SIEBZEHN ♦
Sanchez wurde von dem üblen Geruch überwältigt, den Otis Reddings Leiche verströmte. Der Anblick des Körpers hatte bei ihm bereits Übelkeit ausgelöst, und der Gestank in der Enge des Fahrstuhls machte es nur noch schlimmer. Und die Leiche schien ihn direkt anzustarren. Sie hatte außerdem die Augen eines Irren. Er versuchte überall hinzusehen, nur nicht in diese Augen, aber egal wohin er blickte, er konnte sie auf sich gerichtet sehen und spürte, wie sie sich in ihn hineinbrannten. Und jedes Mal, wenn er den Blick erwiderte, schienen sie größer geworden zu sein. Er verspürte den unwiderstehlichen Drang, Otis in sein rundes Gesicht zu schlagen und ihn anzubrüllen, er solle endlich aufhören ihn anzustarren, aber er hatte so eine Ahnung, dass Elvis das nicht dulden würde.
Er versuchte auch, sich bewusst zu machen, dass es im Augenblick wichtigere Dinge gab, mit denen er sich befassen sollte.
Während der Fahrstuhl dem Parterre entgegensank, hoffte und betete Sanchez, dass Elvis einen Plan hatte, wie er sie aus ihrer misslichen Lage befreite. Wenn es darum ging, Leichen loszuwerden oder einen Mordverdacht von sich abzulenken, war Elvis sicherlich einer der Qualifiziertesten. Schließlich verdiente er sich damit seinen Lebensunterhalt. Es musste eine schriftliche Anleitung geben, wie man in solchen Situationen am besten verfuhr.
»Scheiße, Mann. Verdammt, was machen wir jetzt?«, fragte Sanchez. Er konnte den verzweifelten Wunsch nicht kaschieren, dass Elvis das Kommando übernehmen sollte.
»Hilf mir, ihn aufzuheben«, sagte Elvis. Er bückte sich, schob einen Arm unter die rechte Achselhöhle der Leiche und hievte seine Seite von ihr hoch.
Nach kurzem Zögern ergriff Sanchez den linken Arm und zog. »Was tun wir jetzt?«
»Du kennst doch diesen Film Immer Ärger mit Bernie, nicht wahr?«
»Ja.«
»Genau das tun wir auch.«
»Wir nehmen ihn mit zum Wasserskifahren?«
»Nein, du Schwachkopf. Wir tun so, als sei er betrunken und wir würden ihn tragen. Dann legen wir seine Leiche irgendwo ab, wo niemand sie findet. Wenn es keine Leiche gibt, können wir auch nicht beschuldigt werden, ihn ermordet zu haben. Im Augenblick wissen nur diese Sicherheitstypen, die uns gesehen haben, dass er nicht betrunken war oder ist. Wenn wir die Leiche verstecken können, ehe sie uns aufstöbern, erzählen wir ihnen, dass er irgendein Säufer im Fahrstuhl war und im zweiten Stock ausgestiegen ist.«
Sanchez liebte Elvis. Der Plan war ziemlich beschissen, aber er war um einiges besser als alles, was ihm in einer so kurzen Zeit hätte einfallen können. Und da Sanchez im Augenblick an nichts anderes denken konnte, als dem Toten ein paar Ohrfeigen zu versetzen, war es eine Erleichterung zu wissen, dass er alles unter Kontrolle hatte: Elvis war so verdammt cool und geriet nie wegen irgendetwas in Panik. Er war nicht sonderlich clever oder gerissen, aber er war unglaublich selbstsicher und besaß alle Qualitäten eines geborenen Führers. Jeder, den er kennenlernte, erwärmte sich auf Anhieb für ihn und tat alles, um seine Sympathie zu gewinnen. Seine Anerkennung und seine Freundschaft waren die beiden Dinge, die die meisten Leute wertschätzten, und das traf erst recht auf Sanchez zu.
