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Lena wählte Rhodes per Schnellwahlfunktion an, während sie den Parkplatz verließ. Er hob nach zweimal Läuten ab.
»Wo bist du?«, fragte er.
»Ich fahre gerade von der Bank weg. Ist Barrera schon da?«
»Nein, dafür aber Klinger.«
Lena zuckte mit den Achseln. »Ich habe Neuigkeiten«, sagte sie. »Jane Doe hat sechs Tage vor ihrer Ermordung fünfzigtausend Dollar eingezahlt.«
Obwohl Rhodes zunächst schwieg, konnte Lena sich denken, was in ihm vorging. Fünfzigtausend Dollar lagen auf dem Tisch. Es waren schon Menschen für weitaus weniger umgebracht worden.
»Du glaubst, sie hat Fontaine erpresst«, meinte er schließlich.
»Das würde erklären, warum er uns angelogen hat.«
»Und noch einige andere Dinge mehr.«
Sie berichtete ihm von ihrem Treffen mit Steve Avadar und erklärte ihm Schritt für Schritt, was es mit den wöchentlichen Einzahlungen des Opfers, dem Scheck von Western Union und dem Jungen, der täglich Geld am Geldautomaten abhob, auf sich hatte. Wie sie hinzufügte, waren dieser Junge, der Zeuge der Entführung und der Kurier, der das Päckchen im Parker Center abgegeben hatte, ihrer Ansicht nach ein und dieselbe Person.
»Also ist unser Zeuge ein Dieb, den das schlechte Gewissen drückt«, stellte Rhodes fest.
»Oder ein habgieriger guter Samariter. Wir brauchen das Überwachungsvideo aus unserer Vorhalle. Er hat das Päckchen gestern am späten Vormittag abgeliefert.«
»Ich kümmere mich darum. Wann bist du hier? Klinger fragt schon nach dir.«
»Sobald ich McBrides Mutter das Foto von Jane Doe gezeigt habe.«
»Das kannst du dir sparen«, erwiderte er. »Ich habe gerade mit ihr telefoniert. Sie hat gestern die Abendnachrichten gesehen und mit den meisten Freunden ihrer Tochter gesprochen. Die Sender haben das Foto in ihre Webseiten gestellt, damit es sich jeder anschauen kann. McBrides Freunde kennen sie auch nicht. Eine Sackgasse.«
Wortlos nahm Lena diese Nachricht entgegen. Eigentlich hatte sie selbst nicht damit gerechnet, dass Jane Doe und die echte Jennifer McBride persönlichen Kontakt miteinander gehabt hatten. Doch obwohl sie von einem Identitätsdiebstahl ausgegangen war, hatte sie sich trotzdem ein wenig Hoffnungen gemacht, dass sie sich geirrt haben und schneller auf eine Antwort stoßen könnte. Dass sie mit dieser Entwicklung gerechnet hatte, machte sie nicht immun gegen Enttäuschung.
»Was ist mit der Hotline?«, erkundigte sie sich.
»Drei Witzbolde haben sich gemeldet. Ansonsten Fehlanzeige.«
Lena wechselte die Fahrspur, wendete und nahm Kurs auf den Freeway Nummer 10.
»Bis gleich«, meinte sie.
Nachdem sie das Telefon zugeklappt hatte, steckte sie es ein. In den letzten Jahren war es immer schwieriger geworden, aussagewillige Zeugen zu finden. Grund war, dass die meisten Verbrechen inzwischen auf das Konto von Banden gingen, die nicht zögerten, Zeugen einzuschüchtern, sie zu entführen, zu foltern und manchmal sogar zu töten. Und je mehr sich diese Tatsache durch Nachrichtenmeldungen und die Texte von Gewalt-Hip-Hop-Songs herumsprach, desto stärker wurde die Stadt von Angst ergriffen, und der Strom von Zeugen, auf die man bei einer Mordermittlung zurückgreifen konnte, trocknete zusehends aus.
Wer petzt, wird verletzt.
Für Lena war das mehr als nur ein prahlerischer Spruch von der Straße. Sie sah es eher als Warnsignal, als Zeichen dafür, wie angreifbar eine Gesellschaftsordnung war und wie rasch Unwissenheit und Gleichgültigkeit um sich griffen, wenn die Menschen einfach die Augen vor der Wahrheit verschlossen.
