26
Ganz ruhig bleiben. Das riecht nach gewaltigem Ärger.
Lena zündete sich eine Zigarette an und kurbelte das Fenster herunter. Im Radio lief KFWB, aber sie hörte nicht richtig hin, sondern starrte stattdessen durch die Windschutzscheibe. Ihr Wagen stand mit laufendem Motor in dem heruntergekommenen Parkhaus gegenüber dem Parker Center. Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette in der Hoffnung, dass das Nikotin ihre Nerven beruhigen würde. Doch es genügte nicht – bei weitem nicht. Sie sah Polizeichef Logan und Klinger aus dem Gebäude kommen. Der Wagen mit Chauffeur erwartete sie bereits in der für die Chefetage reservierten Parklücke neben der Tür. Beide Männer lachten.
Ganz ruhig bleiben. Das riecht nach gewaltigem Ärger.
Lena blickte ihnen nach, als sie davonfuhren, und dachte daran, was sie heute hatte wegstecken müssen. Die Vorwürfe hatten sie getroffen wie Schläge in die Magengrube, sodass ihr immer noch schwindelte. Offenbar konnte sie ihre Karriere tatsächlich vergessen.
Sie schnippte die Asche aus dem Fenster. Im nächsten Moment bemerkte sie einen Lincoln, der in der den Mitgliedern der Polizeikommission vorbehaltenen Parklücke stoppte. Sentator Alan West stieg aus und ging zu dem Polizisten im Wachhäuschen hinüber. Offenbar zeigte der Senator dem Kollegen die Anstecknadel an seinem Revers. Das goldene Feuerwehrauto, das ihm nach den Anschlägen vom 11. September von der Feuerwehr von Los Angeles verliehen worden war. Während Lena die Szene beobachtete, erinnerte sie sich an seine Worte bei ihrer Begegnung vor einer knappen Woche, als er ihr ebenfalls die Anstecknadel gezeigt hatte.
Wir sind hier in Los Angeles. Polizeichefs kommen und gehen. Wenn ich etwas für Sie tun kann, werde ich mein Bestes versuchen.
Lena griff in ihre Tasche. Wests Visitenkarte befand sich noch daran. Sie betrachtete sie. Dann drehte sie sich um und sah zu, wie er den Parkplatz überquerte und durch die Tür im Gebäude verschwand.
Sie war absolut sicher, dass es zwecklos war, sich an West zu wenden, wenn sie weiterhin irgendwo im näheren Umkreis von Los Angeles als Detective arbeiten wollte. Es war beruflicher Selbstmord, Kontakt mit West aufzunehmen. Er mochte ein aufrichtiger Mensch sein, und es gefiel ihr, dass er sein Auto selbst steuerte. Aber er gehörte wie alle anderen Mitglieder der Kommission nicht zum Club. Falls sie einen Außenstehenden um Hilfe bat, würde sie sich endgültig das Vertrauen der Kollegen verscherzen. Alle würden ihr die kalte Schulter zeigen. Dabei spielte es nicht die geringste Rolle, ob sie im Recht war oder nicht. Dafür konnte sie sich nichts kaufen. Denn wenn es hart auf hart ging, würde man sie im Regen stehen lassen.
Ihr Mobiltelefon vibrierte. Als auf der Anzeige Lieutenant Barreras Name erschien, klappte sie es auf.
»Alles in Ordnung, Lena?«
»Seit wann verfolgen wir keine Spuren mehr?«, entgegnete sie. »Offenbar habe ich da eine Dienstanweisung verpasst.«
Barrera schwieg eine Weile. Da es im Hintergrund still war, nahm sie an, dass er bei geschlossener Tür im Büro des Captains saß.