Sobald sie Otis Redding auf die Füße gehievt hatten, legte jeder sich einen seiner Arme auf die Schultern, um den Eindruck eines Betrunkenen zu erwecken, der von zwei Freunden gestützt wird. Es war ein Segen, dass an ihm keine Blutspuren zu sehen waren. Offenbar hatte er nur ein gebrochenes Genick und eine Riesenschweinerei in der Hose. Die Verletzung unterstützte das Bild eines Betrunkenen, denn die leiseste Bewegung von Elvis und Sanchez bewirkte, dass sein Kopf unkontrolliert hin und her schwang. Natürlich landete sein Kopf zuerst auf Sanchez’ Schulter, sodass die blicklosen Augen den Barbesitzer anstarrten. So ein Bastard.
Der Fahrstuhl kam im Parterre an und die Tür öffnete sich mit einem leisen Knirschen. Es klang für Sanchez ohrenbetäubend, und er betete innerlich, dass niemand in der Nähe war. So viel Glück war ihnen jedoch nicht beschieden. Zwei Personen warteten im Flur, ein älteres Ehepaar, beide in den Siebzigern und sehr elegant gekleidet, als wären sie unterwegs zur Kirche. Der Mann trug einen gut geschnittenen grauen Anzug und seine Frau ein konservatives blaues Kleid. Zweifellos war der Aufenthalt für sie eine ganz große Sache, und sie wollten dabei so gediegen wie möglich aussehen. Zuerst reagierten sie geschockt, als sie verfolgten, wie Elvis und Sanchez Otis Redding aus dem Fahrstuhl bugsierten. Die Füße des Toten schleiften über den Fußboden. Als sie an dem Ehepaar vorbeikamen, zwinkerte Elvis der Frau zu.
»Es ist alles okay, Ma’am«, sagte er beruhigend, wobei seine tiefe Stimme seinem freundlichen Lächeln zusätzlich Wärme verlieh. »Er hat ein wenig zu tief ins Glas geschaut.«
Die alte Frau lächelte und sie und ihr Mann unterdrückten ein Kichern, während sie in den Fahrstuhl traten. Sie verfolgten, wie Elvis und Sanchez Otis Redding durch den Korridor schleppten, während sie darauf warteten, dass sich die Fahrstuhltür schloss. Was für ein reizender junger Mann. Und was für ein guter Freund für seinen außer Gefecht gesetzten Gefährten. Dann drang ihnen der Gestank in die Nasen.
Sanchez und Elvis kamen an weiteren Hotelgästen vorbei, als sie den Weg zur Lobby einschlugen. Elvis beeilte sich, allen zu erzählen, dass Otis nur betrunken sei. Es gelang ihm, jeden zu überzeugen, und einige lachten sogar, wenn auch leise, damit sie den Mann, in dem sie einen Otis-Redding-Imitator zu erkennen glaubten, bloß nicht aufweckten.
»Wohin wollen wir denn, Mann?«, fragte Sanchez mit weinerlicher Stimme. »Dieser Kerl ist verdammt schwer!«
»Dort hinein«, sagte Elvis und deutete auf eine Tür auf der rechten Seite des Korridors. Es war eine graue Tür mit einem kleinen Schild, auf dem ein schwarzes Strichmännchen zu erkennen war, das darauf hinwies, dass sie sich in der Herrentoilette befanden. Wie immer konnte Sanchez den Plan hinter dieser Aktion nicht erkennen.
»Was ist? Musst du pinkeln?«, fragte er.
»Nein, Sanchez«, stöhnte sein Freund genervt. »Wir können ihn in eine der Kabinen setzen. Dort dürfte ihn für die nächsten Stunden niemand finden.«
»Oh. Ja. Ein guter Plan. Vor allem weil er so sehr nach Scheiße riecht.«
Sie zogen die Leiche zur Tür, und Sanchez schob sich rückwärts in den Raum. Otis und Elvis folgten, wobei Letzterer seinen Blick durch den Korridor wandern ließ, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete. Offensichtlich hatten sie genau den richtigen Zeitpunkt erwischt, denn ihr seltsamer Toilettenbesuch verlief unbemerkt.