Lena versuchte, die trüben Gedanken beiseitezuschieben und nicht weiter über die persönlichen Motive nachzugrübeln, aus denen sich der einzige Zeuge, von dessen Existenz sie wussten, vermutlich nicht melden würde. Sie nahm die Auffahrt an der Fourth Street, beschleunigte auf dem Freeway, ordnete sich links ein und schaltete den CD-Spieler an. Während sie zur letzten CD schaltete, dachte sie über Klinger nach. Sie übersprang das erste Lied und drückte auf Play. Das Stück, das sie hören wollte, hieß Stop, eine digital aufbereitete Version aus dem Album Super Session von Al Kooper, Mike Bloomfield und Stephen Stills, das neun Jahre vor ihrer Geburt herausgekommen war. Lena hatte die alte Schallplatte im Tonstudio ihres Bruders entdeckt, und sie hatte ihr so gut gefallen, dass sie sich die CD gekauft hatte. Das war vor sechs Monaten gewesen, und die CD befand sich noch immer in ihrem CD-Wechsler. Als die Musik einsetzte, lehnte sie sich zurück und spürte, wie sie sich allmählich entspannte.
Langsam nahm der Fall Gestalt an. Mit Fontaines Enttarnung und dem Fund des Geldes auf dem Konto des Opfers waren sie mit ihren Ermittlungen einen Schritt weitergekommen. Dennoch wurde sie den Gedanken nicht los, dass da etwas im Argen lag. Letzte Nacht hatte sie schlecht geschlafen und sich trotz des Weins nur herumgewälzt. Es wollte ihr nicht in den Kopf, warum die Detectives von der Abteilung Interne Ermittlungen vor ihrem Haus parkten. Weshalb setzten sie ihre Karriere aufs Spiel, indem sie ihr Telefon anzapften? Außerdem war Lena unsicher, ob sie mit jemandem darüber sprechen sollte, ehe sie nicht mehr über ihre wahren Motive wusste. Aus welchem Grund hielten es Klinger und Polizeichef Logan für nötig, sie zu überwachen? Und warum hatte jemand aus der Chefetage – vermutlich Klinger selbst – in der Nacht, als Jane Does Leiche in Hollywood entdeckt wurde, die Presse verständigt? Warum war es ihm so wichtig, überall herumzuposaunen, dass sie in dem Fall ermittelte?
Je länger Lena darüber nachgrübelte, desto mehr wuchs ihre Befürchtung, dass ihr etwas Wichtiges entgangen sein könnte. Vielleicht hatte sie sich ja so in die Einzelheiten einer komplizierten Ermittlung verrannt, dass sie das Gesamtbild aus den Augen verloren hatte. Den wichtigsten Aspekt, durch den der Stein erst ins Rollen geraten war.
Als sie das Parker Center betrat, spürte sie, wie die Angst ihr zum Aufzug folgte. Sie fuhr in den zweiten Stock hinauf, wo sie das Großraumbüro verlassen vorfand. Auf Rhodes’ Schreibtisch lag ein Foto, das Fontaine darstellte und von der Zulassungsstelle stammte. Lena ging die Hintertreppe hinauf in die Kriminaltechnik, wo Henry Rollins, der für die forensische Analyse von Fotos zuständig war, an einem mit zwei Flachbildschirmen ausgestatteten Computer saß. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, der Raum abgedunkelt.
»Was machst du denn an einem Samstag im Büro?«, fragte sie.
Er grinste zwar, wirkte aber erschöpft. »Ich habe dein Video hier«, erwiderte er, »und schneide die Aufnahmen zusammen. Es dauert nur eine Sekunde.«
Lena trat ein, zog sich einen Stuhl heran und reichte ihm die DVD, die Avadar ihr gegeben hatte.
»Videos von den Geldautomaten«, erklärte sie.
»Die können wir parallel durchlaufen lassen.«
»Wo ist Rhodes?«
»Der ist telefonieren gegangen.«
Rollins wandte sich wieder den Bildschirmen zu, wo eine Reihe von Bildern so schnell vorbeisauste, dass man sie nur noch als Geflimmer wahrnahm. Nachdem er eine chronologische Abfolge festgelegt hatte, übertrug er die bereits gesichteten Einstellungen aus einem offenen Fenster auf dem zweiten Bildschirm. Die Aufnahmen waren kaum so groß wie ein Daumennagel und deshalb schwer zu erkennen. Als Lena sich vorbeugte, stellte sie fest, dass Rollins nicht nur die Überwachungsvideos aus den in der Vorhalle versteckten Kameras zusammensetzte, sondern sich auch die Mühe gemacht hatte, Aufzeichnungen der Kameras einzufügen, die die Straße vor dem Parker Center zeigten.
