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Mit einem entnervten Aufstöhnen warf sie einen Blick auf den Bildschirm ihres iPhones. Es war Punkt 22:17, genau drei Minuten und einundzwanzig Sekunden, seit sie das letzte Mal nachgesehen hatte. Leider wusste sie nicht mehr, wen sie sonst anrufen sollte. Auf ihrer Schnellwahlliste waren alle Namen abgehakt.

Allmählich wurde ihr die Warterei zu dumm. Es war schon spät und machte ganz den Eindruck, dass sie die heutige Nacht vergessen konnte. Ein totaler Reinfall, während alle ihre Freunde einen draufmachten.

Sie holte tief Luft, atmete aus und betrachtete, wie der Dampf die Windschutzscheibe beschlug. Die kalte Nachtluft ließ sie frieren. Es war Mitte Dezember in Los Angeles. Zwölf Tage vor Weihnachten. Letzte Woche hatte es in Malibu doch tatsächlich geschneit, das hatte sie in den Nachrichten gesehen. Kinder waren auf Pappkartons die Hügel hinuntergerodelt. Schneemänner ließen den Blick über die Santa Monica Bay schweifen. Es war, als stünde die ganze Welt Kopf, aber darüber verlor niemand im Fernsehen auch nur ein Wort.

Sie verscheuchte den Gedanken, nahm den Schlüssel vom Armaturenbrett und schaltete den Motor an. Nachdem sie die Heizungsdüsen überprüft hatte, stellte sie den Fahrersitz ein und versuchte, sich zu entspannen. Als die angelaufene Windschutzscheibe wieder klar wurde, konnte sie das Motel und das Restaurant jenseits des Müllcontainers auf der anderen Seite des Parkplatzes sehen.

Sie betrachtete die Mädchen in ihren durchsichtigen Oberteilen, die in dem Lokal aus und ein gingen, und die Männer, die sie unverhohlen und hungrig begafften, als wären sie wieder kleine Jungen, die auf Pappkartons Schlitten fuhren. Gedämpftes Gelächter wurde vom Wind herangetragen und brach sich am Wagen. Als ihr der Geruch eines Holzfeuers in die Nase stieg, wanderte ihr Blick hinauf zum Dach des Gebäudes. Am Kamin prangte ein Hahn aus Neonröhren. Cock-A-Doodle-Doo, Die besten Hühnchen in L.A., verkündete eine zweite Neonreklame.

Sie musste kichern, brach jedoch schlagartig ab, weil zwei Männer sie anstarrten. Die beiden lehnten an einem Geländer vor dem Restaurant, rauchten und pflückten sich Hähnchenreste aus den Zähnen. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu merken, dass sie sie begutachteten, denn schließlich war das hier das Cock-a-doodle-do. Ihre Mägen waren voll, und nun war es Zeit für den Nachtisch. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie, mit welcher Sorte von Kerlen sie es zu tun hatte. Sie duckte sich in den Schatten und betrachtete die Unterschichtgesichter der zwei, die faltigen Stirnen, die tiefen Runzeln um ihre Augen, und die Billigklamotten, die es bei Wal-Mart in Gang sieben gab. Gerne hätte sie sie angeschnauzt, sie sollten aufhören, sie anzuglotzen. Diese Typen sollten kapieren, dass sie es nicht mit Fernfahrern und anderen Verlierern trieb, sondern nur mit Ärzten, Anwälten, Filmschauspielern und Agenten. Aber sie schwieg. Stattdessen öffnete sie ihr Fenster einen Spalt weit, kramte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Als sie wieder aufblickte, hatten sich zwei Blondinen an die beiden Versager herangemacht, und alle vier schienen in bester Stimmung.

Zeit, um ein bisschen nett zueinander zu sein. Zeit zum Feiern und für den Nachtisch. Die besten Hühnchen in L.A.

Sie schaute ihnen nach, als sie das Motel betraten, und hörte die Tür zuknallen. Ein Wunder, dass es so etwas wie das Cock-a-doodle-do überhaupt gab. Nichts lief im Verborgenen ab, und selbst ein Blinder mit Krückstock hätte auf Anhieb erkannt, was das hier für ein Laden war. Sie saß nun schätzungsweise schon seit einer halben Stunde hier. Zwei Bullenwagen waren vorbeigefahren. Einer war sogar in den Parkplatz eingebogen und hatte mit laufendem Motor gewartet, während einer der beiden Polizisten ins Lokal lief, um etwas Essbares zum Mitnehmen zu holen.

Alles nur eine Geldfrage, dachte sie. Ohne Moos nichts los. Man brauchte nur die richtigen Leute zu schmieren, die Hähnchen einzukaufen und sie zu grillen. Und dann war noch eine kleine Dreingabe für besagten Nachtisch fällig.

Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette und achtete darauf, den Qualm aus dem Fenster zu pusten. Dabei hoffte sie, dass es keinen Ärger geben würde, weil sie zum Rauchen nicht ausgestiegen war. Im nächsten Moment hörte sie einen Geländewagen und roch seine Abgase. Als die Nebelscheinwerfer durch das Wageninnere schweiften, kniff sie die Augen zusammen.

Es war ein grellroter Hummer oder vielleicht sogar ein Land Rover. Wegen des grellen Lichts konnte sie das nicht genau feststellen. Aber eigentlich war die Farbe egal. Sie verabscheute Geländewagen grundsätzlich, und dasselbe galt für die Idioten, die darin herumkurvten. Wenn sie jetzt auf dem Freeway gewesen wäre und so ein Arschloch bemerkt hätte, hätte sie ihm mit dem größten Vergnügen den Stinkefinger gezeigt.

Die verdammten Geländewagen waren nämlich schuld daran, dass es in Malibu jetzt schneite.

Sie lauschte, als die überdimensionalen Reifen knirschend über den Kies rollten. Das Ungetüm fuhr weiter und parkte irgendwo hinter ihr ein. Die Scheinwerfer gingen aus, und der spritdurstige Motor verstummte. Sie hörte, wie jemand »Jingle Bells« sang, eine leise, heisere Stimme, die die Hintergrundgeräusche übertönte. Nach einer Weile öffnete sich die Wagentür, und ein Mann stieg aus. Allerdings hatte er nicht viel Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann.

Offen gestanden war er sogar recht attraktiv, ja, beinahe niedlich, schätzungsweise knapp eins achtzig groß mit kurzem blondem Haar. Außerdem war er für ihren Geschmack etwa im richtigen Alter. Mitte bis Ende dreißig, also kein Milchbubi mehr. Doch am besten gefiel ihr, dass er trotz der kalten Nacht keine Jacke trug, sondern nur Jeans und ein T-Shirt. Sie sah seine Muskeln, als er eine Büchertasche schulterte. Seinen straffen Bauch, die kräftigen Beine und die glatte, sonnengebräunte Haut. Je länger sie ihn betrachtete, desto mehr erinnerte er sie an einen Schauspieler, dessen Namen sie vergessen hatte. Irgendeinen Fernsehstar, der in eine Sackgasse geraten und in einem Kabelsender wieder aufgetaucht war.

Auch Wiederholungen brachten Geld.

Sie zog an der Zigarette und schnippte die Asche aus dem Fenster. Offenbar hatte der Mann sie bemerkt, denn er sah in ihre Richtung und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. Wegen der Dunkelheit konnte sie zwar die Farbe seiner Augen nicht erkennen, stellte aber fest, dass sie funkelten. Noch ehe sie ihm zuwinken konnte, drehte er sich um, überquerte den Parkplatz und eilte auf das Cock-a-doodle-do zu.

Ganz bestimmt kein Arzt, dachte sie. Und die Anwälte, die sie bis jetzt kennen gelernt hatte, sahen auch anders aus. Vielleicht war er auch kein richtiger Schauspieler. Doch sie fand ihn scharf. Absolut scharf.

Wieder schaute sie auf die Uhr, obwohl es sie eigentlich nicht mehr interessierte. Sie griff nach ihrem iPhone, stöpselte die Ohrhörer ein und klickte sich durchs Menü. Am späten Nachmittag hatte sie den Titelsong der neuen CD von den End Brothers mit dem Titel U All In? heruntergeladen. Als sie ihn gefunden hatte, drückte sie auf Play, hörte die Stimme von 187 und steckte das Gerät in die Tasche. Danach wedelte sie sich den Rauch aus dem Gesicht und stieg aus, um die Zigarette draußen zu Ende zu rauchen. Vielleicht würde sie sich ja noch eine genehmigen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass das Auto anschließend nach Qualm stinken könnte.

U all in, pretty woman
U all in, little darling.
That’s right baby, u all in,
‘Cause u cheated on your daddy,
And now u done.

 

Sie lauschte, als XYZ, der Bruder von 187, zu singen begann, und dachte daran, wie die Band es ganz nach oben in die Hip-Hop-Hitparade geschafft hatte. Nach einem letzten Zug an der Zigarette, drückte sie den Stummel am Müllcontainer aus, warf ihn hinein, nahm einen Kaugummi aus der Tasche und versenkte das Einwickelpapier ebenfalls im Container.

In diesem Moment bemerkte sie ihn.

Den Mann, der nicht der Weihnachtsmann war. Vermutlich auch kein Arzt oder Anwalt, ja, nicht einmal ein Schauspieler der von den Tantiemen seiner Wiederholungen lebte. Den scharfen Typen mit dem kurzen blonden Haar, der »Jingle Bells« singend aus seinem dämlichen roten Geländewagen gestiegen war.

