ACHTUNDFÜNFZIG ♦
Nigel Powell schaute auf seine Armbanduhr. 0:59 Uhr. Das kam ja genau hin. Die Show war eine einzige Katastrophe gewesen. Er schwor sich, nie wieder zuzulassen, dass sie so lange dauerte. Außerdem brauchte er fürs nächste Jahr einen besseren Sicherheitsdienst. Und einen strafferen Zeitplan. Trotzdem, jetzt war es vorbei. Jacko hatte seinen Namen unter den Vertrag gesetzt. Ende der Show.
Im nächsten Jahr gäbe es keinen Platz für James-Brown-Imitatoren. Julius hätte es eher als jeder andere geschafft, die Show zu einem Desaster werden zu lassen. Aber wer war er? Und warum war er so erpicht darauf gewesen zu gewinnen? Während er mögliche Antworten in Erwägung zog, ging Powell eine weitere Frage durch den Kopf. Wer zur Hölle hatte Julius erschossen? Sicher, er selbst hatte den Sicherheitsdienst angewiesen, ihn zu suchen und ihn zu einem Ausflug ohne Wiederkehr in die Wüste mitzunehmen. Aber das war viel früher gewesen. Er hatte keinem der Wachmänner den Befehl gegeben, eine Pistole zu ziehen und Julius auf offener Bühne zu erschießen, falls er versuchen sollte, den Vertrag an sich zu bringen. Nun, er würde später eine eingehende Untersuchung der Vorfälle anordnen. Im Moment war er nur erleichtert, einen Trottel gefunden zu haben, der seinen Vertrag mit dem Teufel unterschrieb.
Er musste zugeben, dass Jackos kühles und lässiges Auftreten beeindruckend war. Der junge Sänger hatte sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen lassen, als Julius vor seinen Augen erschossen worden war. Und selbst jetzt, als die Zombies längst unter den Zuschauern im Saal zu wüten begonnen hatten, erschien er bemerkenswert unbesorgt. Sowohl er als auch Powell hatten Blutspritzer von Julius’ zerschmettertem Schädel auf ihrer Kleidung. Der weiße Anzug des Hotelbesitzers war ruiniert. Jackos schwarzes Jackett kaschierte die Blutflecken jedoch ganz gut. Dennoch konnte Powell mit einem ruinierten Anzug leben. Es wäre auf jeden Fall besser, als mit Jacko die Plätze zu tauschen. Er wusste genau, was als Nächstes auf den siegreichen Finalisten zukam, und das wäre alles andere als angenehm.
»Das dort tut mir leid«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf die blutige Leiche hinter ihnen. Ihm war anzusehen, wie sehr ihn der Anblick anekelte. »Aber herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des Wettbewerbs. Sie haben sich ihn redlich verdient.«
»Danke«, erwiderte Jacko lächelnd. »War schon ein seltsamer Tag, nicht wahr?«
»Das war er ganz gewiss.« Powell wandte sich zu zwei Wachmännern um, die sich im hinteren Bereich der Bühne herumdrückten. Wie alle anderen auf der Bühne starrten sie mit einem Ausdruck entsetzten Unglaubens auf die Zombies, die die Zuschauer angriffen.
»Hey, Männer!«, rief er ihnen zu. »Bleibt auf der Bühne, okay? Die Zombies kommen nicht hier herauf.«
Er schaute in den Zuschauerraum. Die Zombies kamen durch jeden Ausgang herein, stürzten sich auf die schreienden Zuschauer und rissen ihnen mit den zähnen das Fleisch in Fetzen von den Knochen. Es war ein grässlicher Anblick, an den Powell jedoch gewöhnt war. Er hatte ihn schon oft zuvor gesehen. Die Zombies griffen gerne in großer Zahl an und konzentrierten sich mit Vorliebe auf einzelne verletzbare Zuschauer, die von den Gruppen getrennt worden waren, die es geschafft hatten zusammenzubleiben. Drei oder vier der grässlichen, halbverwesten Kreaturen taten sich dann zusammen und attackierten jeweils einen Menschen. Frauen, denen die Gliedmaßen von den unheimlichen Fleischfressern abgerissen wurden, stießen schrille Schreie aus. Junge Männer kreischten wie kleine Kinder, während Zombies ihnen die Augen auskratzten, die Zähne in ihr Fleisch schlugen und ihnen die Kleidung vom Leib fetzten.
Gleichgültig das Geschehen verfolgend, atmete Powell erleichtert auf, als er daran dachte, wie knapp die Show vor 1:00 Uhr beendet worden war. Er betrachtete das Massaker einige weitere Sekunden, gestattete sich den Anflug eines Lächelns, ehe er sich wieder zu Jacko umwandte.
»Stören Sie sich nicht an den Ghuls«, sagte er. »Diese – Wesen – verschwinden sofort, wenn sie sehen, dass Sie den Vertrag unterschrieben haben.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, meine Jacko kühl und schaute auf das Gemetzel im Zuschauerraum.
