DREIUNDFÜNFZIG

Sanchez war angespannter und nervöser als jeder der Finalisten. Nur wenige Minuten zuvor hatte er einen psychotischen, rothaarigen, Pferdeschwanz tragenden Amokschützen in einem Kühlraum eingeschlossen. Und er musste damit rechnen, dass dieser Irre jeden Moment wieder auftauchte, um sich zu rächen. Dann waren da noch diese Zombies draußen in der Wüste, die sich in diesem Moment dem Hotel mit der Absicht näherten, jeden seiner Gäste oder Angestellten bei lebendigem Leib zu verspeisen.

Wenn er alles glaubte, was ihm erzählt worden war, dann ruhten seine Hoffnungen, aus alldem lebendig herauszukommen, einzig und allein auf den Schultern von Julius, einem James-Brown-Imitator – und möglicherweise dreizehnten Apostel. Wenn Julius den Wettbewerb gewann, würde – angeblich – irgendein Fluch gebrochen. Allerdings hatte Sanchez noch immer nicht vergessen, dass Gabriel einige flüchtige Bemerkungen fallen gelassen hatte, die besagten, dass das Hotel geradewegs in die Hölle hinabrauschen würde, wenn Julius den Vertrag unterschrieb, mit dem der Sieger belohnt werden sollte. Egal, von welcher Seite er es betrachtete, nichts davon war richtig gut. Und sämtliche Fragen sollten innerhalb der nächsten halben Stunde beantwortet werden.

Als er hörte, wie Nina Forina den letzten Interpreten ankündigte, hing sein Nervenkostüm in Fetzen. Es war kein Trost, dass der fragliche Sänger, Julius, eine Ewigkeit brauchte, um auf der Bühne zu erscheinen. Aber als es schon danach aussah, als hätte er sich aus dem Staub gemacht, tauchte er mit einem Idiotischen Grinsen in den Kulissen auf.

Sanchez hielt sich zusammen mit Elvis und den anderen Sängern an der Bühnenseite auf und verfolgte aufmerksam Julius’ Auftritt. Es war keine Enttäuschung. Als Titel hatte e. »I Got You (I Feel Good)« ausgesucht. Wie der Blues Brother und Emily hatte er den Vorteil, vom Orchester begleitet zu werden. Jacko hatte mit seiner Interpretation von »Sweet Home Chicago« den Musikern Gelegenheit gegeben, sich warmzuspielen, und Emilys engelhafter Gesang hatte ihr Spiel in höhere Sphären aufsteigen lassen. Nun waren sie, vor Selbstvertrauen strotzend, für Julius’ Gesangskünste eine solide und zuverlässige Basis.

Während Emily mit ihrer wunderschönen Stimme, Elvis mit seinem Charisma, Janis mit ihren spaßig wirkenden unflätigen Beschimpfungen, der Blues Brother mit seiner Gitarre und Freddie Mercury mit einer geradezu unheimlichen Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Vorbild seiner Imitation aufwarten konnten, beherrschte Julius einige fantastisch schwungvolle Tanzschritte. Während seines Auftritts nutzte er wirklich jeden Zentimeter der Bühne. Als er seinen Song etwa zur Hälfte absolviert hatte, schwitzte er heftig. Er ging mehrmals in den Spagat und sprang jedes Mal wieder auf, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Er stolzierte herum, schlug sich mit der Hand im Takt der Musik gegen den Kopf und begleitete, wenn er nicht sang, die Instrumentalpassagen mit lauten Rufen und heiseren Schreien. Jedes »Heh!« oder »Ouuw!«, das er ausstieß, schien das Publikum noch mehr anzustacheln. Wie bei mehreren der vorangegangenen Interpreten drängte es sich auf den Gängen, schlug sich gegen die Köpfe und tanzte zur Musik. Aber nicht nur das Publikum ging begeistert mit. Speziell die Blechbläser des Orchesters schienen durch den Auftritt in Hochstimmung versetzt worden zu sein.

Sanchez behielt die Juroren halbwegs im Auge und versuchte, ihre Reaktionen abzuschätzen. Lucinda Brown wiegte sich und klatschte im Takt der Musik und hatte sichtlich ihren Spaß. Nigel Powell, der neben ihr saß, ließ sich in dieser Hinsicht nur wenig anmerken. Sein Gesichtsausdruck blieb so gut wie unverändert, aber wenn seine Körpersprache ein Richtmaß war, dann schien er nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und presste die Lippen zusammen. Candy Perez, an seiner anderen Seite, lachte und reckte die Arme nacheinander in die Luft und machte Tanzbewegungen, die sie aussehen ließen, als ersteige sie eine unsichtbare Leiter. Sanchez beobachtete aufmerksam, wie die Bewegungen ihrer Arme ihre fest verschnürten Brüste abwechselnd auf und nieder hüpfen ließen. Mein Gott, dachte er. Jeden Moment springt eine von ihnen heraus!

Während er die Kluft am oberen Ende ihrer engen, nur teilweise geschlossenen Jacke studierte, war er überzeugt, eine Brustwarze erkennen zu können, die den Reißverschluss der Jacke überlistet hatte und herausgerutscht war. Er riss die Augen weit auf und begann, Elvis anzustoßen, der rechts von ihm stand.