Zu seiner Erleichterung erkannte Sanchez, dass sich niemand in der Toilette aufhielt. Es war ein großer Raum, etwa fünfzehn Meter lang und fünf Meter breit. An der linken Wand erstreckte sich eine Reihe von acht Urinalen und auf der anderen Seite befanden sich sechs Toilettenkabinen. Am Ende des Raums waren drei Waschbecken mit Spiegeln darüber zu sehen.
»In welcher Kabine sollen wir ihn deponieren?«, fragte er.
»In der ersten. Meinst du, ich will den Kerl länger schleppen als unbedingt nötig?«
Sanchez ging voraus und drückte mit dem Rücken die Tür der ersten Kabine auf, die sie erreichten. Elvis folgte und hielt dann Otis Redding alleine hoch, während Sanchez den Klodeckel herunterklappte, damit sie den Toten daraufsetzen konnten. Elvis ließ die Leiche auf den Deckel herab, und dann verbrachten die beiden ungefähr eine Minute damit, die Leiche dergestalt zu drapieren, dass sie aufrecht saß und nicht zur Seite kippte. Schließlich, nachdem beide etwa zwanzig Sekunden gewartet und sich bereitgehalten hatten, notfalls zuzugreifen, falls der Tote ins Rutschen geriet, entschieden sie, dass er einen sicheren Sitz hatte und nur umkippen würde, wenn man ihn anstieß.
»Huuh!«, seufzte Sanchez. »Ich müsste jetzt wirklich pinkeln.«
»Gut. Verrichte dein Geschäft, während ich die Tür von innen verriegle und aus der Kabine klettere.«
»Cool.«
Sanchez verließ die Kabine und trat ans nächste Urinal an der gegenüberliegenden Wand. Er hörte, wie Elvis die Tür hinter ihm verriegelte, und dann, wie er leise murmelte, Scheiße! Ich hab nicht richtig nachgedacht.
Während er seinen Urin in das Porzellanbecken rinnen ließ, dämmerte es Sanchez, dass jemand, der aus einer Toilettenkabine klettern will, erst einmal auf die Kloschüssel steigen muss. Und das würde Elvis kaum schaffen, da Otis Redding darauf saß. Er hörte einigen Lärm, als sein Freund versuchte, den Weg nach draußen über die Tür zu nehmen. Das Poltern wurde von zahlreichen heftigen Flüchen begleitet.
Schließlich war Sanchez fertig, zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und wandte sich um. Elvis sprang gerade hinter ihm auf den Fliesenboden und begann, sein goldenes Jackett abzuklopfen, wobei er nach möglichen Flecken auf den Schultern Ausschau hielt. Sanchez ging unterdessen zu den drei Waschbecken an der Stirnseite des Raums, drehte den Wasserhahn des mittleren auf und spülte sich sein Selbstgebrautes von den Händen.
»Sanchez«, rief Elvis hinter ihm. Sanchez blickte in den Spiegel über dem Waschbecken und sah, wie Elvis vor der zweiten Kabine stand. Es war die Kabine neben derjenigen, in die sie Otis Redding hineingesetzt hatten.
»Ja. Was ist los?«
»Schätze, du musst dir das mal ansehen.« Elvis starrte in die Kabine.
»Was ist denn da, verdammt noch mal? Eine Riesenwurst?«
»Viel schlimmer.«
Erstaunlicherweise hatte Elvis‘ Stimme einen besorgten Unterton, daher drehte Sanchez den Wasserhahn zu und schüttelte seine Hände trocken. Dann ging er hinüber zu Elvis. Noch ehe er die zweite Kabine erreichte, sah er, dass sie ein neues Problem hatten.
»Hey, was ist das da auf dem Boden?«, fragte er.
»Blut«, antwortete Elvis.
»Blut? Von Otis Redding?«
»Nee.«
Unter der Tür der Kabine, die halb offen stand, hatte sich eine kleine Blutpfütze gebildet. Langsam, aber stetig wurde die Pfütze mit jeder Sekunde größer. Sanchez‘ Schritte wurden zögernder, als er sich seinem Freund näherte, und als er ihn erreichte, warf er einen Blick um die Türkante.
