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»Ich hoffe, Sie mögen Kleingeflügel«, sagte Tremell.
»Ich muss zugeben, dass ich noch nie welches gegessen habe.«
Lena sah zu, wie der Hilfskoch die Teller vor sie hinstellte. Die gebratenen Tauben wurden im Ganzen serviert und wirkten halbgar. Tremell bedankte sich bei dem Mann, blickte ihm nach, als er in die Küche zurückkehrte, und trank einen Schluck Eiswasser aus einem Kristallglas.
Sie saßen an einem Tisch vor dem Kamin. Und sie waren ganz allein, denn das Lokal öffnete eigentlich nicht zum Mittagessen. Bei ihrer Ankunft hatte Lena nur zwanzig Tische und zwei Nebenräume gezählt. Die kleine elegante Bar bestand aus massivem Walnussholz, eine sorgfältig restaurierte Antiquität, die vermutlich von der Ostküste stammte. Die Bilder an den Wänden schienen wertvoll zu sein.
»Hier wird gegessen, was auf den Tisch kommt«, erklärte Tremell. »Es gibt keine Speisekarte, und wenn wir zum Abendessen hier wären, würde man auch den Wein für uns aussuchen. Gerard bereitet für jeden Gast ein Zwölf-Gänge-Menü vor. Man bezahlt für den Sitzplatz, nicht für das Gericht. Also für das Privileg, hier sein zu können. Das Restaurant ist für die nächsten sechs Monate ausgebucht.«
Lena lauschte unbeeindruckt. Schließlich war sie nur deshalb hier, weil Tremell sie eingeladen hatte. Offenbar hatte er seine Gründe dafür. Lena konnte sie sich zwar denken, brauchte aber Gewissheit. Und bis sie diese Bestätigung erhielt, traute sie sich zu, alle seine Versuche, sie aus dem Konzept zu bringen, wegzustecken. Einschließlich der Taube, die sie jetzt essen sollte.
Sie griff zum Messer und schnitt den ersten Bissen ab. Das Fleisch sah roh aus.
»Das ist kein Hühnchen«, verkündete Tremell. »Taube wird immer so serviert. Wenn man das Fleisch länger braten würde, würde es wie Leber schmecken.«
Als Lena kostete, musste sie zugeben, dass es köstlich war. Sogar sehr. Sie merkte Tremell an, dass es ihm Freude bereitete, sie zu beobachten. Er schien amüsiert, ja, sogar überzeugt, dass er mit dem Plan, den sein perverses Gehirn geschmiedet hatte, Erfolg haben würde.
Er begann zu essen und machte sich hungrig über den kleinen Vogel auf seinem Teller her.
»Nun zum Grund unseres Treffens«, sagte er. »Warum erklären Sie mir nicht genau, was mein Sohn Ihrer Ansicht nach getan haben soll?«
»Weshalb sollte ich das, wenn Sie es vermutlich ohnehin schon vom Oberstaatsanwalt wissen?«
»Offen gestanden haben Sie Recht. Aber wir wollen den Tatsachen ins Auge sehen: Jimmy J. Higgins wird niemals in der Lage sein, die Welt zu verbessern. Er ist Jurist und Politiker, eine ziemlich üble Mischung, wenn man im Leben wirklich etwas erreichen will. Sie leiten doch die Ermittlungen, oder? Es ist Ihr Fall?«
»Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war es noch so.«
»Gut, dann würde ich gerne Ihre Version der Geschichte hören. Aus erster Hand sozusagen.«
Lena beobachtete, wie er noch einen Schluck Wasser trank. Es wunderte sie nicht, dass Higgins mit Tremell geredet hatte. So viel hatte sie bereits aus Polizeichef Logans Gardinenpredigt geschlossen. Doch als sie Tremell so offen darüber sprechen hörte, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Indiskretion in direktem Zusammenhang mit dem Verbrechen selbst stand. Sie war machtlos gegen ihren Widerwillen und das Bedürfnis, sich von einem Staatsanwalt zu distanzieren, der schon unzählige Male die Grenzen überschritten hatte. Nun war er sogar so weit gegangen, dem Vater eines Verdächtigen Einzelheiten des Falles preiszugeben. Das war mehr als korrupt. Es war der pure Wahnsinn.
