NEUN

Nachdem er endlich im Hotel Pasadena angekommen war, begab der Kid sich schnurstracks in eine Bar. Er musste über vieles nachdenken. Und als jemand, der sich generell nur ungern in langen Reflektionen erging, erlaubte er sich nur einen einzigen Tag pro Jahr, um sich an die Vergangenheit zu erinnern und sich vorzustellen, wie die Dinge sich entwickelt haben könnten, wenn, zehn Jahre zuvor, der Halloweentag anders verlaufen wäre.

Er hatte sich die stillste Bar des Hotels ausgesucht, eine Lounge unmittelbar neben dem Foyer, saß auf einem Hocker am Ende der Theke und starrte in ein halbvolles Glas Bourbon. Die Bardame, Valerie, eine zierliche junge Frau mit zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenem dunklem Haar, hatte in dem Moment, als sie seiner ansichtig wurde, sofort weise erkannt, dass er keinen Smalltalk wünschte. Seine Körperhaltung sprach Bände. Er umgab sich bewusst mit einer feindseligen Aura – obgleich er dies an den meisten Tagen völlig unbewusst tat. Sie hatte ihm seinen Drink schnellstens eingeschenkt und das Glas kommentarlos und ohne viele Umstände mitsamt einem Untersetzer vor ihm auf die Theke gestellt.

In der Bar hielten sich höchstens zwanzig Personen auf. Als hätten sie seine miese Stimmung wahrgenommen, hatte sich keiner der anderen Gäste für einen Platz an der Theke entschieden. Sie saßen alle an kunstvoll im Raum verteilten Tischen und waren in leise, angeregte Unterhaltungen vertieft. Dies war keine der heruntergekommenen Kneipen, an die der Bourbon Kid gewöhnt war. Die Bar hatte ein bisschen zu viel Klasse und ihre Gäste waren zu gediegen. Aber in seiner augenblicklichen Stimmung war es ihm so gerade recht.

Er war aus verschiedenen Gründen zum Devil’s Graveyard gekommen. Sich zu betrinken, war der erste Punkt der Tagesordnung. Auf diese Art und Weise würde er sich nachher nicht mehr an allzu viel erinnern. Es war auf den Tag genau zehn Jahre her, dass er, im Alter von sechzehn Jahren, seine Mutter getötet hatte. Hinzu kam, dass er in derselben Nacht seine Jugendliebe, Beth, auf dem örtlichen Pier mit dem Versprechen zurückgelassen hatte, bis zur Geisterstunde wieder zurück zu sein. Das war gewesen, ehe er festgestellt hatte, was von seiner Mutter noch übrig war. Es ärgerte ihn immer noch regelmäßig, es in dieser Nacht nicht geschafft zu haben, zu Beth zurückzukehren. Er hatte wichtigere Angelegenheiten zu erledigen, wie zum Beispiel ein Zuhause für seinen verstörten jüngeren Bruder, Casper, zu finden. Casper war mit schweren Lernbehinderungen geboren worden, und die Nachricht vom Tod der Mutter hatte bei ihm einen hysterischen Anfall ausgelöst. Um die ohnehin schon schlimme Situation noch schlimmer zu machen, hatte der Kid, den man damals auch als JD kannte, Caspers Vater später in der Nacht in einem Wutanfall das Genick gebrochen. Die Brüder hatten verschiedene Väter. JD hatte seinen eigenen Vater auch nicht lieber gemocht als Caspers, er war nur noch nicht dazu gekommen, ihn umzubringen.

