DREISSIG ♦
Der Bourbon Kid wartete darauf, dass Jacko endlich damit aufhörte, dem Publikum zuzuwinken. Die Blues-Brothers-Nummer war nicht so gut gelaufen, wie er gehofft hatte. Emily Shannon, die Judy-Garland-Imitatorin, war weitaus besser. Und nachdem er sie kurz kennengelernt hatte, war der Kid ziemlich sicher, einen schlechten ersten Eindruck auf sie gemacht zu haben. Indem er versucht hatte, sie davon zu überzeugen, dass sie aus der Show aussteigen und nicht im Finale auftreten sollte, war es ihm lediglich gelungen, sie zu verärgern und sich sämtliche Sympathien bei ihr zu verscherzen. Das wäre nicht schlimm gewesen, wenn sie seinen Rat befolgt und sich aus der Show verabschiedet hätte, aber es sah nicht so aus, als hätte sie das getan. Das erzeugte bei ihm ein Gefühl des Unbehagens. Und etwas, das er schon lange nicht mehr empfunden hatte: Schuld. Er fühlte sich schuldig, sie verärgert zu haben. Er konnte sich jedoch beim besten Willen nicht erklären, warum es ihn störte.
Es war auf den Tag zehn Jahre her, dass er Beth, die einzige wahre Liebe in seinem Leben, für immer verlassen hatte. Emily sah Beth so ähnlich. Sie waren sogar gleich gekleidet, verdammt noch mal. Und Emily hatte so eine angenehme, freundliche Art und die gleiche offenherzige Unschuld, die Beth einst besessen hatte. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? War das irgendein Zeichen? Eine Chance, die Freveltaten von vor zehn Jahren wiedergutzumachen? Wenn er diesmal seine Fehler korrigierte und Emily rettete, würde das sein Gewissen erleichtern?
Die Erinnerung an das Gesicht seiner Mutter schoss ihm durch den Kopf. Er sah sich, sechzehn Jahre alt, wie er sich über sie beugte, während er ihr in die Brust schoss. Dann erinnerte er sich an das grinsende Gesicht von Kione, dem Vampir, der seine Mutter vergewaltigt und sie in eine von seiner Art verwandelt hatte. Dieser Hurensohn lebte noch, wenngleich in einem Zustand ewiger Qual, und hing von einer Decke daheim im Apartment des Kid herab, bereit, bei seiner Rückkehr wieder gefoltert zu werden. War das vielleicht der Ort, wo der Kid hingehörte und den er schnellstens aufsuchen sollte, um seinen Neigungen folgen zu können? Daheim? Verstümmelnd und folternd? Das war es nämlich, was er am besten konnte. Vor allem wenn es galt, damit etwas zu erreichen.
»Bist du okay?«, fragte Jacko.
Der Kid hatte kaum bemerkt, dass sein die Blues Brothers imitierender unfreiwilliger Helfer auf der Bühnenseite neben ihm stand. Er schreckte aus seinen sentimentalen Gedanken und musterte den Idioten in der roten Lederhose und dem schwarzen Anzugjackett. Er hatte all seine Hoffnungen auf diesen Clown konzentriert. Was für eine verdammte Zeitverschwendung.
»Ich bin hier fertig«, sagte er zu Jacko. »Du kannst die Sonnenbrille behalten. Viel Glück im Finale. Wenn du es bis dorthin schaffst.«
»Hä?«
Der Plan, Emily davon abzuhalten, weiterhin am Wettbewerb teilzunehmen, hatte nicht funktioniert. Der Kid hatte alles in seiner Kraft Stehende getan, um sie vor dem Unvermeidlichen zu bewahren, aber sie schien wild entschlossen zu sein, ihn zu ignorieren und sich selbst in Gefahr zu bringen, indem sie das Wettsingen gewann und einen unseligen Vertrag unterschrieb. Die Talente des Kid wurden woanders dringender gebraucht. Jeder, den er im Hotel Pasadena kennengelernt hatte, war ein verdammter Idiot, ein lausiger Betrüger oder ein mörderischer Schleimhaufen. Es wurde Zeit, sich zu verziehen.
indem er einen verwirrt dreinschauenden Jacko zurückließ, ging er zum Rezeptionstisch. Als er schließlich davor stand, hatte seine Laune sich derart verdüstert, dass er die Empfangsdame mit seiner Pistole bedrohte. Er machte ihr unmissverständlich klar, dass er lieber sofort seine Autoschlüssel ausgehändigt haben wollte, als dass ein Helfer seinen Wagen zu einem der Hotelausgänge brachte. Sie brauchte weniger als dreißig Sekunden, um seine Schlüssel zu finden und ihm zu geben.