Sie lehnte sich zurück und sah zu, wie er die chronologische Abfolge beendete und dann rasch die Videoaufnahmen von den Kameras in der Bank herunterlud. Obwohl sie noch nie mit Rollins zusammengearbeitet hatte, kannte sie ihn, weil er wie sie mit Lamar Newton befreundet war, dem Polizeifotografen, der sich auch mit diesem Fall beschäftigte. Rollins war jung und durchtrainiert und hatte strahlende Augen und eine dunkle Haut. Erst vor drei Jahren hatte er seinen Abschluss an der University of California in Los Angeles gemacht. Er sprach zwar selbst nie darüber, aber es wurde gemunkelt, dass die Polizeibehörden von New York, Chicago und Miami versucht hatten, ihn mit einer beträchtlichen Bonuszahlung abzuwerben. Laut Newton hatte sich Polizeichef Logan persönlich eingeschaltet und Rollins überredet, in Los Angeles zu bleiben. Damals hatte ein Wettbieten um die besten Mitarbeiter noch Seltenheitswert gehabt, war inzwischen jedoch gängige Praxis.
Rhodes kam herein und nahm sich einen Stuhl. »Wie weit sind wir?«
»Gleich ist Showtime«, antwortete Rollins.
»Ich habe gerade mit Tito telefoniert«, meinte Rhodes zu Lena. »Fontaine hat zwei Leibwächter angeheuert.«
»Hat er sie selbst gesehen?«
»Ja, vom Nachbarhaus aus. Die beiden Typen haben hinten im Garten eine Zigarettenpause gemacht.«
»Und was schließt du daraus?«
»Ich weiß nicht so recht«, erwiderte Rhodes. »Tito will bei Fontaine anklopfen und sich erkundigen, ob er darüber reden möchte.«
Als ihre Blicke sich trafen, spürte Lena wieder, wie Furcht in ihr hochkroch. Inzwischen hatte Rollins den Anfang der chronologischen Abfolge angeklickt und drückte auf die Abstand-Taste. Die beiden Videos liefen ab. Beim Zuschauen wurde Lena den Eindruck nicht los, dass die bearbeitete Version eher wie ein fertiger Film aussah als wie Bilder aus einer Überwachungskamera. Außerdem hatten die Aufnahmen etwas Unheimliches an sich, und sie fühlte sich fast, als beobachte sie, wie sich vor ihren Augen ein Verbrechen abspielte. Rollins schaltete von Kamera zu Kamera und folgte dem Weg des Kuriers ab dem Moment, als er das einen Häuserblock entfernte, unterirdische Parkhaus verließ und die North Los Angeles Street entlangging. Die Kamera hing zwar ziemlich hoch, doch die Bilder waren in Farbe und um einiges deutlicher als die von den Geldautomaten, die auf dem zweiten Bildschirm zu sehen waren. Lena erkannte das Päckchen, das der Kurier unter dem Arm trug. Sie stellte fest, dass er das Gesicht abwandte und zu Boden blickte, als er auf dem Gehweg an zwei Polizisten vorbeikam.
»Es wird gleich besser«, verkündete Rollins. »Sobald er das Gebäude betritt, kriegt man viel mehr mit.«
Lena betrachtete den zweiten Bildschirm, wo der junge Mann Zahlen in die Tastatur des Geldautomaten eintippte, um dem Opfer den täglichen Höchstbetrag zu stehlen. Sie prägte sich die Kappe mit dem Emblem der Dodgers, die Lederjacke und vor allem die Form von Mund und Kinn ein. Als sie sich wieder dem ersten Bildschirm widmete, sah sie, wie der Kurier in derselben Kleidung ins Parker Center spazierte und durch die Vorhalle auf den Empfangstisch zusteuerte.
Er war es. Dass es sich bei dem Kurier, dem Jungen am Geldautomaten und aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei dem Zeugen, der in der Nacht des brutalen Mordes Jane Does Entführung beobachtet hatte, um ein und dieselbe Person handelte, stand außer Frage. Der Mann war achtzehn oder neunzehn Jahre alt und hatte langes braunes Haar und eine blasse Hautfarbe. Außerdem war er mager, wirkte nervös und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Völlig fertig und verängstigt, dachte Lena. Ein Süchtiger auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Ein Mensch, der auf der Straße lebte und jetzt die Taschen voller Geld, allerdings keine Adresse hatte.
