VIERUNDVIERZIG

In Wahrheit war Sanchez um einiges nervöser als Elvis. Der King hatte schon vorher unzählige Male auf der Bühne gestanden. Es gab nur wenig, das ihm mehr Spaß machte als vor einem Publikum zu stehen. Sanchez hingegen war aus allen möglichen Gründen angespannt und unruhig. Wenn Elvis nun ganz groß herauskam und den Wettbewerb gewann, was würde das zur Folge haben? Würden die Zombies angreifen, und wenn ja, würden sie dann versuchen, jeden zu töten? Oder nur die Leute im Zuschauerraum? Und wenn Elvis verlor und Julius, das James-Brown-Double, gewann, was ergäbe sich daraus? Würde das Hotel in sich zusammenfallen und in die Hölle fahren?

Sanchez war alles andere als ein Kopfmensch. Er war noch nicht einmal besonders vernunftbestimmt. Dieses ständige Nachdenken verunsicherte ihn zutiefst. Daher tat er, was er immer tat, wenn er nervös war. Er schlug den Weg zur Herrentoilette ein, um seinen Flachmann mit Pisse für das nächste ahnungslose Opfer zu füllen. Er tat dies mit einem gewissen Maß an Beklommenheit eingedenk dessen, was er dort erlebt hatte, aber er klammerte sich an seine Überzeugung, dass in einem Hotel wie dem Pasadena ein solcher Ort längst wieder in einen makellosen Zustand versetzt worden war.

Der Flur, der zur Herrentoilette führte, war verlassen wie mittlerweile auch das gesamte restliche Hotel. Alle Gäste hatten sich anscheinend in den Konzertsaal begeben, um sich das Finale des Gesangswettbewerbs und anschließend die Kür des Siegers anzusehen. Die Toilette war menschenleer, und Sanchez stellte zu seiner Freude fest, dass jemand erschienen war und die Schweinerei von kurz vorher beseitigt hatte. Das Blut, das aus den Kabinen gesickert war und sich zu einer Pfütze gesammelt hatte, war ebenso verschwunden wie die Leichen der toten Sänger. Beinahe genauso wichtig, auch der schreckliche Gestank hatte sich verzogen, wie er erleichtert feststellte. Er schloss sich in Kabine vier ein und begann mit bemerkenswert ruhiger Hand in seinen silbernen Flachmann zu pinkeln. Es war eine Kunstfertigkeit, die er im Laufe der Jahre perfektioniert hatte, und trotz seiner Nervosität war er absolut zielsicher. Es war außerdem ein überaus befreiender Vorgang. Während er sein Werk vollendete, hörte er jemanden in die Toilette kommen und den Reißverschluss seiner Hose öffnen, um eins der Urinale zu benutzen.

Sanchez hatte den Flachmann zugeschraubt und die Tür der Kabine geöffnet. Dann ging er hinüber zu einem der Waschbecken, um seine Hände abzuspülen. Er achtete ganz bewusst nicht auf den Mann, der vor dem mittleren Urinal stand, stellte die Flasche neben eins der Waschbecken und drehte den Warmwasserhahn auf. Während er die Hände in den Wasserstrahl hielt, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass der andere Mann ihn anstarrte. Da er um jeden Preis vermeiden wollte, dass der Eindruck entstand, er würde einem Geschlechtsgenossen neugierig beim Pinkeln zusehen, wandte Sanchez so unauffällig wie möglich den Kopf, um einen Blick zu riskieren und zu sehen, wer der Mann war.

Ihre Blicke trafen sich nur für eine Sekunde. Doch so kurz der winzige Moment auch war, er reichte völlig aus. Sanchez schnappte den Flachmann und rannte zur Tür, wobei er einen großen Bogen um die Urinale machte. Der Mann vor dem mittleren Becken war Invincible Angus. Und er hatte den unglücklichen Barbesitzer gesehen und auf Anhieb erkannt.

»Warte, du Wichser!«, brüllte Angus. »Ich will meine verdammten zwanzig Riesen!«

Sanchez hatte keine zwanzig Riesen. Alles, was er hatte, war ein Flachmann voll Pisse. Er würde verdammt viel davon verkaufen müssen, um zwanzigtausend Dollar zu verdienen, denn gewöhnlich konnte er an guten Tagen höchstens drei Dollar pro Glas dafür verlangen.

