51

Lena beobachtete, wie zwei Polizisten Tremell Handschellen anlegten, ihm seine Rechte vorlasen und ihn von der Leiche seines Sohnes wegbrachten, die noch immer im Gras lag. Auf dem Weg durch die Dunkelheit starrte Tremell zu Boden. Seine Lippen zitterten, und seine Schultern waren gebeugt. Er stand vor den Trümmern seines Lebens, weshalb es auch keinen Grund mehr gab, noch etwas zu ihm zu sagen. Es war zwecklos, ihn als Dreckskerl zu bezeichnen, auch wenn ein Mitarbeiter der Spurensicherung trotzdem etwas dergleichen murmelte. Allerdings bezweifelte Lena, dass der Betroffene es gehört hatte.

Als sie den Hügel hinaufblickte, stellte sie fest, dass Rhodes gerade Tremells Chauffeur befragte. Dann drehte sie sich wieder zu Barrera um. Sie standen neben dem Krankenwagen, wo die Sanitäter Jennifer Bloom für den Abtransport ins Krankenhaus vorbereiteten. Lena hatte von einem der Sanitäter eine Zigarette geschnorrt. Das war einfach nötig gewesen.

»Ich fand die Idee von Anfang an nicht gelungen«, meinte Barrera. »Mir war klar, dass Sie vom Schlimmsten ausgehen würden, sobald sie den Polizeichef im Auto sahen.«

»Und Sie hatten Recht«, erwiderte sie. »Genau das ist passiert.«

»Ich wusste, dass Sie mir nicht glauben und keinen meiner Anrufe annehmen würden. Aber er wollte unbedingt dabei sein. Er hat darauf bestanden.«

»Wo ist er?«

»Auf dem Weg ins Präsidium zur Pressekonferenz.«

Lena schaute auf die Uhr. Es fühlte sich an wie vier oder fünf Uhr morgens. Als sie feststellte, dass es erst halb elf war, konnte sie es kaum fassen. Doch im nächsten Moment fiel ihr ein, dass sie seit drei Tagen kaum geschlafen hatte.

»Der Polizeichef wollte es Ihnen persönlich mitteilen«, sprach Barrera weiter. »Sie sollten es von ihm erfahren.«

»Was sollte ich erfahren?«

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

Lena zog an ihrer Zigarette. »Was wollte er mir denn sagen?«

Kurz malte sich ein spöttisches Lächeln auf Barreras Gesicht. »Er wollte Sie vor Klinger warnen und befürchtete, Ihnen könnte in Ihrem Haus Gefahr drohen. Wie bereits erwähnt, Lena, spielt es jetzt keine Rolle mehr.«

»Vermutlich nicht«, erwiderte sie. »Wer war denn der Typ auf dem Beifahrersitz?«

»Sein neuer Assistent.«

»Handverlesen aus der inneren Abteilung?«

»Nein. Abe Hernandez kommt aus der Pacific Division. Ich kenne ihn schon seit zehn Jahren. Ein fähiger Mann.«

Als Barreras Mobiltelefon läutete, trat er ein paar Schritte beiseite, um den Anruf anzunehmen. Lena kehrte zu Jennifer Bloom zurück. Inzwischen hatte man sie auf eine Trage geschnallt und wollte sie in den Krankenwagen schieben.

Sie griff nach Lenas Hand und hielt sie fest, ohne etwas zu sagen. Sie sah sie einfach nur an.

»Alles wird gut«, meinte Lena. »Ihnen kann nichts mehr passieren. Ich besuche Sie morgen, damit wir reden können. Soll ich Ihren Bruder anrufen?«

»Es könnte ein Schock für ihn sein, meine Stimme zu hören. Er hat viel durchgemacht.«

»Ich bringe es ihm schonend bei.«

Bloom ließ ihre Hand los. Lena wartete, bis der Krankenwagen davongefahren war, ging ein Stück den Hügel hinauf und setzte sich ins Gras. Während sie den Kriminaltechnikern von der Spurensicherung bei der Arbeit zuschaute, versuchte sie, nicht an eine heiße Dusche und ihr gemütliches Bett zu denken. Von der Schießerei klingelten ihr noch die Ohren, und ihr tat jeder Knochen im Leibe weh, als hätte man sie aus einem fahrenden Auto geworfen.

Da die Ermittler aus dem Büro des Leichenbeschauers noch nicht eingetroffen waren, hatte niemand die Toten bewegt. Justin Tremell war wegen der Entfernung kaum auszumachen. Nebel hüllte seine Leiche ein. Doch Lena konnte Dobbs und Ragetti gut erkennen. Der eine war auf den Rücken gefallen, der andere auf den Bauch.

Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette. Die hohe Anzahl von Opfern machte ihr zu schaffen. Als sie aufstand und den Hügel hinaufblickte, rangierte der Transporter des Leichenbeschauers gerade rückwärts in den Parkplatz. Ed Gainer sprang aus dem Wagen, bemerkte sie und winkte sie zu sich.

»Was ist denn mit Ihrem Mobiltelefon los, Lena?«

Sie zog das Gerät aus der Tasche und untersuchte es. Der Akku war leer.

