EINUNDSECHZIG ♦
Invincible Angus’ Bemühungen, sich aus dem Kühlraum zu befreien, hatten ihn in einen Zustand extremer Hilflosigkeit versetzt. (Und der Kühlraum seinerseits außerdem in einen Zustand extremer Kälte.) Die Wut darüber, von einem Idioten wie Sanchez ausgetrickst und eingesperrt worden zu sein, brannte in ihm wie ein ständig höher loderndes Feuer. Es steigerte seinen Wunsch, irgendjemanden zu töten, ob Sanchez oder einfach die nächste Person, die ihm über den Weg lief, war eigentlich egal.
Indem er versuchte, das Schloss mit einem Schuss von innen zu öffnen, hatte er es lediglich geschafft, Sanchez zu vertreiben. Einen Schuss auf die Stahltür abzufeuern, hatte sich als keine sehr glückliche Idee erwiesen. Die Kugel prallte von der Stahltür ab und schlug in die Decke ein. Falls er es mit weiteren Schüssen versuchte, könnte Angus das unglückliche Opfer einer Schusswunde sein, hervorgerufen durch einen Querschläger aus seiner eigenen Waffe.
Beinahe zwanzig Minuten lang fror er sich den Arsch ab, während er mit verschiedenen anderen Methoden versuchte, das Türschloss aufzubrechen. Zuerst wählte er den Frontalangriff und rammte seine Schulter gegen die Tür. Doch damit handelte er sich nur heftige Schmerzen ein. Dann hämmerte er mit dem Griff seiner Pistole auf das Schloss ein. Auch das ohne Erfolg. Sein dritter Versuch war genauso unproduktiv. Während die Kälte seinem Denkvermögen immer heftiger zusetzte, schaute er sich im Kühlraum nach irgendetwas um, womit er dem Schloss zu Leibe rücken könnte. Da das nützlichste Werkzeug, das er finden konnte, ein gefrorener Hähnchenschenkel war, war das Resultat unausweichlich.
Obgleich er seinen langen Trenchcoat und ein Paar dicker Kampfstiefel trug, spürte er die Kälte immer deutlicher. Da die Zeit knapp wurde und die Kälte ihm bis auf die Knochen drang, beschloss er, noch einmal auf das Schloss zu schießen. Natürlich müsste er um einiges vorsichtiger zu Werke gehen, daher zog er sich ein Stück weiter zurück und suchte Deckung hinter einer der Regalreihen und feuerte aus größerer Distanz. Seine Hände zitterten vor Kälte, was seine Zielsicherheit erheblich beeinträchtigte. Daher musste er abermals den Kopf einziehen und Schutz suchen, während die Kugel als Querschläger kreuz und quer durch den Kühlraum sirrte. Diesmal erbrachte der Schuss jedoch ein positives Resultat, wenn es auch nicht so ausfiel, wie er es beabsichtigt hatte. Als er dachte, alle Möglichkeiten erschöpft zu haben, hörte er aus der Küche einen lauten Ruf.
»Ist jemand da drin?«
Angus rannte zur Tür und brüllte: »Jaaa. Helfen Sie mir! Ich bin in diesem verdammten Eisschrank eingeschlossen!«
Der Klang von Schritten, die sich der Kühlraumtür näherten, war einer der willkommensten Laute, die er je gehört hatte. Ein leises Klicken folgte und die Tür wurde aufgezogen. Am ganzen Leib heftig zitternd, kam Angus herausgerannt. Auf der anderen Seite der Tür stand der junge dunkelhaarige Barkeeper, der ihm mit einem Winken angezeigt hatte, dass Sanchez in die Küche geflüchtet war. Er erschien zu gleichen Teilen entsetzt und verwirrt. Zuerst nahm Angus an, dass der Anblick seiner Pistole den jungen Mann erschreckt hatte, doch sein Gesicht war totenblass und er sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Angus warf einen Blick auf das Namensschild an seiner roten Weste.
»Danke, äh – Donovan. Ich dachte schon, ich müsste da drin erfrieren«, sagte er zähneklappernd. Er begann sich die Eiskristalle von der Kleidung abzuklopfen, um mit etwas noch viel Schlimmerem als der Kälte konfrontiert zu werden. Hinter Donovan sprang die Tür zwischen der Bar und der Küche auf, und die abstoßende Gestalt eines bleichhäutigen männlichen Zombies erschien. Er trug zerfetzte Kleider und hatte kaum noch Haare, sondern nur einen bleichen, stinkenden Schädel, der zu seinem fleischlosen Gesicht und den roten Augen passte.
»Sie sind überall, Mann!«, brüllte Donovan. Seine Stimme verriet, dass er zutiefst erschrocken war. »Sie töten jeden, an den sie herankommen. Wir müssen von hier verschwinden!«
Der Zombie wiegte den Oberkörper hin und her, zischte sie an wie eine wütende Schlange und enthüllte dabei zwei Reihen fauliger schiefer Zähne. Dann begann er langsam auf sie zuzuschlurfen, wobei er Angus’ Pistole fixierte, als rechnete er jeden Moment mit einer Kugel.