Während er durch die Toilettentür auf den Flur hinausstürzte, hörte er, wie Angus den Reißverschluss seiner Hose zuzog. Und jetzt wasch dir bloß die Hände!, dachte er. Aber irgendwie war ihm klar, dass Angus genau das nicht tun würde.

SCHEISSE!

Die Toilettentür war schwer und fiel nicht sofort ins Schloss, nachdem er hindurchgerannt war. Sie quietschte leise, während sie langsam zuschwang. Sanchez vergeudete keine Zeit damit, den Vorgang zu beschleunigen, indem er die Tür hinter sich zuzog. In blinder Panik rannte er zurück zur Rezeption. Es waren gut fünfzig Meter bis zur doppelten Glastür am Ende des Korridors, der zum Foyer führte. Und was das Rennen betraf, so war Sanchez etwa genauso schnell, wie seine äußere Erscheinung vermuten ließ. Und das war ganz und gar nicht schnell.

Er erreichte die Glastüren, steuerte auf die linke zu und stieß sie auf. In seiner Hektik befolgten die Beine die Befehle seines Gehirns nicht so prompt, wie er es sich gewünscht hätte. Er rutschte aus und stürzte durch die offene Tür auf den Fußboden des Rezeptionsbereichs. Während er sich aufrappelte, sah er, dass Angus am Ende des Korridors aus der Toilette gekommen war und mit einer Pistole auf ihn zielte. Ohne darauf zu warten, dass er abdrückte, schaute Sanchez sich gehetzt um und suchte nach einem Fluchtweg.

BANG!

Angus rannte aus der Toilette, ohne sich mit Händewaschen aufzuhalten, nachdem er sein Geschäft beendet hatte. Er schaute zuerst nach links, dann nach rechts, wo er in einiger Entfernung Sanchez auf die Füße kommen sah. Der fette Bastard war offensichtlich auf die Schnauze gefallen, nachdem er durch die Glastür geflogen war. Angus riss seine Pistole aus dem langen Trenchcoat und richtete sie auf den armseligen diebischen kleinen Knilch. Ohne genau zu zielen drückte er ab.

BANG!

Die linke Türhälfte zersplitterte. Die Kugel hatte sie glatt durchschlagen, und es sah aus, als hätte sie Sanchez in der Schulter erwischt, denn der rundliche Mistkerl wirbelte herum, nachdem er auf die Füße gekommen war. Falls er getroffen worden war, konnte es nicht mehr als ein Streifschuss gewesen sein, denn er blieb nicht lange genug stehen, um sich einen zweiten Treffer einzufangen. Angus sah ihn im Korridor verschwinden, der zur Bar führte. Niemals würde er zulassen, dass der Wichser ihm entwischte.

Er sprintete durch den Korridor. Als er die Türen am Ende erreichte, sprang er durch den Rahmen der linken Türhälfte, die er mit seinem Schuss zerschmettert hatte. Unter seinen Schuhsohlen knirschten Glassplitter. Er spürte, wie einige Glassplitter sich in seine Schuhe bohrten und verwandelte seine Landung in drei kurze Sprünge. Sobald er sicher sein konnte, dass er die Glasreste hinter sich hatte, gewahrte er im Absatz seines rechten Schuhs eine lange Scherbe, die sich dort festgesetzt hatte. Er bückte sich und zog sie heraus. Glücklicherweise war der Absatz so dick, dass die Scherbe nicht bis zu seinem Fuß vorgedrungen war. Er schleuderte sie beiseite und schaute ihr nach, wie sie über den Marmorfußboden rutschte. Sie blieb dicht vor dem Eingang liegen, damit irgendein ahnungsloser Gast später vielleicht auf sie trat.

Der Rezeptionsbereich war menschenleer. Kein Mensch war zu sehen. Obgleich es seltsam war, dass an der Rezeption niemand seinen Dienst versah, fiel Angus ein, dass er die Angestellten kurz vorher vor der Zombietruppe gewarnt hatte, die zum Hotel unterwegs war. Außerdem hatte er soeben einen Schuss auf die Rezeption abgefeuert. Zusammengenommen waren diese beiden Faktoren höchstwahrscheinlich für den Mangel an Personal an diesem ansonsten so betriebsamen Ort verantwortlich. Er hielt wütend nach Sanchez Ausschau. Dieser fette Sack hatte mittlerweile einen deutlichen Vorsprung.

