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Lena saß in ihrem Auto, das auf dem Seitenstreifen des Hollywood Freeway in Echo Park stand. Sobald sie bemerkt hatte, dass Cava am Apparat war, war sie rechts rangefahren. Nicht vor Schreck, nein, das konnte sie wegstecken. Sie hatte seine Stimme hören, aufmerksam lauschen und sich ganz auf den Augenblick konzentrieren wollen.
Nun blickte sie über die Fahrbahnbegrenzung aus Beton hinweg und betrachtete die Autos, die auf dem Glendale Boulevard unter dem Freeway in beide Richtungen unterwegs waren. Der Echo Lake war fast nicht zu sehen. Von der Küste war Nebel herangezogen, der sich kühl herabsenkte und das Tal füllte wie Beton eine Gussform.
Cava hatte behauptet, sie habe etwas übersehen. Etwas Wichtiges.
Und sie zweifelte nicht daran, dass er die Wahrheit sagte. Das hatte sie an seiner Stimme erkannt. Inzwischen spürte sie es auch im Bauch. Es war das Rädchen, das ihren inneren Kompass steuerte, auf den sie sich verließ, damit er ihr den Weg wies.
Ihr fehlte noch eine Information, die in diesem Fall von Bedeutung war.
Ihr Mobiltelefon auf dem Beifahrersitz vibrierte. Als sie Barreras Namen auf der Anzeige erkannte, klappte sie es auf.
»Wo sind Sie?«, fragte er.
»Echo Park«, erwiderte sie. »Auf dem Heimweg.«
»Fahren Sie nicht nach Hause, Lena.«
Sein Tonfall erschreckte sie. »Was ist passiert?«, erkundigte sie sich. »Stimmt etwas nicht?«
»Fahren Sie nicht nach Hause«, wiederholte er. »Ich bin in Hollywood. Wir müssen reden.«
»Wo?«
»Was halten Sie von dem Parkplatz vor dem Capitol-Records-Gebäude? In zehn Minuten?«
Wieder regte sich ihr innerer Kompass. »Bis gleich«, sagte sie.
Mit zitternder Hand klappte sie das Telefon zu. Dann zündete sie eine Zigarette an und fuhr los. Der Verkehr strömte flüssig durch den Nebel auf den Cahuenga Pass zu. Fast zu flüssig. Oder narrte sie ihre Phantasie und gaukelte ihr Dinge vor, die es gar nicht gab? Verbindungen, die nicht existierten? Beim Einbiegen in den Parkplatz bemerkte sie einen Lincoln Town Car hinten am Maschendrahtzaun. Auf der anderen Seite des Zaunes befand sich die Vista Del Mar, eine kleine Seitenstraße in Hollywood, wo Lena vor so vielen Jahren die Leiche ihres Bruders gefunden hatte.
Kein gutes Omen.
Lena warf die Zigarette weg und stieg aus. Als sie den leeren Parkplatz überquerte und auf den Lincoln Town Car zuging, öffnete sich die rückwärtige Tür. Die Innenbeleuchtung sprang an. Barrera saß am Steuer neben einem Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Lenas Blick wanderte zum Rücksitz. Sie erstarrte.
Es war der Polizeichef. Die drei hatten ihr aufgelauert.
Lena wich langsam zurück, ohne die Männer aus den Augen zu lassen. Im nächsten Moment machte sie kehrt und rannte los. Während Barrera den Town Car ruckartig in Bewegung setzte, hechtete Lena in ihr Auto, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und gab Gas. An der Vine Street bog sie scharf nach links ab und nahm Kurs den Hügel hinab in den Verkehrsstau. Der Town Car blieb ihr dicht auf den Fersen und beschleunigte immer mehr mit quietschenden Reifen.