»Da ist etwas im Busch«, meinte er schließlich. »Diesen Verdacht hatte ich ja schon letzte Woche. Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen erklären, was es ist.«
»Die Antwort ist doch ganz einfach«, erwiderte sie. »Sie suchen nach einer Möglichkeit, Tremell junior ungeschoren davonkommen zu lassen. Wie hat der Polizeichef es ausgedrückt? Schließlich hat die Kleine mit ihrem schmutzigen Finger auf Justin Tremell gezeigt. Ihr Finger ist nicht schmutzig, Frank. Außerdem haben wir mehr als nur diese eine Augenzeugin. Vier weitere Personen bestätigen, dass er am fraglichen Abend mit dem Opfer zusammen war.«
»Das sagten Sie bereits, und das Absurde daran ist, dass der Polizeichef es ebenfalls weiß. Nach unserem Gespräch am Samstagabend habe ich ihn angerufen und ihn über alles in Kenntnis gesetzt. Es ist schlicht und ergreifend eine Schande. Der Kerl hat Dreck am Stecken, und die ganze Sache stinkt zum Himmel. Kopf hoch. Lassen Sie sich davon nicht unterkriegen.«
»Und was passiert jetzt?«
»Schicken Sie ihn zum Teufel, Lena. Das passiert jetzt. Sie sind Polizistin. Tun Sie Ihre Pflicht.«
Lena hielt den Hörer weg vom Ohr – Barrera hatte die Stimme erhoben. Sie schaltete auf Raumlautsprecher und senkte die Lautstärke. Noch nie hatte sie ihn so aufgebracht erlebt, und sie vermutete, dass die Besprechung ihn ebenso mitgenommen hatte wie sie. Vielleicht hatte es ihn sogar noch schlimmer getroffen, denn er war dazu verdonnert gewesen, zu schweigen und zu bleiben, nachdem sie hinausgeschickt worden war. Barrera war ein anständiger Mensch, der seine Laufbahn wie jeder Polizist in einem Streifenwagen begonnen hatte. Er war durch eigene Leistung aufgestiegen und schon lange vor seiner Beförderung zum Lieutenant in der Mordkommission tätig gewesen – und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem Polizeichef Logan noch nicht im Traum daran gedacht hatte, nach Los Angeles zu ziehen und hier die Leitung zu übernehmen. Barrera genoss die Unterstützung und den Respekt all seiner Untergebenen. Und jeder in der Abteilung wusste, wie sehr er Intrigenspiele verabscheute. Doch nun hatte der Polizeichef eine Grenze überschritten. Er und der Staatsanwalt verstießen gegen eine Grundregel.
»Halten Sie sich an die Beweise«, fuhr Barrera mit fester Stimme fort. »Es ist mir ganz egal, wohin die Spur führt und wer dran glauben muss. Sie wissen doch, was ein >Groucho< ist, Lena.«
Damit meinte er die Körperhaltung, die Sondereinsatzkommandos beim Stürmen eines Tatorts einnahmen: mit gebeugten Knien und geradem Rücken, damit sie beim Gehen mit ihren Gewehren zielen und schießen konnten. Da diese Position an den Watschelgang des Komikers Groucho Marx in alten Filmen erinnerte, wurde dieses Manöver oft als >Groucho< bezeichnet.
»Schon davon gehört«, antwortete sie.
»Dann halten Sie sich dran. Immer schön geduckt bleiben und weitergehen. Nach der Szene von gerade eben wäre es wohl das Beste, wenn Sie den Tag freinehmen und sich einen Schwips antrinken. Dafür hätte ich vollstes Verständnis und würde sogar die erste und die letzte Runde übernehmen. Allerdings hoffe ich, dass Sie es nicht tun. Lassen Sie sich von diesem Schwachsinn nicht fertigmachen. Und ganz gleich, was geschieht, Lena, seien Sie vorsichtig, und halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Er legte auf. Lena drückte ihre Zigarette aus, zündete die nächste an und überlegte. Das Verhalten des Polizeipräsidenten hatte sie tief getroffen und beeinflusste ihr Denken. Dagegen war sie machtlos. Doch auf Barreras Einladung zu einem Drink war sie auch nicht angewiesen.
Als sie ein Klicken hörte, fiel ihr wieder ein, dass ja das Radio eingeschaltet war. Eine Nachrichtensendung.