»Es ist okay«, sagte Angus und wischte den Raureif von seiner Pistole. »Ich habe einen Plan. Sehen Sie, die wagen sich nur an die Schwachen heran.«
»Was tun wir denn jetzt?«, fragte Donovan. Seine Stimme drohte überzukippen, als ihn die nackte Angst hysterisch werden ließ.
»Der Stärkste überlebt, mein Freund. Sie wollen nur eine leichte Beute. Eine Mahlzeit, die sich nicht wehrt.«
»Und? Was zum Teufel sollen wir tun? Dem Monster einen Truthahnschenkel vorwerfen?«
»Nee. Einen verletzten Barkeeper.«
Donovan stutzte für einen Moment. Es war eine Reaktion, die sich sofort in Angst und dann in Verzweiflung verwandelte, als Angus die Pistole auf ihn richtete. Mit einer einzigen schnellen Bewegung zielte der Killer auf das Bein des Barkeepers und schoss ihm in den Oberschenkel.
»Aaagh! SCHEISSE !« Donovan stürzte zu Boden und umklammerte seinen rechten Oberschenkel an der Stelle, wo die Kugel eingedrungen war. Blut quoll pulsierend aus der Wunde, sickerte in sein Hosenbein und zwischen den Fingern hindurch, während er versuchte, den Strom zu stoppen. Ein langes, leises Stöhnen drang aus seinem Mund, während er sich hin und her wiegte.
Angus blickte auf ihn herab und zuckte die Achseln. »Tut mir leid, Mann. Wie ich sagte, nur der Stärkste überlebt.« Damit trat er zur Seite und schob sich hinter zwei stählerne Küchenwagen, damit der Zombie zu Donovan freie Bahn hatte. Die Kreatur nahm direkten Kurs auf den unglücklichen Barkeeper auf dem Boden und gestattete Angus auf diese Weise, ungehindert zur Tür zu schleichen. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen, während er weiter in die Bar ging.
Außerhalb der Küche herrschte eine unbeschreibliche Massenpanik. Zombies und Menschen rannten in der Bar und im Gang herum, der zu ihr führte. Die Szene erinnerte an eine blutige Hooligan-Schlacht während eines Football-Matches. Zombies jagten Hotelgäste vor sich her und schnappten sich jeden, der das Pech hatte, von den verschiedenen Gruppen getrennt zu werden. Angus achtete darauf, so wild und demonstrativ wie möglich mit seiner Pistole herumzuwedeln in der Hoffnung, dass die Zombies sie sahen und es sich zweimal überlegten, ob sie angreifen sollten. Sie verfügten zwar nicht mehr über nennenswerte Mengen von Gehirnmasse, aber wie alle anderen Kreaturen besaßen sie einen Überlebenswillen, obgleich sie untot waren. Anscheinend ließen sie ihn tatsächlich in Ruhe und hofften ohne Zweifel, leichtere Beute zu finden.
Bisher unbehelligt, konnte Angus erkennen, dass die schmutzstarrenden Erscheinungen durch die Empfangshalle hereindrängten. Eine schnelle Entscheidung war notwendig und er traf sie. Schlag die entgegengesetzte Richtung ein und such dort nach einem Ausgang. zügig trabte er zu einer cremefarbenen Doppeltür am Ende des Ganges. Während seines Laufs begann der Fußboden unter seinen Füßen zu schwanken und die Wände gaben nach. Putz und Mauerwerk regneten von der Decke herab. Dies war eindeutig nicht der geeignete Zeitpunkt, um zu trödeln.
Die Türen waren etwa zwanzig Meter weit entfernt und zwischen ihm und dem Ausgang trieben etwa sechs Zombies eine Gruppe von Gästen vor sich her, die auf der Suche nach einem Fluchtweg die gleiche Idee gehabt hatten wie Angus. Überraschend schnell zu Fuß, holten die Zombies sich die langsamsten Gäste. Angus, der weiterhin drohend mit der Pistole fuchtelte, konnte sich unbehelligt durch das Gemetzel zu den Türen schlängeln. Eine vor Angst wie versteinert aussehende blonde Frau mittleren Alters in einem grünen Kleid rannte vor ihm hindurch, blieb jedoch stehen, um ihm höflich die Tür aufzuhalten, nachdem sie die Schwelle überschritten hatte.
Die Tür führte von der Seite her in einen Korridor. Konfrontiert mit der Möglichkeit, sich nach rechts oder nach links zu wenden, blickte Angus in beide Richtungen. Wenn er nach rechts abbog, landete er nach zwanzig Metern in einer Sackgasse. Die einzige andere Möglichkeit war, nach links abzubiegen und zum Zentrum des Hotels und zum Konzertsaal zurückzurennen. Er versetzte der Frau im grünen Kleid einen heftigen Stoß in den Rücken und schleuderte sie gegen die gegenüberliegende Wand. Sie schlug mit dem Gesicht dagegen und sackte auf dem Fußboden zusammen. Angus vergeudete keine Zeit und lief den Korridor hinunter, in dem nichts von einem Zombie zu sehen war, obgleich die Schreie der Opfer, die sie attackierten, unüberhörbar zu ihm drangen. Als er die Öffnung eines Seitengangs erblickte, der von links in seinen Gang mündete, wechselte Angus sofort auf die rechte Seite und hielt sich dicht an der Wand. Falls irgendwas oder irgendwer ihn angreifen sollte, wollte er so weit wie möglich von der Gangöffnung entfernt sein, in der er, sie oder es vermutlich auf ihn lauerte.