»Er bewegt unter dem Mützenschirm die Augen hin und her«, merkte Rhodes an.
Rollins wies auf die Aufnahme. »Er weiß, dass da Kameras hängen, ist jedoch nicht sicher, wo. Also versucht er, sie zu entdecken, ohne dass es jemandem auffällt, denn er ahnt nicht, dass es zwecklos ist. Er läuft genau vor die Linse.«
Lena starrte auf den Bildschirm, während der junge Mann näher kam. Die Kamera befand sich unmittelbar vor ihm und zeichnete seinen Gesichtsausdruck auf. Jedes Blinzeln und jeden Atemzug. Er hatte die Kamera noch immer nicht gefunden und konnte sich deshalb nicht unter dem Schirm seiner Baseballkappe verstecken. Als er am Empfang stehen blieb, bemerkte Lena den Imbissstand im Hintergrund. Die beiden Polizisten, die das Päckchen entgegennahmen, unterhielten sich mit einem Kollegen, der sich gerade ein Sandwich kaufte. Alle drei lachten wie über die Pointe eines guten Witzes. Und so achtete niemand auf den Jungen, der rasch wieder die Vorhalle durchquerte und durch die Tür verschwand.
Während Lena weiter den Bildschirm im Auge behielt, schaltete Rollins zurück zur Uberwachungskamera vor dem Gebäude und folgte dem Jungen die Straße entlang.
»Schaut euch den Gehweg an«, sagte er. »Dieselbe Straßenseite, einen halben Häuserblock weiter.«
Lena betrachtete den Gehweg bis zur nächsten Straßenecke. Zwei Sekunden später wurde ihr klar, dass sie selbst in den Radius der Kamera geraten war. Sie erinnerte sich an ihren Besuch im Blackbird Café nach der Autopsie und an ihre Begegnung mit Denny Ramira. Der Junge musterte sie, als sie einander auf dem Gehweg passierten. Nur dass er sich diesmal nicht abwandte, sondern sie anstarrte, bevor er scharf nach links abbog und sich in das unterirdische Parkhaus verdrückte.
Es wunderte Lena nicht weiter, dass die beiden uniformierten Kollegen am Empfang, nach dem Überwachungsvideo zu urteilen, kaum auf den Kurier geachtet hatten. Auch ihre Zufallsbegegnung mit dem Jungen auf dem Gehweg war nicht weiter von Bedeutung, denn beide Ereignisse waren, ausgehend vom damaligen Wissensstand, völlig harmlos. Was sie jedoch beschäftigte, war, dass der Junge sich eigens die Mühe gemacht hatte, ihr das Päckchen persönlich zu überbringen. Sie dachte an den Inhalt des Umschlags. Jane Does Führerschein und ein kurzes Video, aufgenommen mit einem Mobiltelefon, das ihre Entführung zeigte. Der Junge lebte offensichtlich in der Westside. Außerdem hatte er, wenn auch vergeblich, versucht, den Linsen der Überwachungskameras auszuweichen. Warum also hatte er nicht die einfachere Methode gewählt, ihr den Umschlag mit der Post zu schicken?
Während Lena weiter darüber nachgrübelte, entstanden weitere Fragen. Weshalb bestahl er das Opfer, obwohl er ein schlechtes Gewissen hatte? Sicher hatte er am Geldautomaten den Kontostand abgefragt und wusste, dass das Konto prall gefüllt war. Falls es ihm also nur auf das Geld ankam, war es doch viel zu zeitaufwändig und riskant gewesen, das Päckchen selbst zu übergeben. Außerdem hätte er ohne das Päckchen zwei oder drei Wochen Zeit gewonnen, um das Konto unbemerkt abzuräumen.
Ein weiterer Widerspruch in einem Fall, der immer verworrener wurde. Wieder eine Einzelheit, die keinen Sinn ergab.
Lena schaute auf den Monitor. Rollins hatte die Aufnahme vom Parkhaus noch ein oder zwei Minuten im Bild behalten, doch es kam kein Auto heraus. Ihr Zeuge hatte sich in Luft aufgelöst.