In einer Wohnung in der Willoughby Avenue war heute am frühen Morgen eine Leiche entdeckt worden. Ein Handwerker hatte den alten Mann, der früher in West Hollywood eine Hot-dog-Bude betrieben hatte, tot aufgefunden. Nach Aussage des Ermittlers aus dem Büro des Leichenbeschauers hatte der Tote in einem Sessel im Wohnzimmer gesessen. Der Mann war bereits seit über einem Jahr tot. Die trockene Luft hatte seinen Körper mumifiziert. Als die Beamten die Wohnung betraten, lief noch der Fernseher.
Wieder einmal eine der traurigen und tragischen Geschichten, wie sie für Los Angeles typisch waren. Am meisten machte Lena zu schaffen, dass der alte Mann allein hatte sterben müssen. Niemand hatte nach ihm gesehen oder ihn vermisst. Offenbar hatte er kein soziales Netzwerk gehabt, nichts, was ihn mit der Außenwelt verband.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr fragte sie sich, ob es sich bei ihr nicht vielleicht ähnlich verhielt. Wer würde nach ihr sehen und sie vermissen?
Lena verließ das Parkhaus. Die Nachrichtenmeldung verfolgte sie hinaus ins helle Tageslicht. Es war ein Gefühl der Einsamkeit, das in der verqualmten Luft mitschwang, während sie die zweite Zigarette ausdrückte. Sie umrundete das Parker Center, fuhr durch die Stadt bis zum Freeway Nummer 10 und beschloss, Kurs nach Westen zu nehmen. Sie wollte sich Jennifer McBrides Wohnung in der Navy Street noch einmal anschauen. Ganz in Ruhe und allein. Außerdem brauchte sie Abstand, eine Pause, um sich zu sammeln und die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken.
Da es auf dem Freeway schnell voranging, dauerte die Fahrt durch die Stadt nur eine knappe halbe Stunde. Während sie zwei Türen weiter einparkte und ausstieg, bemerkte sie den Streifenwagen am Ende der Straße. Die Pacific Division behielt das Gebäude im Auge, nur für den Fall, dass der Zeuge sich hier blicken ließ. Auch wenn niemand ernsthaft damit rechnete. Der junge Mann hatte vor dem Cock-a-doodle-do zwar die Handtasche samt Inhalt mitgehen lassen, doch ein Einbruch in die Wohnung eines Mordopfers wäre ein viel zu großes Risiko gewesen. Lena hatte ganz vergessen, das dem Polizeichef gegenüber zu erwähnen. Allerdings hätte das sicher auch nichts an der verfahrenen Situation geändert.
Sie schob den Gedanken beiseite und kramte die Schlüssel aus der Handtasche. Als sie die Eingangstür aufschloss, wurde sie schon von Jones erwartet.
»Warum haben Sie das bescheuerte Schloss angebracht?«, brüllte er.
Lena blickte auf und stellte fest, dass er sie zornig anstarrte. Der kleine trollähnliche Mann mit dem Augenfehler hatte sich die Mühe gespart, sich anzuziehen, und stand in Boxershorts und einem alten ärmellosen T-Shirt in der Tür. Selbst aus dieser Entfernung roch Lena, dass er eine Dusche bitter nötig hatte.
»Weil es sich um einen Tatort handelt, Jones. Gehen Sie wieder in Ihre Wohnung.«
»Wann kann ich ihren Mist wegschmeißen und die Wohnung neu vermieten? Schließlich ist sie doch tot? Was soll also das ganze Theater?«
»Gehen Sie wieder rein.«
»Aber ich will mein Geld«, beharrte er. »Ich brauche es.«
Lena wollte schon die Treppe hinaufsteigen, als ihr einfiel, was Jones mit Jennifer McBrides Selbstauskunft gemacht hatte. Immerhin hatte er die Kautionssumme mit Tipp-Ex überpinselt und das Geld in die eigene Tasche gesteckt.
»Sie haben Ihr Geld bereits«, erwiderte sie deshalb.
»Wovon reden Sie?«
»Dachten Sie wirklich, wir würden es nicht merken?«
»Was merken?«
»Die Selbstauskunft, Jones. Sie haben daran herumgedoktert und die Kaution unterschlagen. Zweitausend Dollar.«
Er lief rot an und schwieg.