Während er sich der Gangmündung näherte, verfiel er in ein schnelles Gehtempo für den Fall, dass Zombies es auf ihn abgesehen hatten. Seine Pistole war gespannt und schussbereit. Was er jedoch erblickte, als er die Einmündung erreichte und in den Seitengang schaute, war eine Anzahl Zombies, die mit einem Mann in einer schwarzen Lederjacke kämpften. Der Mann trug eine Kapuze auf dem Kopf. Aber nicht das war es, was Angus’ Interesse weckte. Zwischen ihm und dem Kapuzenmann befand sich die Judy-Garland-Imitatorin. Sie kam durch den Korridor rückwärts gehend auf ihn zu.
Bis zu diesem Moment war der ganze Tag ein einziger Misserfolg gewesen. Er hatte viel Zeit mit dem Versuch vergeudet, sich seine zwanzigtausend von Sanchez zurückzuholen, und hatte die Gelegenheit vermasselt, den Mordauftrag auszuführen, den Julius ihm angeboten hatte. Jetzt ergab sich die Chance, den Job zu erledigen, den man ihm übertragen hatte, und vielleicht später das Honorar doch noch zu erhalten.
Es lohnte sich doch, eine Kugel für diese Schlampe zu opfern, oder etwa nicht?
Er brauchte nicht nachzudenken. Während sich die junge Frau umwandte, zielte er und feuerte ihr eine Kugel mitten in die Brust.
Ihr Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Totale Überraschung.
Angus liebte das Töten. Und wenn das Opfer völlig überrumpelt wurde und ihm in die Augen sah, nachdem es von einer Kugel getroffen wurde – nun, ein Auftrag konnte nicht eleganter als auf diese Art und Weise erledigt werden.
Der Mann in Judy Garlands Begleitung lieferte sich gleich mit drei Zombies einen heftigen Faustkampf und machte seine Sache verdammt gut. Als er den Schuss hörte, erstarrte er für einen kurzen Moment. Er schaffte es, zwei von den Zombies gleichzeitig zu Boden zu strecken, während der dritte ihn umkreiste und auf eine Angriffsmöglichkeit wartete und sich dabei Zeit ließ. Der Kapuzenmann fuhr herum und sah Judy Garland auf dem Boden liegen. Ihre Beine hatten in den Knien nachgegeben und waren eingeknickt. Sie brach zusammen, landete auf der Seite, ehe sie auf den Rücken rollte und zur Decke starrte. Angus konnte das Gesicht unter der dunklen Kapuze erkennen. Es zeigte einen zutiefst betroffenen Ausdruck. Es war offensichtlich, dass die Frau ihm etwas bedeutet hatte, denn er schien für einen kurzen Moment den dritten Zombie hinter sich zu vergessen, während er die Frau zusammensinken sah. Für einen Sekundenbruchteil schaute er zu Angus, und ihre Blicke trafen sich. Angus lächelte. Dieser Typ schien sich offenbar für einen harten Burschen erster Klasse zu halten. Aber er war von Zombies umzingelt. Während der dritte Zombie den Mann von hinten attackierte, zwinkerte Angus ihm zu.
Der Job war erledigt.
Eine halbe Minute später verließ Angus das Hotel durch den Notausgang, der auf den hinteren Parkplatz führte. Zu diesem Zeitpunkt bebte der Untergrund heftig unter seinen Füßen, und er war froh, sich im Freien zu befinden. Das Gebäude fiel offenbar in sich zusammen.
Lange würde es nicht mehr dauern, ehe das Hotel und der Parkplatz in einem tiefen Abgrund in der Erde verschwinden würden. Angus hatte keine Ahnung, wodurch das Erdbeben ausgelöst worden war, und er hatte nicht die Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken. Er suchte den Parkplatz nach seinem Wohnmobil ab in der Hoffnung, dass die Zombies den Schlüssel (und seine Tom-Jones-CD) darin gelassen hatten. Es war nirgendwo zu sehen, und da Teile des Parkplatzes bereits von tiefen Rissen durchzogen wurden und in den Schlund der Hölle sanken, entschied er, dass es bestimmt sicherer wäre, sich den besten Wagen auf dem Parkplatz zu schnappen. Zufälligerweise war es ein schwarzer Pontiac Firebird. Er jagte einen Schuss durch das Fenster auf der Fahrerseite und entriegelte den Wagen von innen. Er brauchte keine dreißig Sekunden, um die zündung kurzzuschließen. Der schwere V8-Motor erwachte mit einem kehligen Grollen zum Leben.
Eine Minute später war Angus wieder auf dem Highway und im Begriff, den Devil’s Graveyard hinter sich zu lassen.