Dennoch war es Beth, die meistens bei den seltenen Gelegenheiten, an denen er der Vergangenheit gestattete, wieder zu ihm zurückzukehren, seine Gedanken ausfüllte. Nur an diesem einen Tag in jedem Jahr gestattete er sich, sich an ihr Aussehen zu erinnern, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Sie hatten gemeinsam eine Halloween-Party an ihrer Highschool in Santa Mondega besucht. JDs Mutter hatte ihm ein Vogelscheuchenkostüm geschneidert, und obgleich es nicht gerade nach seinem Geschmack war, wusste er, dass sie sich bei seiner Anfertigung große Mühe gegeben hatte. Es war eine unbeabsichtigt brillante Wahl gewesen, denn als er die Halloween-Party betrat, hatte er Beth im Kostüm der Dorothy aus dem Zauberer von Oz angetroffen. Da sie dies als gutes Omen betrachteten, hatten sie auf das Tanzen verzichtet und waren hinaus auf den Pier gegangen. Die Straße dorthin bestand nicht gerade aus gelben Ziegeln, aber das hatte ihrer Stimmung keinen Abbruch getan. Das hatten erst die weiteren Ereignisse der Nacht geschafft.

Der Kid betrachtete sein Spiegelbild im Glas Bourbon und ließ sich zum Anflug eines Lächelns hinreißen. Vor seinem geistigen Auge konnte er noch immer Beth sehen, wie sie durch den Schulkorridor tanzte und dabei sang: »We’re off to see the Wizard, the Wonderful Wizard of Oz.« Er hatte ihren Gesang ziemlich schnell unterbrochen, sodass sie es noch nicht einmal bis zum Ende der ersten Strophe geschafft hatte. Hätte er die Gelegenheit gehabt, wäre er liebend gerne zu diesem Moment zurückgekehrt und hätte sie diesmal den ganzen verdammten Song singen lassen. Selbst wenn sie dabei nur noch albern ausgesehen hätte. Sie war auch keine besonders gute Sängerin, entsann er sich. Doch es waren gerade solche kleinen Makel, die die Erinnerung an sie für ihn so wertvoll machten.

Der Kid hatte Pläne, eines Tages nach Santa Mondega zurückzukehren und Beth zu suchen in der Hoffnung – um was zu tun? Eine Beziehung wieder aufleben zu lassen, die eigentlich niemals richtig in Gang gekommen war? Er hatte sich den größten Teil der vergangenen zehn Jahre von dem Ort ferngehalten und gewusst, dass auch sie nicht dort gewesen war. An jenem verfluchten Halloweenabend vor zehn Jahren war Beth verhaftet und beschuldigt worden, ihre Stiefmutter umgebracht zu haben. Der Kid kannte die Details des Falles nicht, aber es sah so aus, als sei sie von einem örtlichen Polizisten namens Archibald Somers verleumdet worden. Beth landete im Gefängnis, verurteilt zu zwanzig Jahren Haft wegen Mordes. Wenn sie immer noch das süße, sittsame Mädchen war, als das er sie damals gekannt hatte, bestand die Chance, dass sie wegen guter Führung früher entlassen worden war. Tatsächlich war es genau das, was möglicherweise jeden Tag geschehen konnte.

Nichts im Leben des Kid war exakt so schwarz und weiß, wie es auf den ersten Blick erschien. Sein Problem mit Beth war, dass er, selbst wenn sie entlassen worden wäre, sie aus dem gleichen Grund nicht suchen könnte, aus dem er sie nicht im Gefängnis besuchen konnte. Er hatte viel zu viele Feinde. Falls irgendjemand wüsste, dass er immer noch an sie dachte, wäre sie schon bald das Ziel aller möglichen mörderischen Kreaturen, seien es Vampire, Werwölfe oder auch nur bis ins tiefste Innere verdorbene Menschen.

Er drehte das Whiskyglas in der Hand hin und her. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er darin als Spiegelbild das grinsende Gesicht des Vampirs, der seine Mutter vernichtet hatte. Das Bild bewirkte, dass seine Hand sich um das Glas krampfte, und er lockerte schnell den Griff, um zu vermeiden, dass er es zerdrückte.