»Unten an der Straße steht ein Polizist«, sprach sie weiter. »Soll ich ihn rufen? Möchten Sie die nächsten beiden Jahre im Knast verbringen? Oder gehen Sie jetzt wieder rein, holen Ihre Kopie der Selbstauskunft und machen Ihren Fehler rückgängig?«
»Aber sie ist doch tot.«
»Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen, Jones.«
Er überlegte nicht lang. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, holte Lena tief Luft und stieg die Treppe zu Jennifer McBrides Wohnung hinauf. Die Tür war mit einem Polizeisiegel versehen. Außerdem hatte Kline ein Vorhängeschloss angebracht, um Jones den Zutritt zu verwehren.
Lena betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Im dunklen Flur holte sie noch einmal Luft und fragte sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war herzukommen. Es war zu still hier. Und zu finster. Immerhin hatte der Tag mit einer Überdosis Grauen begonnen. Zwei Begegnungen mit Menschen, die so widerwärtig waren, dass es einen faden Geschmack im Mund hinterließ.
Allerings war hier noch etwas, das sie bis jetzt nicht bemerkt hatte. Beim Betreten der Wohnung hatte sie den Geruch des Opfers wahrgenommen. Der Eindruck war zwar nur flüchtig gewesen und hatte sich sofort wieder in Luft aufgelöst, war jedoch eindeutig vorhanden. Dabei handelte es sich nicht um die Seife, die die Frau benutzt hatte. Auch nicht um ihr Parfüm, das Lena schon zweimal in die Nase gestiegen war. Nein, es war der Geruch der Person selbst, ihres Körpers, ihrer physischen Existenz, der sich sechs Tage nach ihrem Tod noch in ihrer Wohnung hielt.
Lena wusste nicht, ob sie sich damit nicht selbst überforderte. Vielleicht hatte sie den falschen Zeitpunkt gewählt und hätte sich lieber für fünf oder sechs Tequilas mit Salz und Limette entscheiden sollen.
Sie machte Licht und spähte durch die Glastür ins Wohnzimmer. Sie hatte ganz vergessen, wie kahl die Wohnung war. Kein einziges Foto. Kein Brief eines Freundes. Nur das unbedingt Notwendige. Eine Garnitur Bettwäsche. Zwei Badehandtücher. Lediglich so viel Kleidung, wie in einen Koffer passte. Ein wenig Wäsche, leicht zu verstauen in einer Reisetasche, damit Jennifer McBride sich jederzeit verdrücken konnte.
Lena betrat das Schlafzimmer und sah die Schneekugel auf dem Nachttisch. Sie griff danach und beobachtete, wie Las Vegas eingeschneit wurde. Das Bellagio Hotel und Caesar’s Palace. Alle Straßen leuchtend goldfarben lackiert. Obwohl Barrera die Meldung bei fünf Sendern in Nevada untergebracht hatte, waren die Zuschauerreaktionen nicht anders ausgefallen als hier in Los Angeles.
Während Lena mit dem Daumen über das Glas strich, dachte sie, dass die Bedeutung, die die Kugel für Jane Doe gehabt hatte, offenbar kein Hinweis auf ihre Herkunft war. Das wäre auch zu einfach gewesen. Vielleicht handelte es sich ja nur um ein Souvernir von einem Wochenendbesuch oder um ein Geschenk von einem Freier oder Freund.