»Scheiße, Mann – guck doch mal!«, flüsterte er. »Ich glaube, ich kann eine von Candys Brustwarzen sehen!«

Er erwartete, dass sein Freund sich bei ihm für diesen aufmunternden Hinweis bedankte. Stattdessen hörte er eine Frauenstimme. »Danke für den Hinweis, das finde ich hochinteressant«, sagte sie ziemlich kühl.

Sofort wurde Sanchez bewusst, dass es nicht Elvis gewesen war, den er angestoßen hatte, sondern Emily. Er schaute sich um und sah, dass Elvis hinter ihm stand und sich mit Janis Joplin unterhielt. Er spürte, wie seine Wangen sich vor Verlegenheit röteten.

»Oh – tut mir leid«, murmelte er. »Ich dachte, Sie seien jemand anders.«

»Ist schon gut«, erwiderte Emily mit einem leisen Lachen.

»YO, ELVIS!«, rief Sanchez über die Musik seinem Freund zu. »SCHNELL! ICH GLAUBE, ICH KANN EINE BRUST-WARZE UNSERER GUTEN ALTEN CANDY SEHEN

Elvis ließ Janis mitten im Satz stehen und kam herüber. Er blickte über Sanchez’ Schulter und schielte auf Candy, um zu sehen, ob sein Freund mit seiner Vermutung Recht hatte. Nach ein paar Sekunden nickte er bestätigend.

»Hübsch.«

Ob Julius’ Auftritt gut genug war, um ihn zum Sieger des Wettbewerbs zu machen, würde Sanchez nie erfahren. Er und Elvis klebten während der letzten Minute des Songs mit ihren Blicken an Candys vorwitziger Brustwarze.

Sanchez war ein leidenschaftlicher Fan von Candy Perez, seit sie mit ihrem Son. »I Love Chubbies« die Hitparade angeführt hatte. Er hatte einmal ein Poster von ihr an die Wand des Tapioca geheftet. Es war nur knapp eine Stunde hängen geblieben, ehe jemand es gestohlen hatte. Damals hatte er sich maßlos über den Diebstahl geärgert, doch das war jetzt vergessen. Wer immer das Poster stibitzt hatte, sollte es in Gottes Namen behalten und sich darüber freuen. Er hatte jetzt etwas Besseres: den Anblick von Candys Brustwarze, der für alle Ewigkeit in seinem fotografischen Gedächtnis gespeichert war. Er brauchte nur daran zu denken und ihm wurde schwindelig. Bei all dem, was an diesem Tag vorgefallen war, hatte er zum Essen keine Zeit gehabt und der Hunger in Verbindung mit Candys Anblick machte ihn benommen.

Als Julius seinen Auftritt beendete und alle – Candy inklusive – aufhörten herumzuhüpfen, verspürte Sanchez einen Anflug von Enttäuschung. Doch er applaudierte und jubelte lauter, als er es bei den vorangegangenen Darbietungen getan hatte.

»Hast du das mitgekriegt?«, sagte er und stieß Elvis abermals an. »Affengeil. Ich habe praktisch ihre ganze Titte gesehen, Mann! Absolut hammermäßig!«

»Elvis ist dahinten«, erwiderte Emily.

»Hm? Oh.« Abermals spürte er, wie seine Wangen rot anliefen. Elvis unterhielt sich erneut mit Janis Joplin. »Sorry. Ich dachte, Sie seien er.«

»Ich weiß.«

»Aber haben Sie das gesehen? Erstaunlich, nicht wahr? Sie hat fantastische Titten.«

»Elvis ist immer noch dahinten.« Emilys Stimme hatte einen deutlich frostigen Unterton.

»Ja, ich weiß. Aber ich muss das mit jemandem teilen, also tun Sie nur für eine Minute so, als seien Sie ein Kerl, okay? Mein Gott, das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«

Emily lachte. »Sie wollen, dass ich so tue, als sei ich ein Mann? Okay.« Sie überlegte einen Moment lang, ehe sie wieder zu reden begann. »Wissen Sie, dass ich sie heute Morgen unter der Dusche gesehen habe?«

»Wie bitte?«

»Ja. Sie war, na ja, völlig nackt – und mit einer anderen Frau zusammen. Sie haben rumgemacht.«

Sanchez hörte, was Emily erzählte, und fühlte sich noch benommener. Seine Beine gaben nach und plötzlich, obgleich er Emilys Stimme deutlich hörte, konnte er sie nicht mehr sehen.

»Sanchez? Ich habe nur einen Witz gemacht. Ich habe das erfunden. Ich habe nur versucht, wie ein Mann zu reden, wie Sie mich gebeten haben. Sanchez? Sanchez?« Sie wiederholte seinen Namen mehrmals, ehe sie plötzlich die Stimme erhob und laut rief: »Hey, kann mal jemand einen Sanitäter holen? Ich glaube, dieser Typ hier ist in Ohnmacht gefallen.«

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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