Es gab einen einzigen Grund, weshalb der Kid Halloween im Hotel Pasadena verbrachte. Tatsache war, dass er nichts mehr liebte als einen guten, altmodischen Halloween-Blutrausch. Während einer Spazierfahrt durch Plainview, Texas, hatte er bei einem Wettkampf im Armdrücken mit einem Typen namens Rodeo Rex erfahren, dass es auf Devil’s Graveyard von Untoten nur so wimmelte. Während des Kampfes hatte Rex versucht, den Kid aus dem Konzept zu bringen, indem er damit prahlte, zum Graveyard zu fahren und im Namen Gottes eine gute Tat zu vollbringen und die Untoten endgültig ins Jenseits zu schicken. Mittlerweile hatte es ausgesehen, als würde das Duell ewig dauern, weil die beiden absolut gleich stark zu sein schienen. Obgleich er es hasste, egal welche Art Wettbewerb zu verlieren, hatte der Kid Rex gewinnen lassen. Nachdem er dem massigen Biker gestattet hatte, seinen Arm auf die Tischplatte zu drücken und den Sieg für sich zu reklamieren, hatte der Kid großen Wert darauf gelegt, die Hand seines Gegners zu schütteln. Er hatte ihm dabei jeden einzelnen Knochen gebrochen, um zu gewährleisten, dass Rex seine Verabredung in Devil’s Graveyard nicht würde einhalten können. Die Untoten zu töten war jetzt ganz allein seine Aufgabe. Nachdem er Rex außer Gefecht gesetzt hatte, war er zum Devil’s Graveyard aufgebrochen, um dort ein Massaker zu veranstalten.

Ein Sid-Vicious-Double ging an ihm vorbei, verließ die Bar und schlug die Richtung zum großen Theatersaal ein, der den meisten Raum des Hotelparterres einnahm. Sein Anblick riss den Kid aus seinen Grübeleien. Die Back-From-The-Dead-Show hatte eine ganze Reihe interessanter Gestalten ins Hotel gelockt. Leute, die so taten, als seien sie längst verstorbene Sänger, wimmelten überall herum, und wie der Idiotische Michael-Jackson-Imitator bewiesen hatte, waren sie totale Spinner. Und zwar ausnahmslos alle. Und alle hatten die gleiche Vorliebe. Sie fühlten sich in der Haut eines anderen wohler als in ihrer eigenen.

Seit er sich im Hotel aufhielt, hatte der Kid seine Sonnenbrille nicht abgenommen. Seine Augen waren höchstwahrscheinlich blutunterlaufen und trübe von den vielen Stunden auf der Straße und den Drinks und dem Mangel an Schlaf kurz vor seiner Ankunft. Die Sonnenbrille eignete sich auch bestens dazu, Fremde auf Distanz zu halten. Niemand konnte zu ihm Augenkontakt herstellen und niemand deutete die dunklen Gläser fälschlicherweise als Einladung zu einem Schwätzchen. Zusammen mit seiner typischen schwarzen Kleidung unterstützte die Sonnenbrille seinen »Lasst-mich-verdammt-noch-mal-in-Frieden«-Look. Und sie verfehlte auch nicht ihre Wirkung auf das Personal, das sich am anderen Ende der Bar aufhielt, solange es für sie in seiner Nähe nichts zu servieren gab.

Auf die Theke hatte er neben sein Glas Bourbon eine nicht angezündete Zigarette aus einer erst vor Kurzem geöffneten Packung deponiert, die neben einem kleinen Silbertablett lag, das für Trinkgelder vorgesehen war. Er wusste, dass das Personal Stoßgebete zum Himmel schickte, er möge die Zigarette nicht anzünden, denn das hieße, dass sie ihn auffordern müssten, sie wieder auszumachen. Für den oberflächlichen Betrachter erschien es vielleicht, als hätte er überhaupt nicht die Absicht, die Zigarette anzuzünden, oder einfach vergessen, dass sie noch dort lag. Für jeden, der seinen Ruf kannte, war es jedoch klar, dass sie dort lag, um mit jemandem einen Streit vom Zaun zu brechen, der etwas gegen Raucher hatte.

Nachdem er zwanzig Minuten lang sein halbvolles Glas angestarrt hatte, nahm er es hoch und leerte es in einem Zug. Er stellte es heftig genug auf die Theke, um Valerie, die Bardame, die ihn vorher schon bedient hatte, auf sich aufmerksam zu machen. Sie kam nervös zu ihm.