»Ich habe die nächsten dreißig Minuten vorgespult«, verkündete Rollins. »Alle Autos haben das Parkhaus in Richtung Temple Street verlassen, aber er saß in keinem davon. Vielleicht hat er sich nur am Imbissstand etwas zu Essen besorgt.«
»Oder er wusste von den Kameras auf der Straße und wollte sich auf diese Weise aus dem Staub machen«, sagte Rhodes. »Wie lange dauert es, Standaufnahmen von seinem Gesicht auszudrucken?«
»Ist bereits geschehen. Das habe ich bei der Bearbeitung des Videos erledigt.«
Rollins nahm die Fotos aus der Ablage des Druckers und reichte sie herum. Als er zur Tür schaute, drehte Lena sich ebenfalls um und stellte fest, dass Klinger gerade den Raum betrat. Offenbar hatte er sie beobachtet und belauscht, denn er hatte so lange reglos verharrt, bis sie ihn von selbst bemerkt hatten.
Rollins reichte Klinger eine Kopie des Ausdrucks. Nachdem dieser das Foto gemustert hatte, sah er Lena mit Unschuldsmiene an.
»Wir haben es doch nicht etwa mit einem Serientäter zu tun?«
»Nein«, erwiderte sie. »Alles weist auf starke persönliche Motive hin.«
»Und wie erklären Sie sich dann, dass er die Leiche zerstückelt hat?«
»Er musste sie irgendwie beseitigen, und zwar auf eine ihm vertraute Methode.«
Klinger ließ sich ihre Antwort eine Weile durch den Kopf gehen.
»Tja, zumindest machen Sie Fortschritte, Gamble. Wir alle haben Verständnis für Ihre Rückschläge. Ich werde sehen, ob ich das Foto des Zeugen heute Abend in den Nachrichten unterbringen kann. Vielleicht erkennt ihn ja jemand. Wir hätten ein bisschen Glück verdient. Könnte ja sein, dass sich jemand meldet.«
Lena blickte Klinger an und dachte dabei an ihr angezapftes Telefon und die beiden Detectives von der internen Abteilung. Sosehr sie auch versuchte, aus diesem Mann schlau zu werden, spürte sie nur scheinbare Hilfsbereitschaft, die sie ihm nicht abkaufte. Sie traute ihm nicht über den Weg. Als sein Mobiltelefon läutete und er ein paar Schritte ging, um den Anruf anzunehmen, änderte sich sein Augenausdruck nicht. Er blieb stets offen, gelassen und frei von jeglicher Ironie.
Lena schob die Grübeleien beiseite und wandte sich wieder an Rollins. »Was macht das Video, das uns der Zeuge geschickt hat?«
»Deshalb bin ich ja heute ins Büro gekommen. Ich wollte es euch zeigen.«
Er machte sich erneut an seinem Computer zu schaffen, verkleinerte die offenen Fenster und rief ein weiteres Programm auf. Auf dem großen Bildschirm öffneten sich zwei weitere Fenster. Das erste Foto war identisch mit der an die Fernsehsender geschickten Standaufnahme: ein Schnappschuss, der zeigte, wie der Mörder sich auf dem dunklen Parkplatz über die auf dem Boden liegende Jane Doe beugte. Als Lena das Foto betrachtete, war sie machtlos gegen ihre Enttäuschung. Die Aufnahme war und blieb verschwommen, das Gebäude mit der Neonreklame auf dem Dach versank in einem Flimmern.
Doch als ihr Blick auf das zweite Bild fiel, stand sie auf und näherte sich dem Monitor. Auf dem Schirm waren sechs Gesichter zu sehen. Sechs Männer mit ähnlichen Gesichtszügen und graublondem Haar. Die Fotos wirkten wie aus einem Verbrecheralbum, einer Bildergalerie, um Zeugen die Identifizierung zu erleichtern.
»Wer ist das?«, fragte sie Rollins.
