frau.