»Das Gleiche noch mal, Sir?«

Er nickte und sie schenkte ihm ein weiteres halbes Glas Sam Cougar ein. Als Belohnung dafür, dass sie ihm das Glas gefüllt hatte, ohne ihn in irgendeinen Wortwechsel zu verwickeln, warf er einen zerknüllten Zwanzigdollarschein auf die Theke.

»Behalten Sie den Rest.«

»Vielen Dank, Sir.«

Während sie die Einnahme in der Registrierkasse am Ende der Theke verbuchte, erklang hinter dem Kid die Stimme eines Mannes.

»Eine Flasche von deinem besten Champagner, Valerie«, sagte sie fröhlich. Sie war lautstärkemäßig derart eingepegelt, dass jeder in der Bar sie hören konnte. Und, wie ihr Eigentümer hoffte, beeindruckt war.

Er war offensichtlich jemand, den die Bardame kannte und verabscheute, denn sie wandte sich augenblicklich um und zwang sich zu einem falschen Lächeln. Ein Lächeln, das verkündete, dass sie ihn nicht mochte, jedoch gezwungen war, ihm in den Hintern zu kriechen, wenn sie ihren Job behalten wollte.

Zu seiner gelinden Überraschung erkannte der Kid den Mann aus den Fernsehnachrichten. Sein Name war Jonah Clementine, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender einer bedeutenden Internationalen Bank, die nach über hundert Jahren erfolgreicher Geschäftstätigkeit aufgelöst worden war. Tausende fleißiger Angestellter hatten ihren Job verloren und nur geringe oder gar keine Abfindung erhalten, während Clementine den Skandal mit einem bedeutenden Zuwachs an Vermögen, wenn auch nicht an Ansehen, überstanden hatte. Nachdem er und seine Partner sich über mehrere Jahre jährliche Bonuszahlungen von über zwanzig Millionen Dollar genehmigt hatten, war es ihm gelungen, sich eine Zahlung von dreißig Millionen zu sichern, kurz bevor die Bank in aller Öffentlichkeit und unter sehr lautem Getöse zusammenbrach. Er war genau jener Typ Gast, den das Hotelpersonal von ganzem Herzen hasste. Er behandelte sie als niedere Wesen, die kaum seiner Beachtung wert waren und die ihn stets lächelnd aufs Zuvorkommendste behandeln mussten. Was Valerie anscheinend in diesem Moment tat.

Clementine hatte außerdem einen Ruf als Internationaler Playboy. Ein blondes Fotomodell Anfang zwanzig hing an seinem Arm. Sie hatte ein unglaublich großes Paar – vorwiegend mit Silikon gefüllter – Titten unter einem engen weißen T-Shirt, die sie gegen den Oberarm ihres Begleiters drückte. Ihre langen Beine, nahtlos golden gebräunt, waren fast bis zur Hüfte zu bewundern, wo sie in kurzen goldenen Shorts verschwanden. Sie war, kurz gesagt, das perfekte Pendant zu Jonah Clementine und seinem dreitausend Dollar teuren maßgeschneiderten grauen Savile-Row-Anzug. Seit der Skandal um seine Geschäftemacherei von sämtlichen Nachrichtendiensten ausgiebig zerpflückt worden war, hatte er offensichtlich Zeit gehabt, die Dienste eines persönlichen Fitnesstrainers in Anspruch zu nehmen. Obgleich schon Anfang vierzig, hatte er eine Statur, die nicht mehr die eines Bürohengstes war. Er hatte einen muskulösen Oberkörper, der ihn, zusammen mit einer orangen, wahrscheinlich künstlichen Sonnenbräune, durchaus attraktiv aussehen ließ. Er trug ein cremefarbenes Seidenhemd unter seinem Anzugjackett und hatte sich ein rot-schwarz kariertes Tuch locker um den Hals gebunden. Im Gegensatz zu den Gästen, die der Kid in den von ihm bevorzugten Bars antraf, war er glatt rasiert und duftete nach einem teuren Eau de Cologne, während das kurze, bürstenartige Styling seines schwarzen Haars aussah, als wäre mindestens eine Stunde nötig gewesen, um es vor einem Spiegel zu perfektionieren.