»Der Mann, der Jane Doe auf dem Gewissen hat.«
Rhodes trat neben Lena und musterte den Bildschirm. »Welchen davon meinst du?«
»Alle sechs«, entgegnete Rollins. Er wies auf die Standaufnahme aus dem Video des Zeugen. »Auch wenn der Bildausschnitt aus dem Video undeutlich ist, enthält er dennoch Informationen. Hier seht ihr sechs digitale Rekonstruktionen vom Gesicht des Mörders. Es handelt sich um die sechs wahrscheinlichsten Versionen seiner Züge, basierend auf den in dem Foto enthaltenen Daten.«
Klinger beendete sein Telefonat und stellte sich neben Rollins. Lena betrachtete weiter den Bildschirm. Die Fotos waren gestochen, ja, fast übertrieben scharf. Während sie sie musterte, um sie sich einzuprägen, hatte sie das Gefühl, dass sie zu gut waren, um wahr zu sein. Inzwischen galt alle Aufmerksamkeit im Raum dem jungen Kriminaltechniker.
»Der Mann, den ihr sucht, weist mit jedem dieser Fotos einige grundlegende Ähnlichkeiten auf«, erklärte er. »Wie genau diese Übereinstimmungen sind, wissen wir erst, wenn ihr ihn tatsächlich geschnappt habt. Aber eines verspreche ich euch. Wenn ihr diesem Kerl endlich gegenübersteht, wird er euch sehr bekannt vorkommen.«
»Als ob sie dieselbe Mutter hätten«, fügte Rhodes hinzu. »Ähnlich und doch verschieden.«
»Richtig. Variationen zum Thema >Das Antlitz eines Mörders<.«
Lena wechselte einen raschen Blick mit Rhodes. »Keines dieser Gesichter sieht aus wie Fontaine. Wir müssen eine Kopie dieser Bildergalerie ans Medical Center der Universität schicken. Falls er vor seinem Auslandseinsatz dort ausgebildet wurde, kann ihn vielleicht jemand identifizieren.«
Klinger schüttelte den Kopf. »Barrera hat den Polizeichef bereits über eine mögliche Verbindung zum Krankenhaus in Kenntnis gesetzt und ihm mitgeteilt, der Gesuchte könnte medizinische Vorkenntnisse besitzen. Also ist es jetzt Chefsache. Das Medical Center wird außerhalb dieses Raumes nicht erwähnt.«
Wieder wechselten Lena und Rhodes einen Blick. Diesmal jedoch teilte sie Klingers Auffassung und fand die Motive des Polizeichefs nachvollziehbar. Der Täter konnte nur im Rahmen eines vom Verteidigungsministerium finanzierten Lehrgangs in Berührung mit dem Medical Center gekommen sein. Deshalb bestand kein Grund, den guten Ruf der Klinik aufs Spiel zu setzen, nur weil jemand vermutlich ein paar Monate in der dortigen Notaufnahme ausgeholfen hatte. Eine solche Situation ließ sich diskreter, außerhalb der Mordermittlungen und mit demselben Ergebnis klären.
Lena drehte sich zu dem Kriminaltechniker um. »Kannst du aus dem Original sonst noch was rausholen?«, erkundigte sie sich. »Irgendetwas, das uns Hinweise auf den Tatort liefern würde?«
Rollins grinste. Dann griff er zur Maus und klickte einen großen weißen Fleck im blauschwarzen Himmel über dem Gebäude an.
»Daran tüftle ich schon den ganzen Vormittag herum. Dieser Fleck ist in Wahrheit ein Flugzeug, das gerade mit ausgeklapptem Fahrwerk zum Landeanflug ansetzt. Als ich die Schatten rekonstruiert und die Räder nachgezählt habe, wurde mir klar, dass es sich um eine große Maschine handelt. Der einzige Flughafen, der für einen derartigen Koloss in Frage kommt, ist LAX. Also muss der Parkplatz irgendwo östlich des Flughafens liegen. Anderthalb bis drei Kilometer vom LAX entfernt.«
»Es ist das Cock-a-doodle-do«, verkündete Klinger.
Alle wandten sich zum Assistenten des Polizeichefs um, der seinerseits das Foto anstarrte.
»Es ist das Cock-a-doodle-do«, wiederholte er im Brustton der Überzeugung. »Die besten Hühnchen in LA. Das Lokal befindet sich direkt in der Einflugsschneise, ein Stück ab vom Freeway 101 an der Prairie Avenue. Die Abteilung für Interne Ermittlungen beobachtet den Laden nun schon seit zwei Jahren. Er ist bei Polizisten sehr beliebt.«
Lena sah Klinger fragend an. »Warum interessiert sich die interne Abteilung dafür, wo die Kollegen sich ihren Imbiss holen?«
»Weil es auch ein Puff ist«, erwiderte er.