Lena stellte die Schneekugel weg und kehrte zurück ins Wohnzimmer. Sie ging zum Sofa, stellte den Aktenkoffer ab und holte die Mordakte heraus. Ganz hinten befanden sich die Vernehmungsprotokolle, die Kline ihr zusammen mit dem Schlüssel zum Vorhängeschloss geschickt hatte. Lena breitete die Protokolle auf dem Couchtisch aus. Sie interessierte sich nur für die Nachbarn im Gebäude, nicht für die übrigen Personen, mit denen die Kollegen von der Pacific Division im Viertel gesprochen hatten. Neben den Namen von Jones und dem Opfer standen da noch sechs weitere. Kline hatte ihr gesagt, er habe die Befragungen persönlich durchgeführt. Sie vertraute dem Detective, mit dem sie die Polizeiakademie besucht und der auch eine Rolle in ihrem letzten Fall gespielt hatte. Nun blätterte sie die Protokolle durch und studierte seine Notizen. Allerdings hatten alle Protokolle den gleichen Inhalt. Jede Vernehmung war nahezu identisch abgelaufen. Die junge Frau, die sich Jennifer McBride nannte, habe sehr zurückgezogen gelebt. Niemand im Haus habe sie gekannt. Während des letzten Jahres habe kaum jemand ein Wort mit ihr gewechselt. Sie sei attraktiv gewesen und habe ein hübsches Lächeln gehabt. Aber niemand habe sie je in Begleitung einer anderen Person gesehen.
Als Lena die Protokolle weglegte, musste sie an die Meldung in KFWB denken. Den Bericht über den alten Mann, der in seinem Wohnzimmer gestorben war und fast ein Jahr lang vor dem Fernseher gesessen hatte, ehe es jemandem auffiel. Den Mann ohne soziales Netzwerk.
Lena legte sich aufs Sofa, grübelte darüber nach und fragte sich, warum diese geheimnisvolle Frau – die Frau, die die Männer verzauberte – wohl auch ohne soziales Netzwerk gelebt hatte. Zwischen ihrer wahren Identität und dem Leben, das sie unter falschem Namen führte, gab es keine Verbindung. Nicht die geringsten Vorsichtsmaßnahmen, für den Fall, dass irgendetwas schieflief.
Je länger Lena sich die Angelegenheit durch den Kopf gehen ließ, desto absurder erschien ihr diese Vorstellung. Dazu war das Opfer zu klug vorgegangen und beim Diebstahl von Jennifer McBrides Identität zu geschickt gewesen. Bei einem riskanten Lebensstil wie ihrem brauchte man irgendeine Form von Absicherung, einen Kontakt zur wirklichen Welt und den Menschen, die einen kannten und liebten.
Lena wachte bei Dämmerung auf und zuckte zusammen, als sie schlagartig zu sich kam. Sie drehte sich um und betrachtete die Lampe auf dem Flurtischchen. Dann setzte sie sich auf und starrte zur Feuerleiter vor dem Fenster hinaus. Es war dunkel geworden. Vom Meer war Nebel herangezogen – und sie befand sich noch immer in Jennifer McBrides Wohnung.
Sie sah auf die Uhr. Halb acht. Offenbar hatte sie mehrere Stunden lang geschlafen. Sie verstand die Welt nicht mehr, und es bereitete ihr Sorge, dass sie sich so wenig im Griff hatte.
Lena stand auf, ging zum Fenster und versuchte, die Ereignisse eines Tages Revue passieren zu lassen, denen sie sich eigentlich nicht stellen wollte. Doch als ihr Blick über die Backsteinmauer gegenüber glitt, zuckte sie zusammen.
Der Mann mit der Wollmütze spähte durch den Nebel und beobachtete sie mit seinem Fernglas. Er gaffte einfach weiter, ohne sich abzuwenden.
Lena drehte sich zum Sofa um und berechnete den Winkel. Als ihr klarwurde, dass er fast das gesamte Wohnzimmer im Sichtfeld hatte, gab sie es auf und zog die Vorhänge zu. Die Berechnungen waren eigentlich überflüssig. Sie hatte genug für heute.
Sie ging in die Küche und wusch sich das Gesicht mit warmem Wasser. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft, und sie fühlte sich, als würde sie in wenigen Stunden Migräne bekommen. Als Rhodes und sie die Wohnung zum ersten Mal durchsucht hatten, hatte sie eine Dose mit Tylenol-Kopfschmerztabletten bemerkt. Also machte sie Licht und fand die Tabletten neben einigen Döschen mit Vitaminpillen.
Das Tylenol war erst vor kurzem gekauft worden. Lena pflückte die Watte aus dem Döschen. Nachdem sie ein Glas mit Wasser gefüllt hatte, schluckte sie zwei Tabletten. Im nächsten Moment entdeckte sie einen Zettel auf der Anrichte neben dem Herd.