»Sir, wie viele Gläser möchten Sie dazuhaben?«, fragte Valerie als Reaktion auf seine Bestellung einer Flasche Champagner.

»Bitte nur zwei, Valerie. Gönn dir auch einen Drink, okay? Ich habe heute eine Gewinnsträhne erwischt.«

»Haben Sie das nicht immer?«, scherzte die Bardame höflich und ging zum Kühlschrank hinter der Theke, um den Champagner zu holen.

Während sie eine Flasche Diamant Bleu – das typische Neureichengetränk – aussuchte, beäugte der Millionär den Bourbon Kid. Der Kid hatte sich seine unangezündete Zigarette in den Mundwinkel geklemmt, wo sie für einen Moment unberührt hing, ehe sie sich plötzlich von selbst anzündete. Es war ein Trick, der im Laufe der Jahre viele Leute beeindruckt hatte. Er beeindruckte Jonah Clementine jedoch nicht im Mindesten. Er war der Typ Mann, den nur Dinge beeindruckten, die er kontrollieren konnte. Eine Niete wie der Bourbon Kid ging ihm höchstens auf die Nerven. Und das war genau das, was der Kid beabsichtigte.

»Entschuldigen Sie, aber es ist nicht gestattet, in der Bar zu rauchen.« Die Worte klangen einleuchtend und umgänglich, waren jedoch ganz klar als Befehl gemeint.

Der Kid ignorierte ihn.

»Hey, Sie! Ich rede mit Ihnen!«

Der Kid nahm die Zigarette mit der linken Hand aus dem Mundwinkel und schaute zu Jonah Clementine hinüber. Dann blies er eine Rauchwolke in Richtung des Playboys.

»Was zum Teufel fällt Ihnen ein?«, schnappte Clementine. »Außer Ihnen sind auch noch andere Leute hier. Nicht jeder möchte Ihren Qualm einatmen.«

»Was wollen Sie eigentlich?« Jemand, der vorsichtiger gewesen wäre als Clementine, jemand, der nicht so sehr daran gewöhnt gewesen wäre, stets seinen Willen zu bekommen, hätte den drohenden Unterton in der Stimme des Fragenden sicherlich wahrgenommen. Wahrgenommen und vielleicht darüber nachgedacht, was er bedeuten könnte. Aber Clementine machte weiter, zutiefst erstaunt, dass jemand es wagte, sich ihm zu widersetzen.

»Ich will, dass Sie Ihre verdammte Zigarette ausdrücken, sonst lasse ich Sie hinauswerfen.«

»Nö.«

Clementine runzelte die Stirn. »Nö? Ist das alles? Nö?«

»Jo.«

»Okay. Sie lassen mir keine Wahl. Valerie, ruf den Sicherheitsdienst. Er soll diesen Kerl entfernen. Und zwar auf der Stelle.«

Die junge Frau hinter der Theke wand sich unbehaglich. Auf gewisse Art und Weise war sie froh, dass Clementine es ihr abgenommen hatte, den Typ wegen der Raucherei zur Rede zu stellen, denn sie wollte nicht, dass der Mann mit der Sonnenbrille sie für seinen Hinauswurf aus der Bar verantwortlich machte. Aber sie hatte auch wenig Lust auf die unnötige Unruhe, die sich hier schon bald breitmachen würde.

Versteckt unter der Theke befand sich ein Alarmknopf, der genau für solche Zwischenfälle vorgesehen war. Valerie bückte sich und drückte entschlossen darauf. Innerhalb von fünfundvierzig Sekunden eilte ein stämmiger Angehöriger des Sicherheitsdienstes durch den Haupteingang in die Lounge, ging zur Bar und hielt Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen für Verdruss. Sein Name lautete Gunther und er war mit vierzig Jahren einer der ältesten Sicherheitswachmänner des Hotels. Hochgewachsen und von athletischer Statur, hatte er einen kurzen, militärischen Bürstenhaarschnitt, der an seine Zeit in der Army erinnern sollte. Er trug eine schicke schwarze Baumwollhose und ein schwarzes T-Shirt, unter dem sich die Konturen seiner ausgeprägten Muskeln abzeichneten. Sein Gesicht war ziemlich ramponiert und verriet, dass er in seinem Leben schon einiges eingesteckt hatte.