Er versteckte sich im Schatten, und zwar ganz in der Nähe. Offenbar hatte er sich zwischen den Reihen geparkter Autos zurückgeschlichen, während sie ihm den Rücken zukehrte. Nun konnte sie seine Augenfarbe erkennen: leuchtend blau, eiskalt und böse. Noch schlimmer war, dass er etwas in der Hand hatte, das er nun auf sie richtete. Zuerst hielt sie es für eine Wasserpistole. Doch als er abdrückte, schossen zwei Haken durch die Luft direkt auf sie zu. Sie stellte fest, dass sie sich in ihren Pullover bohrten. Die Haken erinnerten an Angelhaken und waren mit Drähten versehen, die ihren Körper mit der Waffe verbanden. Angst ergriff sie. Verdattert und voller Panik, blieb sie wie angewurzelt stehen, blickte mit klopfendem Herzen über den Parkplatz und hielt vor dem Cock-a-doodle-do Ausschau nach Hilfe.

Aber sie waren allein. Ganz allein. Alle waren mit ihrem Nachtisch beschäftigt.

Der Mann fing zu lachen an. Plötzlich durchfuhr sie ein scharfer Schmerz. Ein Schlag. Der Stromstoß. Ein Blitz, der sich anfühlte, als würde ihr Körper entzweigerissen.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie bäuchlings auf dem Boden. Der Mann wälzte sie auf den Rücken wie ein überfahrenes Tier. Sie konnte sich weder bewegen noch klar denken. Ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühte – und sie mobilisierte wirklich all ihre Kräfte –, gelang es ihr nicht zu schreien. Sie wusste nicht einmal mehr, wo sie sich befand.

Sie hob den Blick und glaubte ein Flugzeug zu erkennen, das im nachtschwarzen Himmel sein Fahrwerk ausklappte. Sie schaute an sich herunter und bemerkte, dass die Angelhaken noch immer in ihrem Pullover steckten. Die Drähte hatten sich mit den Kabeln ihres iPhones verheddert. Der Mann mit der Waffe starrte aus toten Augen zu ihr herunter. Er sagte etwas, das sie wegen der Ohrhörer nicht verstehen konnte. Doch aus seinem Gesichtsausdruck schloss sie, dass es gewiss nichts Angenehmes war. Dann drückte er wieder ab, und sie spürte, wie ein zweiter Stromstoß durch ihren geschundenen Körper und ihre blank liegenden Nerven fuhr.

Während sie langsam wieder zu Bewusstsein kam, sah sie, dass der Mann ihre Handtasche in den Müllcontainer warf. Er hob sie auf und verfrachtete sie unsanft auf den Rücksitz seines Geländewagens, doch sie konnte nichts spüren. Nicht einmal die Todesangst, die ihr vom Magen in die Brust stieg.

Im nächsten Moment begann der Geländewagen wieder, den Kies aufzuwühlen. Der Mann fuhr mit ihr weg. Sie spähte durch das Fenster auf den Parkplatz, konnte aber nicht allzu viel wahrnehmen. Kurz hatte sie den Eindruck, dass jemand im Schatten zwischen den Autos stand. Wenn die Person Hilfe holen wollte, kam sie etwa zehn bis fünfzehn Minuten zu spät. Aber vielleicht hatte sie sich ja auch geirrt und machte sich falsche Hoffnungen. Es konnte genauso gut ein Traum oder ein Phantom sein, hervorgebracht von dem Stromstoß in ihrem Körper, der alles abgetötet hatte.

Der Mann auf dem Vordersitz drehte sich lächelnd zu ihr um, sagte jedoch nichts, als er den Parkplatz verließ. Als sie spürte, wie der Wagen beschleunigte, wanderte ihr Blick rückwärts aus dem Fenster. Sie konnte den Neon-Hahn auf dem Dach sehen. Das Cock-a-doodle-do verschwand in der Nacht. Wieder klappte ein Flugzeug sein Fahrwerk aus.

Bald wurde es schwarz vor dem Fenster. Sie versuchte auszublenden, was gerade geschah, und durch die Musik Kraft zu schöpfen. Wenn es ihr gelang, sich zusammenzunehmen und sich wieder zu bewegen, konnte sie die Polizei anrufen. Oder sogar die Tür öffnen und aus dem Wagen springen.

Also lauschte sie der Musik und zwang sich, sich zu konzentrieren. Sie wusste, dass der Sänger mit bürgerlichem Namen Derek Williams hieß, sich aber 187 nannte. Sein Bruder Bobby ließ sich mit XYZ ansprechen. Ihr gefielen die Stimmen der beiden. Und zwar sehr. Doch nach etwa anderthalb Kilometern Fahrt hörte 187 zu singen auf. Das Lied war zu Ende, und die Musik verstummte …

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