»Ich habe eine bessere Idee«, meinte Lena. »Fangen wir mit dem Baby an, das ich in der Küche gesehen habe. Möchten Sie mir nicht verraten, wer die wirkliche Mutter ist?«
Tremell ließ die Gabel sinken und musterte Lena forschend. Sie konnte seiner Miene nichts entnehmen, zu ihrem Erstaunen malte sich nicht die Spur von Zorn auf seinem Gesicht.
Tremell griff nach seiner Serviette. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass das Mädchen eine Abtreibung hatte.«
»Stimmt. Allerdings besteht noch keine Gewissheit, und außerdem ist das hier nicht die Frage.«
»Wir sprechen immerhin von meinem Enkel.«
»Richtig. Wer ist die Mutter?«
»Natürlich die Frau meines Sohnes. Eve.«
»Können Sie das beweisen?«
Er nahm die Gabel und aß weiter, schien jedoch fieberhaft zu überlegen. »Sie sind aber ganz schön misstrauisch.«
Wortlos erwiderte Lena seinen Blick und wartete auf die Antwort.
»Ich werde Ihnen den Zeitaufwand ersparen«, entgegnete er schließlich. »Jedoch nur, weil ich keine Lust habe zu hören, dass Sie weiter in unserem Privatleben herumstochern. Außerdem verbitte ich mir, dass etwas von der Angelegenheit ins Fernsehen kommt. Falls Sie sich nicht daran halten, werden Sie meine Anwälte kennenlernen.«
»Also gut, ersparen Sie mir Zeitaufwand.«
»Eve hat Dean junior im Medical Center der University of California in Los Angeles zur Welt gebracht. Es war ein ziemlich langer Krankenhausaufenthalt, der ein Vermögen verschlungen hat. Ich rufe meine Assistentin an und lasse Ihnen innerhalb der nächsten Stunde sämtliche Unterlagen ins Büro faxen. Reicht Ihnen das?«
»Einverstanden.«
»Und jetzt verraten Sie mir, was mein Sohn getan haben soll.«
Lena brauchte nicht lange zu überlegen. »Er ist vom rechten Wege abgekommen und an die falsche Frau geraten.«
»Und Sie vermuten, dass er ihr ein Kind angehängt hat.«
»Mag sein. Doch wer der Vater ist, ist eigentlich unerheblich. Nur die Drohung zählt. Sie kannte ihn und wusste, dass er kein armer Mann ist.«
Tremell nickte, während er das Fleisch vom Brustkorb des Vogels kratzte. »Ihr wäre klar gewesen, dass er alles getan hätte, um nicht zur Zielscheibe der Skandalpresse zu werden. Schließlich hatte er sein Leben geändert und konnte es sich nicht leisten, dass die Sache publik wird. Higgins hat mir erzählt, Sie hätten fünfzigtausend Dollar auf dem Bankkonto der Toten gefunden. Und jetzt vermuten Sie, dass ihr das nicht genug war und dass sie mehr verlangt hat.«
Lena beabsichtigte nicht, dem Beispiel des Oberstaatsanwalts zu folgen und Einzelheiten auszuplaudern. Andererseits war Tremell ziemlich offen gewesen und hatte deshalb eine Erklärung verdient.
»Wahrscheinlich viel mehr«, erwiderte sie. »Und zwar so viel, dass es Ihnen aufgefallen wäre.«
»Und deshalb soll mein Sohn beschlossen haben, sich des Problems zu entledigen, indem er die Verursacherin beseitigt.«
Lena glaubte, sich die Antwort sparen zu können. Offenbar war Tremell von selbst dahintergekommen.
»Justin lockt sie also aus dem Bordell«, fuhr er fort. »Dem Cock-a-doodle-soundso.«
»Cock-a-doodle-do.«
»Er bittet sie vor die Tür und verspricht ihr mehr Geld. Aber draußen auf dem Parkplatz wartet jemand, den er kennt oder angeheuert hat. Der Mann hat sich hinter den Autos versteckt und kümmert sich ums Grobe. Stellen Sie es sich ungefähr so vor?«
»Vielleicht ist es auch anders gewesen«, meinte Lena. »Aber, ja, ich denke, so ungefähr hat es sich abgespielt.«
Der Hilfskoch erschien, um nach dem Rechten zu sehen. Nach einem Blick auf ihre Teller und auf Tremell verschwand er hinter dem Tresen, kehrte kurz darauf zurück und stellte ein Glas auf den Tisch. Lena beobachtete, wie Tremell danach griff und einen kleinen Schluck trank.