»Was ist los, Valerie?«, fragte er.

»Ich sage Ihnen, was los ist«, schaltete Clementine sich ein. »Es geht um diesen Clown da drüben. Er will seine Zigarette nicht ausmachen und verpestet die Luft.«

»Ich verstehe.« Gunther wandte sich zum Kid um, der unbekümmert auf seinem Barhocker saß und an seiner Zigarette zog. »Sir, ich muss Sie bitten, Ihre Zigarette auszumachen.« Die Worte klangen höflich, aber in der Stimme des Sicherheitsmannes lag ein stählernes Klirren.

»Dann bitten Sie.«

Gunther blickte zu Clementine und nickte. Er dachte offensichtlich genauso wie er über diesen Kerl, der es wagte, in der Bar zu rauchen.

Seine Stimme verhärtete sich. »Okay, Mann. Kommen Sie, wir machen einen Spaziergang.«

Während er redete, streckte er die Hand aus und legte sie auf die rechte Schulter des Kid. Er wollte ihn sanft, aber mit Nachdruck vom Hocker ziehen und hoffte, dass er ihm widerstandslos folgte.

Was er jedoch nicht tat.

Mit der rechten Hand packte der Bourbon Kid Gunthers massige Faust und drückte die Finger zusammen, zerquetschte sie beinahe. Gleichzeitig nahm er die Hand des Sicherheitswachmanns von seiner Schulter, ohne von seinem Hocker aufzustehen.

»Fassen Sie mich nie wieder an.«

Er löste seinen Griff, und der Sicherheitsmann trat zurück und bewegte vorsichtig seine Finger, um sich zu vergewissern, dass sie noch funktionierten. Zufrieden, dass seine Hand nicht gebrochen war, nahm er den Kid genauer in Augenschein. Einen langen, prüfenden Blick später verriet seine Miene, dass er eigentlich froh war, so glimpflich davongekommen zu sein.

»ich kenne Sie«, sagte er.

»Gut.«

»Genießen Sie Ihre Zigarette.«

»Das werde ich.« Der Kid nahm einen weiteren Zug und fügte hinzu: »Eine Sache noch, ehe Sie gehen.«

»Ja?«

»Ich werde diesen Arsch im Anzug in einer Minute ins Jenseits befördern. Schicken Sie jemanden runter, um die Schweinerei zu entfernen.«

Jonah Clementine hörte die Drohung und schäumte vor Wut. »Was denken Sie, wen Sie einen Arsch nennen?« Er wandte sich an Gunther und bellte: »Sie! Schaffen Sie diesen Penner nach draußen oder Sie können Ihrem Scheißjob Lebewohl sagen!«

»Er ist okay. Lassen Sie ihn in Ruhe.« Mit diesen Worten machte Gunther kehrt und entfernte sich. Valerie und die anderen Gäste schauten ihm schweigend nach und fragten sich, was wohl als Nächstes geschehen würde. Dabei gaben sich alle Anwesenden Mühe, nicht die dunkle Gestalt anzustarren, die an der Theke saß und lässig eine Zigarette rauchte.

Es war viele Jahre her, seit jemand eine von Clementines Anweisungen nicht befolgt hatte, und er war nicht zu dem Mann geworden, der er war, indem er Dinge auf sich beruhen lassen hatte. Sichtlich in Rage nahm er die Angelegenheit selbst in die Hand. Er war jemand mit beträchtlicher Macht und großem Vermögen und noch größerer Bedeutung, und in aller Öffentlichkeit von einem einfachen Wachmann wie Gunther lächerlich gemacht und von Säuferabschaum beleidigt zu werden, war etwas, woran er nicht gewöhnt war. Außerdem war da noch die Tussi, die er beeindrucken musste.

Den Kid wütend anfunkelnd brüllte er: »Mach sofort die Zigarette aus!«

Ein paar quälend lange Sekunden verstrichen, ehe der Kid gehorchte und die Zigarette in der silbernen Schale ausdrückte, die Valerie für Trinkgelder auf die Theke gestellt hatte.