»Heilige verdammte Scheiße!«
Was Elvis entdeckt hatte, waren zwei weitere Leichen. Ein Typ, der aussah wie ein Penner, lehnte an der Wand neben der Kloschüssel. Der andere Typ, ganz in Schwarz gekleidet, lag mit dem Rücken auf dem Boden und hatte die Füße auf dem Toilettensitz. Blut rann aus einer Wunde in seinem Hinterkopf, was die sich ausbreitende Pfütze erklärte.
»Das verdammte Blut war noch nicht da, als wir reinkamen«, stellte Sanchez mit zitternder Stimme fest. Ein Würgen stieg wieder in ihm hoch.
»Ich glaube, ich habe einen der Typen gestreift, als ich aus der Kabine geklettert bin.«
»Scheiße! Was zur Hölle ist in diesem verdammten Laden im Gange?« Sanchez war aus seiner Bar, dem Tapioca, den Anblick von Toten gewöhnt, aber so etwas gehörte nicht in ein teures, seriöses Hotel. In diesem Laden fand man Leichen, wohin man schaute.
Der Tote an der Wand trug einen schmuddeligen Pullover und ausgefranste Jeans. Sein Gesicht war mit Blut besudelt, das größtenteils von seiner gebrochenen Nase und einigen herausgebrochenen zähnen stammte. Das fettige Haar war ebenfalls mit dunkelroten Strähnen durchsetzt. Der grässliche Anblick erhielt eine Steigerung durch die Augen, die sich, obgleich offen, so weit verdreht hatten, dass von ihnen nur noch das Weiße zu sehen war. Wenigstens war er kein Gaffer wie Otis Redding. Sanchez vergeudete nicht allzu viel Zeit damit, ihn anzustarren. Der andere Typ auf dem Boden war ein wenig älter und hatte volles dunkles Haar. Seine Augen hatten sich ebenfalls verdreht und seine Frisur war völlig in Unordnung. Während Sanchez ihn betrachtete, legte Elvis ihm eine Hand auf die Schulter.
»Weißt du eigentlich, wer das ist?«
»Hä?«
»Kurt Cobain und Johnny Cash. Zwei von den Typen auf der Todesliste in dem Umschlag.« Natürlich hatte er Recht. Sanchez konnte nicht fassen, dass er es nicht erkannt hatte.
»Scheiße. Dieser Balls muss die beiden hier ebenfalls alle gemacht haben. Donnerwetter.«
»Ja. Wir müssen schnellstens von hier verschwinden, Sanchez. Wir sind jetzt in einer Toilette zusammen mit den ersten drei Opfern von der Todesliste. Wenn uns jemand hier findet, vor allem nachdem wir dabei gesehen wurden, wie wir den guten alten Otis durch die Gegend geschleift haben, stecken wir ganz tief in der Scheiße.«
Auch das war richtig. Dies war wirklich nicht der angenehmste Aufenthaltsort, und obgleich sie an alldem nicht die geringste Schuld traf, waren sie die Hauptverdächtigen. Hinzu kam, dass Elvis ein professioneller Mörder war.
Aber ehe sie Gelegenheit hatten, sich aus dem Staub zu machen, hörten sie, wie die Tür zur Toilette aufging. Elvis packte Sanchez am Arm und zerrte ihn in Kabine drei. Er schloss die Tür hinter sich und rückte den anderen Mann auf den Toilettensitz. Der entsetzte Barbesitzer war klug genug, keinen Ton von sich zu geben, aber Elvis legte trotzdem einen Finger auf die Lippen und schüttelte beschwörend den Kopf. Sanchez fand das höchst überflüssig. Er wusste selbst, wann er sich still zu verhalten hatte. Er wollte einen entsprechenden Kommentar abgeben, jedoch hörten sie in diesem Moment die Schritte von zwei Männern auf dem Fliesenboden des Toilettenraums. Während sie offensichtlich zu den Urinalen gingen, hoffte Sanchez inständig, dass die neuen Besucher das Blut nicht entdeckten, das aus Kabine zwei hervorsickerte, und beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.