»Bourbon«, verkündete er. »Möchten Sie auch einen?«
Lena schüttelte den Kopf. »Nein danke.«
Als der Hilfskoch ging, waren sie wieder allein.
»Haben Sie eine Abneigung gegen reiche Leute, Detective?«
»Ganz und gar nicht. Warum?«
»Aber Sie hassen die Pharmaindustrie«, fuhr er fort. »Das habe ich Ihnen am Samstag angemerkt. Sie haben es satt, mit Fernsehwerbung bombardiert zu werden, und halten die Spots für dümmlich oder vielleicht sogar für gefährlich, weil sie die Menschen zu Selbstdiagnosen ermutigen. Sie können das ganze Gerede über Geld, Aktienoptionen und millionenschwere Bonuszahlungen nicht mehr hören. Ich bin schon lange genug auf der Welt, um die Litanei zu kennen. Fünfzig Prozent der Bevölkerung verdienen weniger als fünfunddreißigtausend Dollar jährlich. Zwölf Millionen Kinder in den Vereinigten Staaten leiden nicht nur Hunger, sondern sterben sogar daran. Die Vorstandsgehälter haben sich von den Leistungen der betreffenden Personen abgekoppelt. Konzerne gehen in die Knie, feuern die gesamte Belegschaft und unterschlagen Betriebsrenten im Wert von vielen Milliarden Dollar. Der durchschnittliche Arbeitnehmer braucht ein Jahr und drei Monate, um das Tagesgehalt eines Top-Managers zu erzielen. Sie lehnen mich wegen der Werte ab, die ich verkörpere. Das ist doch der wahre Grund, richtig? Und deshalb wollen Sie meinem Sohn ans Leder. Sie wollen mir das Einzige wegnehmen, was ich mit Geld nicht kaufen kann. Das Einzige in meinem Leben, was ich wirklich liebe.«
Tremells Stimme erstarb. Er schob seinen Teller weg und trank noch einen großen Schluck Bourbon. Lena war froh, dass sie seiner Einladung gefolgt war. Nun verstand sie seine Motive und wusste, warum er mit ihr hatte sprechen wollen. Tremell hatte Angst, seinen einzigen Sohn zu verlieren. Sich an den Oberstaatsanwalt zu wenden, hatte nicht gereicht, weil der Mann unzuverlässig war. Tremell würde bei sämtlichen beteiligten Personen anklopfen und alle Hebel in Bewegung setzen, koste es, was es wolle.
»Ich hasse niemanden, Mr. Tremell.«
»Sie sind eine schöne Frau, aber das wissen Sie ja. Sie passen in diesen Raum. Und Schwarz steht Ihnen.«
Eine Weile blickten sie einander wortlos an.
»Niemand will Ihrem Sohn ans Leder«, sagte Lena schließlich. »Eine junge Frau wurde ermordet. Wie bei jeder anderen Ermittlung gehen wir nur den Spuren nach.«
»Doch ich möchte nicht, dass Justin den Preis dafür bezahlt, wer ich in Wirklichkeit oder Ihrer Ansicht nach bin. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Auf welche Summe beläuft sich Ihr Vermögen?«
»Achtzehn Milliarden, aber die Aktienkurse sind gefallen. An einem guten Tag sind es einundzwanzig Milliarden.«
Eine Sekunde verging – wie immer, wenn das Wort Milliarde erwähnt wird.
»Warum vögeln Sie dann mit seiner Frau?«, fragte Lena.