Der hintere Parkplatz war gerammelt voll mit Autobussen, die scharenweise Trottel von außerhalb der Stadt herangekarrt hatten. Diese Busse standen alle auf dem hinteren Teil, sodass er zu seiner Freude seinen schwarzen Firebird in der ersten Wagenreihe nur ein paar Meter vom Hinterausgang des Hotels fand.
Er öffnete die Fahrertür und wollte gerade einsteigen, als er eine zum Chopper umgebaute Harley-Davidson an der Seite des Hotels von der vorderen Zufahrt kommend entlangrollen sah. Sie fiel ihm auf, weil der Fahrer nicht nur einen, sondern zwei Beifahrer hatte, einen auf dem Sitz vor ihm, den anderen hinter ihm. Und er erkannte alle drei.
Er rutschte langsam hinters Lenkrad und schloss leise die Fahrertür. Was hatte diese drei Typen ins Hotel verschlagen? Und warum waren sie zusammen? Der Erste, den er erkannte, war der fette Typ vorne – Sanchez, der Barkeeper aus dem Tapioca in Santa Mondega. Hinter ihm saß der Fahrer, ein mächtiger, kahl rasierter Biker, und hinter ihm Elvis, ein Berufskiller aus derselben Stadt. Zwei von diesem Trio standen mit der blutigen Schicksalsnacht des Kid vor einem Jahrzehnt in enger Verbindung. Als er zur Kirche gegangen war, um seinen jüngeren Bruder von einem Spätgottesdienst abzuholen, hatte er dort Elvis und Sanchez mit einem ganzen Haufen toter Vampire angetroffen. Elvis und ein Prediger namens Rex hatten die Vampire getötet und, so unglaublich es erschien, Sanchez hatte seinen Bruder vor den Vampirattacken beschützt. Jedenfalls war es das, was sie ihm erzählten, und er hatte keinen Grund, ihnen nicht zu glauben.
Der dritte Mann auf der Harley, der zwischen Sanchez und Elvis eingeklemmt war und das Bike lenkte, war sein Besitzer, Gabriel Locke. Ein New Age Disciple und wahrscheinlich ein ganz netter Bursche, aber angesichts dessen, was kürzlich in Plainview vorgefallen war, ein wenig sauer auf den Kid. Sogar mörderisch sauer.
Er beobachtete, wie die drei von dem Chopper abstiegen und zum Notausgang auf der Rückseite des Hotels gingen. Sanchez, der Obertrottel, versuchte ein paar Mal die Tür aufzuziehen, ehe ihm klar wurde, dass sie sich nur von der Innenseite öffnen ließ. Dann schlugen die drei die Richtung zur Vorderseite des Hotels ein.
Aber warum waren sie hier? Elvis war ein Berufskiller, aber er könnte auch gekommen sein, um als Sänger in der Show aufzutreten. Sanchez war ein Idiot, und es lohnte sich nicht, weiter über ihn nachzudenken, aber Locke – er könnte durchaus erschienen sein, um den Job zu erledigen, den der Kid aufgekündigt hatte. Den Job, zu dem gehörte, Emily zu töten. Er wollte dafür sorgen, dass Julius den Wettbewerb gewann und den Vertrag unterschreiben konnte. Doch Gabriel Locke war im Auftrag des Herrn unterwegs, was bedeutete, dass er wahrscheinlich versuchen würde, Emily zu verschonen. Aber würde er das wirklich?
Der Kid öffnete die Wagentür und stieg aus. Er holte eine Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche und angelte eine mit den zähnen heraus. Dann ließ er sich auf der Motorhaube seines Wagens nieder und zündete die Zigarette an. Ein Rauchfaden kräuselte sich in die kühle Nachtluft. Er musste über einiges nachdenken. Was ging eigentlich genau in diesem Hotel vor? Und in der Wüste ringsum?
Während er nachdachte und den Mond betrachtete, hörte er, wie sich ein weiteres Fahrzeug näherte. Seine Reifen quietschten, als raste es mit Höchstgeschwindigkeit durch die Steilkurve einer Rennstrecke. Kurz darauf erschien es an derselben Ecke, an der der Harley-Chopper aufgetaucht war. Es war ein großes blaues Wohnmobil, fast lang genug, um als Bus klassifiziert zu werden, und es war so schnell unterwegs, dass es beinahe umkippte, als es um die Hotelecke kurvte. Der Kid konnte das Gesicht des Fahrers nicht erkennen, aber der Van raste auf ihn zu und stoppte schwankend dicht vor dem Notausgang. Sofort flogen die Türen auf und zwei dunkle Gestalten sprangen auf beiden Seiten heraus. Sie rannten zum Notausgang und versuchten die Tür zu öffnen, so wie Sanchez es ein paar Minuten vorher getan hatte. Auch sie hatten keinen Erfolg.