Lena überfuhr die rote Ampel am Hollywood Boulevard und trat das Gaspedal durch. Dabei schaute sie immer wieder in den Rückspiegel. Barrera kam näher. Lena zermarterte sich das Hirn nach einer zündenden Idee, griff nach ihrem Telefon, wählte Rhodes’ Nummer und wartete. Es dauerte eine schiere Ewigkeit. Außerdem hörte sie ein Piepsen. Offenbar versuchte noch jemand, ihn zu erreichen. Ihr Honda hatte Schaltgetriebe. Bei dieser Geschwindigkeit konnte sie nicht gleichzeitig das Telefon festhalten und schalten. Endlich hob Rhodes ab.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Venice Beach.«
»Rühr dich nicht von der Stelle, und lass das Telefon an.«
»Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich melde mich, sobald ich da bin.«
Sie warf das Telefon auf den Beifahrersitz und griff nach dem Schaltknüppel. Auf gerader Strecke konnte sie der Town Car mühelos einholen. Also fuhr sie im Zickzackkurs nach La Brea und erreichte endlich den Santa Monica Freeway. Allerdings konnte sie Barrera nicht mehr im Rückspiegel erkennen. Es waren einfach zu viele Scheinwerfer, zu viele andere Fahrzeuge und zu viele blendende Lichter. Inzwischen hatte sie beinahe hundertvierzig Sachen drauf. Während sie immer wieder die Fahrbahn wechselte, hielt sie Ausschau nach einem ganz bestimmten Scheinwerferpaar, das sie verfolgte. Etwa anderthalb Kilometer später glaubte sie, fündig geworden zu sein. Doch als das Auto mit einhundertfünfzig Stundenkilometern an ihr vorbeiraste, stellte sie fest, dass es ein tiefer gelegter Honda mit Xenonscheinwerfern und verlängertem Endrohr war.
Sie wechselte die Spur, behielt den tiefer gelegten Wagen im Auge und blickte ihm im Verkehrschaos nach. An der Ausfahrt Lincoln Boulevard angekommen, sauste sie unvermittelt über drei Fahrspuren hinweg und raste die Rampe hinauf. Wieder ein Blick in den Spiegel. Es war dunkel und neblig. Sie hatte den Town Car abgehängt.
Lena atmete tief durch und überlegte, ob sie sich ein Versteck suchen sollte, während sie Rhodes noch einmal anrief, um herauszufinden, was gespielt wurde. Endlich in der Navy Street angekommen, kontrollierte sie erneut den Rückspiegel und wendete.
Hier war der Nebel dichter. Er waberte vom Pazifik über die Gebäude und Straßen hinweg und tauchte alle Ecken in einen Dämmerschein.
Lena kurvte um den Block, bis sie hinter der nächsten Ecke einen Parkplatz gefunden hatte. Dann nahm sie Jennifer Blooms Schlüssel aus dem Aktenkoffer und hastete den Gehweg entlang ins Haus.
Der Fernseher hallte aus Jones’ Wohnung bis ins Treppenhaus hinaus. Gelächter und Summertöne deuteten auf eine Quizsendung hin. Zu ihrer Erleichterung hatte sie ihn vorhin nicht am Fenster gesehen. Lena eilte die Treppe hinauf und öffnete die Tür. Nachdem sie Licht gemacht hatte, lehnte sie sich von innen gegen die Tür und dachte über Barreras Verhalten nach.
Was Verrat bedeutete, wusste sie nur zu gut. Sie kannte das Gefühl, das einen Menschen durchdrang, ihn von innen heraus zerfraß und alles vernichtete und zerstörte, was einmal gewesen war. Damit hatte sie ihre Erfahrungen. Es war ihr vertraut, ebenso wie die Narben, die davon zurückblieben. Und dennoch verschlug ihr das Entsetzen fast den Atem.