Als Erfinder, Eigentümer, Produzent und leitender Juror der Show hatte Powell immer wieder feststellen können, dass jedes Jahr der Sieger vom Anblick des untoten und blutigen Chaos, das sie veranstalteten, zumindest ein wenig geschockt war. Er erinnerte sich an die Gewinnerin des Vorjahrs, eine Dusty-Springfield-Imitatorin. Sie hatte wie verrückt geschrien und einen hysterischen Anfall gehabt. Er hatte sie nicht beruhigen können und war froh gewesen, als der Mann in Rot aus dem Zuschauerraum gekommen war. Er hatte ihr direkt in die Brust gegriffen und ihr die Seele herausgerissen. Eine ziemlich hässliche Angelegenheit, wirklich. Aber unvermeidbar.
Die Ankunft von Powells bösem Freund aus dem Spiegel kennzeichnete stets das Ende der abendlichen Ereignisse. Abermals schaute er auf die Uhr, dann lächelte er Jacko an. Jeden Moment würde der Mann in Rot in irgendeiner Ecke wie aus dem Nichts erscheinen, mit den Händen in Jackos Brustkorb greifen und ihm die Seele rauben. Die Tatsache, dass der Sänger nicht jammerte oder gar schrie wie die meisten vorangegangenen Sieger, machte die Angelegenheit für Nigel Powell erheblich einfacher.
Schließlich, genau im gleichen Moment, als Powells Armbanduhr ein leises Signal ertönen ließ, um ein Uhr und damit das Ende der Geisterstunde anzuzeigen, erschien der Mann in Rot auf dem rückwärtigen Teil der Bühne und grinste wie ein Kind in einem Süßwarenladen. Jacko wandte ihm den Rücken zu und sah ihn daher nicht herankommen. Powell gab sich alle Mühe, den Blues Brother abzulenken, während sich der große schwarze Mann mit dem blendend weißen Grinsen und dem schrillen roten Anzug und Hut zu ihnen hindurchschlängelte.
»Wissen Sie«, sagte Powell leutselig und legte Jacko eine Hand auf die Schulter. »Ich hatte erwartet, dass Judy Garland gewinnt, aber Sie haben den Blues Brothers mit Ihrer Coverversion von ›Sweet Home Chicago‹ wirklich alle Ehre gemacht.«
»Coverversion, von wegen!«, sagte Jacko verächtlich.
»Moment mal«, sagte Powell. Jackos abweisendes, sogar arrogantes Auftreten, seit er zum Sieger erklärt worden war, machte ihn stutzig. »Was meinen Sie?«
»Coverversion? Pah. Das war keine Coverversion. Die Blues Brothers haben diesen Titel gecovert. Aber nicht ich.« Er hob die Schultern, um die Hand des Hotelbesitzers abzuschütteln.
»Hä?« Powell war sichtlich verwirrt. »Wie meinen Sie das? ›Sweet Home Chicago‹ war ein Blues-Brothers-Song, oder etwa nicht? Natürlich war er das – sie haben ihn in dem Film gesungen. Ich habe es selbst gesehen.«
»Ja, das haben sie. Aber sie haben ihn nicht geschrieben.«
»Ah, richtig. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Und wer schrieb ihn?«
Jacko nahm seinen Hut ab, setzte ihn Powell auf den Kopf und drückte ihn herunter. Dann zwinkerte er seinem neuen Arbeitgeber zu.
»Ich habe ›Sweet Home Chicago‹ geschrieben«, erklärte er.
Der Hotelbesitzer stand wie zur Salzsäule erstarrt und versuchte zu begreifen, was Jacko meinen könnte. Dann durchfuhr ihn ein eisiger Schreck und sein Unterkiefer klappte nach unten. Er schaute auf den dicken Vertrag in seinen Händen und blätterte darin schnell zum Ende. Als er die letzte Seite erreicht hatte, starrte er auf die Unterschrift. Der Name, mit dem Jacko unterschrieben hatte, war deutlich zu lesen. Jeder Buchstabe kam Powell vor wie ein Stich mitten in sein Herz.
Robert Leroy Johnson.
Er richtete den Blick wieder auf den jungen Mann, der vor ihm stand. Nur war Jacko jetzt nicht mehr alleine. Elvis, Sanchez und Janis waren näher gekommen, um zu sehen, was im Gange war. Noch beunruhigender war, dass der Mann in Rot sich hinzugesellt und nun einen Arm um Jackos Schultern gelegt hatte.
»Schön, Sie mal wiederzusehen, Mister Johnson«, sagte er und grinste Jacko an.
Powell war wie vom Donner gerührt. Er starrte Jacko an und konnte seinen Schock nicht verbergen. »Sie sind Robert Johnson? Der Blues Man?«
»Genau der bin ich.«
»Aber … aber haben Sie dem Teufel Ihre Seele nicht schon vor etwa einhundert Jahren verkauft?«
Der Mann in Rot löste seinen Arm um Jackos Schulter und legte eine Hand auf Nigel Powells linke Schulter. »Ja, Sir, das hat er. Damals, 1931.« Trotz seines breiten Grinsens klangen seine Worte hart und eisig wie Stahl.
Powells Hände begannen zu zittern. »Dann ist dieser Vertrag null und nichtig. Sie können ihm nicht etwas verkaufen, das er längst besitzt.«
Jacko zwinkerte ihm abermals zu. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich muss jetzt gehen, mein Sohn.«