Sanchez zu erwischen hatte für ihn oberste Priorität. Er musste herauskriegen, wo der Mistkerl seine zwanzig Riesen versteckt hatte, und sollte ihm das nicht gelingen, wäre es ein hinreichender Ausgleich, wenn er ihn erschoss. Falls er die Vorauszahlung zurückbekam, könnte er damit einen ansehnlichen Teil seiner Schulden begleichen. Und vielleicht bestand auch noch die Chance, von Nigel Powell die fünfzigtausend Dollar dafür zu erhalten, dass er Sanchez erledigt hatte. Aber zuerst müsste er ihn finden. Wohin zum Teufel war er verschwunden?

Als er durch den Korridor zur Bar rannte, stellte Angus überrascht fest, dass Sanchez nicht mehr zu sehen war. Der Korridor war etwa fünfzig Meter lang und endete in einer großen Halle, auf deren rechter Seite sich die Bar befand. Er rechnete sich aus, dass Sanchez den Korridor überwunden und sich für die Bar entschieden hatte.

Als Angus das Ende des Korridors erreichte, konnte er abermals niemanden entdecken. Die Halle war völlig leer, da jeder zum Konzertsaal geeilt war, um sich das Finale des Gesangswettbewerbs anzusehen. Die Tische und Stühle in der Bar auf der rechten Seite waren verlassen. Die einzige lebende Seele war ein einsamer Barkeeper, der soeben die Theke säuberte. Es war ein blonder junger Mann Anfang zwanzig in schwarzer Hose, weißem Oberhemd und roter Weste, der vorgeschriebenen Dienstkleidung des Hotels.

»Wo zum Teufel ist er hingerannt?«, fauchte Angus ihn an.

Der Barkeeper gab keine Antwort, sondern deutete mit einer Kopfbewegung zu einer Tür hinter der Theke. Angus nickte ihm zu und eilte zu einem Teil der Theke, der mit einem Scharnier versehen war und hochgeklappt werden konnte, sodass das Personal kommen und gehen konnte. Er hob die Klappe hoch, ließ sie mit einem lauten Krachen einfach auf die andere Seite fallen und gelangte hinter die Theke. Um einiges vorsichtiger drückte er am Ende der Bar die Tür auf, die in die Küche führte. Er warf einen kurzen Blick hinein, weil er damit rechnete, dass Sanchez ihm dort auflauerte. Hätte er von der legendären Feigheit des Mannes gewusst, wäre er sicher nicht so wachsam gewesen, aber Vorsicht war etwas, das er schon früh während seiner Tätigkeit als Berufskiller gelernt hatte.

Die Küche war ebenfalls leer. Das Personal hatte sich verzogen, höchstwahrscheinlich um sich die Show anzusehen. Sie hatten ein Riesendurcheinander hinterlassen. Zwei Meter hohe Rollwagen mit Speisetabletts standen kreuz und quer herum, und mehrere Tische waren beladen mit Speisen, schmutzigen Tellern und Essbestecken. Aber von Sanchez keine Spur.

Angus ließ den Blick durch den Raum schweifen auf der Suche nach einem anderen Fluchtweg, den Sanchez gewählt haben könnte. Die Küche hatte nur noch einen anderen Ausgang, und zwar links von Angus. Es war eine weiße Tür mit einem runden verglasten Bullauge in Augenhöhe. Indem er so leise wie möglich auftrat, huschte Angus zu der Tür hinüber und hielt die Pistole schussbereit für den Fall, dass Sanchez’ Gesicht im Türfenster erschien. Als er die Tür erreichte, drehte er probeweise den Knauf und stellte fest, dass sie abgeschlossen war. Daraus ergaben sich nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte Sanchez diese Tür benutzt und von der anderen Seite abgeschlossen. Was eher unwahrscheinlich war.

Wahrscheinlicher war, dass sein Jagdwild sich noch in der Küche aufhielt. Aber wo?

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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