Lena knipste im Wohnzimmer und im Schlafzimmer das Licht an. Doch offenbar nützte es nichts, die Dunkelheit zu vertreiben. Als sie sich zum Gehen anschickte, fiel ihr plötzlich etwas auf. Sie drehte sich um. Etwas stimmte nicht. Etwas fehlte. Sie musterte den Raum und glich ihn mit ihren Erinnerungen ab. Dann blieb ihr Blick am Nachtkästchen hängen. Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter.
Die Schneekugel war verschwunden.
Lena sah auf dem Boden auf der anderen Seite des Bettes und auf der Kommode nach. Wann war sie das letzte Mal hier gewesen? Schneeflocken, die auf Las Vegas fielen.
Und im nächsten Moment hörte sie das Geräusch. Das Knirschen eines Dielenbretts. Es war noch jemand in der Wohnung.
Lena schlich aus dem Schlafzimmer und durchquerte auf Zehenspitzen den Flur. An der Glastür angekommen, blieb sie stehen und spähte durch die Scheibe ins Wohnzimmer. Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, was sie da sah, und starrte, von Aufregung ergriffen, in den Raum.
Er war es – dieselbe Lederjacke und die Kappe mit dem Emblem der Dodgers.
Der verschwundene Zeuge, der sich gerade, die Schneekugel in der Hand, aus der Küche und in Richtung Fenster und Feuerleiter pirschte.
Der Dieb mit dem schlechten Gewissen, der ihr erst das Päckchen geschickt und dann mit der gestohlenen Automatenkarte das Konto des Opfers geplündert hatte. Achtzehn oder neunzehn Jahre alt, braunes Haar und blasse Haut. Eher der magere und nervöse Typ mit dunklen Ringen unter den Augen. Der Versager, der ständig Geld für neuen Stoff brauchte.
Lena hatte gerade einen Einbrecher ertappt. Der Zeuge war nicht an einer Überdosis gestorben und lag im Leichenschauhaus auf einer Bahre. Stattdessen hatte der kleine Dreckskerl auf Zeit gespielt und bis heute Abend gewartet. Und jetzt räumte er die Wohnung aus.
Lena trat um die Ecke und ins Wohnzimmer. Bei ihrem Anblick ließ der Junge die Schneekugel fallen und rannte zum Fenster. Es stand zwar schon einen Spalt weit offen, schien jedoch zu klemmen. Lena stürmte durchs Zimmer und packte den Einbrecher an den Schultern. Als sie ihn vom Fenster wegriss, fielen sie beide rücklings auf den Boden. Der Junge stöhnte auf und schien in Panik zu sein. Sie spürte, wie er unter ihr zappelte und mit Armen und Beinen ruderte.
Aber er war kleiner als sie und außerdem zierlicher gebaut. Lena versetzte ihm einen kräftigen Schubs, drehte ihn auf den Rücken und setzte sich rittlings auf ihn. Dann hielt sie ihm die Hände über dem Kopf fest und zog ihm die Dodgers-Kappe weg.
Einen Moment herrschte Schweigen, als die beiden einander wortlos musterten und sich in die Augen starrten.
Plötzlich nahm Lena den Körper unter sich bewusst wahr. Eine lange Liste von Informationen, die einfach nicht zusammenpassen wollten. Die breiten Hüften, der Geruch, die braunen Augen, weit aufgerissen und mit wildem Blick.
Lena ließ los und stand auf. Der Zeuge rührte sich nicht, sondern schaute nur keuchend zu ihr auf. Lena hatte noch Cavas Stimme im Ohr. Ihr innerer Kompass vibrierte. Sie hatte etwas übersehen, und zwar etwas Wichtiges.
Erneut betrachtete sie das Gesicht ihres Gegenübers. Den Körperbau. Die Luft im Raum schien auf einmal weiß zu glühen wie eine schmutzige Bombe. Sie hatte nicht den Zeugen erwischt und festgenommen. Vor ihr lag das Opfer.
»Sie sind Jennifer Bloom«, sagte sie. »Und ich ermittle gegen Ihren Mörder.«