»Was ist passiert?«, erkundigte sie sich.

»Madina hat versucht, Sie zu erreichen«, erwiderte er. »Er wollte Ihnen etwas zeigen.«

Sie folgte Gainer zum Heck des Transporters und sah zu, wie er die Tür öffnete. Anscheinend hatte er auf der Herfahrt einen Zwischenstopp eingelegt, denn es befand sich bereits ein Leichensack an Bord.

»Was soll ich mir denn anschauen?«

Gainer zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Er meinte, Sie würden schon verstehen, worauf er hinauswill. Sie kennen Madina ja. Manchmal drückt er sich ziemlich geheimnisvoll aus, so als hätte er an diesem Tag eine Autopsie zu viel durchgeführt. Wahrscheinlich lässt dieser Job niemanden kalt. All die Leichen. Mir macht es zumindest zu schaffen.«

Mit einem Auflachen zog er den Leichensack näher zur Tür.

»Was tun sie da, Ed?«

Er drehte sich um und musterte sie. »Das ist es, was er Ihnen zeigen wollte. Denny Ramira. Er hatte schon mit der Autopsie angefangen, hat aber wieder aufgehört und weil Sie das interessieren könnte.«

Lena rang um Fassung. Für heute hatte sie genug Tote zu Gesicht bekommen und wollte nur noch, dass dieser Tag endlich vorbei war. Außerdem befürchtete sie, es nicht zu verkraften, wenn sie noch einen Blick auf Denny Ramiras Leiche werfen musste. Gainer öffnete den Leichensack und schlug die Plastikfolie beiseite. Lena musterte Denny Ramiras Gesichtsverletzungen und seine Augen. Das Bratenthermometer steckte noch in seiner Brust. Als ihr der Geruch aus dem Plastiksack in die Nase stieg, war sie kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

Gainer griff in den Leichensack und hob Dennys linken Arm an. Dann schaltete er die Taschenlampe ein und drehte die Hand des toten Reporters herum. Plötzlich war Lena hellwach, und ihre Benommenheit war schlagartig wie weggeblasen.

»Wissen Sie, ob das fotografiert wurde, Ed?«

Gainer nickte. »Alles ist dokumentiert und liegt in den Akten. Nachdem das Foto gemacht worden war, hat Madina die Autopsie gestoppt und die Leiche in meinen Wagen verfrachtet. Was ist das?«

Lena starrte auf die Nadel, die in Denny Ramiras linker Handfläche steckte. In der Handfläche, die sie beim Auffinden der Leiche auf dem Küchenfußboden nicht hatte untersuchen können, weil seine Hand im Tod zur Faust verkrampft gewesen war. Als guter und erfahrener Kriminalreporter hatte Denny sicher gewusst, dass er eine chemische Reaktion im Körper auslösen würde, wenn er die Hand zum Zeitpunkt seines Todes zur Faust ballte. Seine Finger waren so fest geschlossen gewesen wie ein Banksafe, bis sie sich nach dem Abklingen der Leichenstarre wieder lockerten. Auf diese Weise hatte er sein Geheimnis länger als einen Tag hüten können. Indem er sich die Nadel in die Hand gestoßen und sie in seinen letzten Lebensminuten umklammert hatte, hatte er Zeit gewonnen und Lena den Namen seines Mörders genannt.

Der Anblick allein versetzte Lena einen Stich ins Herz.

Sie klappte den Leichensack auf und betrachtete lange Ramiras Gesicht. Das Bratenthermometer hatte von Anfang an ihren Verdacht erweckt, dass mit diesem Mord irgendetwas im Argen lag. Das Fehlen einer Blutung hatte ihr verraten, dass es ihm erst nach seinem Tod in die Brust gebohrt worden war. Eine kleine Dreingabe, die nichts mit der eigentlichen Tat zusammenhing. Seit diesem Moment zweifelte Lena daran, dass Cava oder Klinger der Mörder war. Eigentlich war sie in der letzten Stunde zu dem Schluss gekommen, dass der Mord auf das Konto von Dobbs und Ragetti ging, denn die Schläge ins Gesicht hätten zu den beiden Gorillas gepasst. Immerhin hatten die ehemaligen Polizisten auch früher nicht vor Gewaltanwendung zurückgescheut. Und außerdem hatten sie laut Tremell Ramiras Telefon abgehört.

Inzwischen jedoch war Lena sicher, dass keiner der gerade genannten Männer der Schuldige war. Sie hatte es hier mit einem ungeschickten Versuch zu tun, einen Zusammenhang zwischen dem Mord an Ramira und den anderen Verbrechen herzustellen und Cava als Sündenbock zu opfern. Das erklärte auch, warum Cava während der Vernehmung das Foto von Ramiras totem Hund so lange angestarrt hatte. Er hatte sich einfach verhalten wie ein Mensch, der so etwas zum ersten Mal sah. Deshalb also hatte er um Bedenkzeit gebeten und sie später angerufen. Er hatte seine Gründe gehabt, sie zu warnen.

Nathan G. Cava hatte ebenfalls Lunte gerochen.

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