Es war eine Einkaufsliste: Salat, Joghurt, Brot, Käse. Vier oder fünf Grundnahrungsmittel, die das Opfer sich vor seinem Tod notiert hatte.
Lena wusste nicht, warum sie der Anblick der Liste so betroffen machte. Wieder musste sie an ihre Besprechung mit dem Polizeichef denken. Ihre Auseinandersetzung mit Jones im Treppenhaus. Den Perversen mit der Wollmütze, der sie beim Schlafen beobachtet hatte. Nach einer Weile betrachtete sie erneut die Einkaufsliste, die zurückgeblieben war und nicht mehr gebraucht wurde. Ein Stich durchfuhr sie, und sie fragte sich, warum es immer die kleinen Dinge im Leben eines Opfers waren, die einen Mord so real werden ließen.
Bedrückt drehte Lena den Zettel um und erstarrte mitten in der Bewegung, noch ehe sie den Kopf schütteln konnte. Die Einkaufsliste war nicht einfach auf ein Stück Papier geschrieben worden. Stattdessen hatte die Ermordete die Rückseite eines ärztlichen Rezepts benutzt.
Lena griff nach dem Zettel, hielt ihn ans Licht und versuchte, ihr Aufregung zu zügeln. Sie las Jennifer McBrides Namen und den eines Medikaments, das Synthroid hieß. Die Worte waren zwar kaum zu entziffern, aber eindeutig vorhanden. Auch der Name der Ärztin, die das Medikament verordnet hatte, stand fein säuberlich oben auf der Seite, zusammen mit der Adresse ihrer Praxis und der dazugehörigen Telefonnummer. Das Rezept schien echt zu sein.
Lena packte die Mordakte ein, schloss die Tür ab und hastete die Treppe hinunter. Als sie den Gehweg erreicht hatte, stellte sie fest, dass Jones mit seinen missgebildeten Augen am Fenster Wache hielt. Inzwischen hingen die Wolken tief über der Straße; die Luft war pechschwarz und eisig. Sie wusste, dass er sie im Nebel nicht sehen konnte. Und selbst wenn, war es ihr egal.
Ihr Wagen parkte zwei Türen weiter. Als sie schneller ging, bemerkte sie einen Mann, der gerade aus dem Nachbarhaus kam. In der Dunkelheit konnte sie nur seine Umrisse wahrnehmen, erkannte aber, dass er eine Büchertasche geschultert hatte. Trotz der Kälte trug er offenbar nur Jeans und ein T-Shirt. Er überquerte die Straße und entfernte sich rasch im Nebel. Sein Schritt wirkte locker und beschwingt, als sei er ganz allein auf der Welt. Dennoch behielt sie ihn im Auge und beobachtete, wie er die Fernbedienung an seinem Schlüsselring betätigte. Sie hörte ein Alarmsignal, die Scheinwerfer leuchteten auf. Und in diesem Moment fiel ihr Blick auf die Wollmütze.
»Hey, Sie!«, rief sie.
Der Mann drehte sich um. Sein Gesicht war in der Dunkelheit nicht auszumachen. Vergeblich hielt Lena im dichten Nebel Ausschau nach dem Streifenwagen am Ende der Straße und wandte sich wieder um. Währenddessen sprang der Mann in seinen Wagen und fuhr los.
Lena suchte nach einem Nummernschild, doch der Wagen schien neu zu sein und hatte hinten keines. Sie hörte, wie Reifen auf dem nassen Asphalt quietschten, und sah wie der in der Dunkelheit geisterhaft schimmernde Wagen beschleunigte. Es war ein SRX Crossover. Als das Auto eine Straßenlaterne passierte, konnte sie einen Blick auf die Farbe erhäschen, eher es in der Dezembernacht verschwand. Eine ähnliche Farbe hatte sie schon einmal bei einem Lexus SC Coupe gesehen, und sie gefiel ihr sehr gut. Bronze, strahlend. Wenigstens hatte der Spanner Geschmack.