»Danke«, sagte Clementine triumphierend und verzog den Mund zu einem herablassenden Grinsen. »Das war doch gar nicht so schwer, oder?« Der Kid ignorierte ihn. Stattdessen griff er nach der Zigarettenschachtel auf der Theke. Er holte sich eine neue Zigarette heraus und klemmte sie sich in den Mundwinkel.

Clementine reckte sich. Seine blonde Freundin massierte seinen Rücken, um ihn anzustacheln. Er und der Kid waren keinen Meter voneinander entfernt, und die Tussi sah aus, als törnte die Auseinandersetzung sie an.

»Oh, du bist wohl ein verdammter Komiker, nicht wahr? Ha-ha-ha«, lachte Clementine. Er senkte die Stimme und zischte drohend: »Wenn du den Glimmstängel anzündest, solange ich noch hier bin, lasse ich dich in die Wüste schleifen und erschießen wie einen tollwütigen Hund.«

Der Kid musterte Clementine lange durch seine Sonnenbrille. Ein paar Sekunden lang starrten die beiden einander an, ohne sich zu rühren. Dann streckte Clementine die Hand aus, um dem anderen die Zigarette aus dem Mund zu reißen. Der Kid packte den Arm mit der linken Hand und stoppte seine Vorwärtsbewegung. Dann schlug er Clementine mit der rechten Faust mitten ins Gesicht. Hart. Und alles, ohne seinen Hocker zu verlassen.

Der Geschäftsmann schwankte, einen verwirrten Ausdruck im Gesicht. Blut sickerte aus seinen beiden Nasenlöchern und rann hinunter zu seinem Mund. Nach zwei quälend langen Sekunden kippte er nach hinten auf den Fußboden. Ein unangenehmes Geräusch erklang, als sein Schädel auf den Holzbrettern aufschlug.

Die Blondine in den goldenen Hotpants warf die Arme in die Höhe und kreischte.

»O mein Gott, Jonah! Bist du okay?« Sie bückte sich und beugte sich über ihn, um zu sehen, ob es ihm gut ging. Ihre fünfzehn Zentimeter hohen Pfennigabsätze und das Gewicht ihrer aufgeblähten Brüste machten es schwierig für sie, das Gleichgewicht zu halten, daher stützte sie sich mit einer Hand auf seine Brust, um nicht umzufallen. Er reagierte nicht. Nach ein paar Versuchen, seine Wangen zu tätscheln, um ihn aufzuwecken, schaute sie zum Kid hoch. »Er ist ohnmächtig«, sagte sie anklagend. »Sie haben ihn niedergeschlagen.«

»Er ist nicht ohnmächtig.«

»Doch, das ist er. Er ist völlig weggetreten.«

Der Kid zog am Ende seiner kalten Zigarette und sie zündete sich wie von selbst an, ehe er weiterredete. »Wenn er ohnmächtig wäre«, knurrte er, »hätte er noch einen Puls.«

Die Blondine starrte für einen Moment mit offenem Mund auf Clementines Körper. Sie brauchte eine Weile, aber am Ende begriff sie, dass er nicht mehr atmete. Erneut blickte sie zum Kid hoch, der sich nun wieder seinem halbvollen Glas Sam Cougar zugewandt hatte.

»O mein Gott!«, sagte sie. »Wie haben Sie die einfach so angezündet? Das war sooo cool

Sie stand auf und kam zu ihm herüber. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und flüsterte in sein Ohr. »Wollen Sie mir nicht einen Drink spendieren?«

»Verpiss dich, Schlampe«, knurrte er mit einer Stimme wie vom Wasser glatt geschliffene Bachkiesel. Dann schaute er zu Valerie, der Bardame, und deutete mit einem Kopfnicken auf sein Glas. »Miss?«

»Ja, Sir?« Das Herz der jungen Frau raste derart, dass sie überrascht war, überhaupt einen Ton über die Lippen zu bringen.

»Füllen Sie das Glas.«

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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