»Ich dachte, das hätten wir bereits durchgekaut.«
»Sie haben mehr Geld, als hundert Menschen es in zehn Leben ausgeben könnten. Die Hälfte der weiblichen Bevölkerung von Los Angeles, ganz gleich, welchen Alters, würde Ihnen zu Ihren Bedingungen zu Füßen liegen. Warum tun Sie es dann?«
»Es ist viel komplizierter.«
»Wie kompliziert kann so etwas sein? Sie haben behauptet, ihn zu lieben. Weshalb erniedrigen Sie ihn dann? Denn darum geht es Ihnen doch, richtig? Ist es wirklich so schwer, die Finger von der Frau Ihres Sohnes zu lassen?«
»Sie sehen die Situation ganz falsch, und es wäre zu umständlich, es Ihnen zu erklären. Sie brauchen nur zu wissen, dass meine Frau tot ist und dass ich nur noch meinen Sohn habe. Deshalb will ich verhindern, dass seine Fortschritte der letzten Jahre durch Anschuldigungen oder Andeutungen zunichtegemacht werden. Durch die Aussage einer Frau, die in einem Freudenhaus arbeitet und etwas gesehen haben will, obwohl sie nicht einmal sicher ist, was es war oder welchen Tag wir überhaupt hatten.«
Lena betrachtete ihren Teller und blickte dann Tremell an. »Waren Sie dort? Haben Sie mit dem Mädchen geredet?«
Tremell schüttelte den Kopf. »Nein. Aber im Allgemeinen sind Indizien doch immer zuverlässiger als die Aussage eines Augenzeugen. Worauf würden Sie sich lieber berufen, wenn Sie vor Gericht müssten, Detective?«
»Auf die Indizien.«
»Warum?«
Lena musterte ihn, ehe sie antwortete. Sie erkannte das schlaue Funkeln in seinen grauen Augen und ahnte, dass er das Gespräch genau in die gewünschte Richtung lenken wollte.
»Weil Augenzeugen Fehler machen«, erwiderte sie. »Deshalb brauchen wir Bestätigungen für das, was diese Zeugen gesehen haben oder gesehen zu haben glauben. In diesem Fall liegen uns die nötigen Bestätigungen vor. Vier Personen haben Ihren Sohn am Mittwochabend zusammen mit Jennifer McBride beobachtet.«
»Laut Higgins geben acht weitere Mitarbeiter an, sie hätten ihn nicht gesehen. Also bleiben nur zwei Restauranthelfer und eine andere Kellnerin, die übrigens alle vorbestraft sind. Ihre einzige richtige Zeugin ist die Teilzeitnutte Natalie Wells.«
»Higgins hat Erkundigungen eingezogen und die Informationen an Sie weitergegeben.«
Er nickte und nahm noch einen Schluck aus einem Glas. »Ich glaube nicht, dass mein Sohn dort war oder dass er sie gekannt hat. Und selbst wenn, hat er die Dinge, die Sie ihm unterstellen, ganz sicher nicht getan. Er hätte keinen Grund dazu gehabt. Was mein Vermögen angeht, haben Sie Recht. Die Quelle ist zu tief, um jemals auszutrocknen. Und dasselbe gilt auch für Justin, denn er ist schließlich mein eigen Fleisch und Blut. Niemals würde er sein Leben wegwerfen oder ein solches Risiko eingehen, solange die Möglichkeit besteht, sich mit einem Scheck freizukaufen. Wie hoch die Summe war, die Jennifer McBride gefordert hat, spielt keine Rolle. Er hätte jeden Preis bezahlt, ohne mit der Wimper zu zucken. Verstehen Sie, was ich meine?«
Lena schwieg.
»Wir haben dasselbe Ziel, Detective. Sie suchen einen Zeugen. Den Mann, der Ihnen die Bilder geschickt hat. Er ist der Einzige, der weiß, wer am Tatort war und die Entführung beobachtet und mitgefilmt hat. Nur er kann die Tatsachen bestätigen. Ein junger Mann, der dabei war und den Täter identifizieren kann. Er wäre in der Lage, den Namen meines Sohnes reinzuwaschen. Diesen Zeugen aufzuspüren, ist für mich noch wichtiger als für Sie.«
»Ja, schon, aber …«
»Kein Aber, Detective. Ich biete Ihnen meine Unterstützung an. Sie können auf alles zurückgreifen, was ich habe. Sie bekommen freien Zugang zur Quelle.«