Dann machten sie kehrt und gewahrten ihn auf der Motorhaube seines Firebird. In diesem Moment erkannte er, dass ihre Augen glühten. Eine der Gestalten hatte rote Augen, die andere gelbe, und sie leuchteten unheildrohend durch die dunkle Nacht.
Untotes Mistvolk.
Der Bourbon Kid legte seine Zigarette vorsichtig auf die Motorhaube, rutschte vom Firebird herunter und ging auf die beiden Kreaturen zu. Er hörte sie fauchen, und dann kamen sie zögernd näher und trennten sich, sodass sie ihn in die Mitte nahmen. Beide hungerten nach seinem Fleisch.
Der Kid analysierte seine augenblickliche Lage. Er hatte nur noch zwei Kugeln übrig, und die waren viel zu wertvoll, um sie mit dem Ausschalten eines Zombiepaars zu vergeuden. Daher griff er, während die beiden auf ihn zukamen, mit der rechten Hand in die linke Tasche seiner Jacke nach einer anderen Waffe.
Der Zombie, der ihm am nächsten war, trug offenbar einen zerfetzten Rollkragenpullover, der früher einmal weiß gewesen, jetzt aber grau vor Schmutz war. Außerdem trug er eine Hose, der ein Bein nahezu vollständig fehlte, und, was überhaupt nicht dazu passen wollte, eine zerbrochene Brille mit dickem schwarzem Rand. Er schien der hungrigere der beiden zu sein, und der Kid bereitete sich darauf vor, dass er auch zuerst angreifen würde. Das tat er dann auch, und während er auf ihn zustürmte, holte der Kid mit dem rechten Arm aus und zielte nach seinem Hals. In seiner Hand befand sich jetzt ein Messer mit Hirschhorngriff und einer zwanzig Zentimeter langen Klinge. Es schlitzte den Hals des Zombies auf, und während sein Kopf nach vorne sackte, drang Blut aus der Wunde und rann über seine Brust. Der sterbende Zombie sank auf die Knie, während ein rasselndes, raues Geräusch aus der Halswunde drang.
Sein Partner, eine Frau, trug ein entsetzlich dreckiges pinkfarbenes Kleid. Die Erscheinung hatte lange, strubbelige Haare und ein Gesicht, das nur noch zur Hälfte mit Haut bedeckt war. Der Anblick ihres auf die Knie fallenden Kameraden verwirrte sie für einen kurzen Moment, und der Kid machte sich diesen Vorteil zunutze, stieß mit dem Messer zu und rammte es in Brusthöhe tief in das pinkfarbene Kleid. Die Klinge glitt leicht durch das faulende Fleisch, und der Kid drückte sie nach unten, um den Brustkorb zu öffnen. Das Fleisch war an einigen Stellen so weich wie Butter, aber an anderen so hart wie Knorpel. Nachdem er einen etwa zwanzig Zentimeter langen Schnitt ausgeführt hatte, kippte die Untote wie ihr Partner nach vorne und stürzte zu Boden, ehe der Kid das Messer wieder aus ihrer Brust herausziehen konnte. Es rutschte ihm aus der Hand, weil die Klinge sich irgendwo im Brustkorb verfangen hatte.
Beide Kreaturen waren nun endgültig tot, aber ärgerlicherweise für den Kid war die zweite auf seinem Messer gelandet. Er drehte die Kreatur mit dem Fuß auf den Rücken, bückte sich, ergriff den herausragenden Griff des Messers und zog es mit einem Ruck aus der Leiche. Blut spritzte in alle Richtungen, und einige Tropfen landeten sogar auf seiner Hand. Viel mehr Sorge machte ihm jedoch der Zustand seines Messers. Aufgrund der Tatsache, dass der Griff auf dem Boden aufgeschlagen war, bildete er mit der Klinge einen Winkel von fast neunzig Grad. Der Kid betrachtete es eingehend. Abgesehen davon, dass es völlig verbogen war, war es auch noch mit Zombieinnereien beschmiert. Das Messer war ruiniert und er warf es wütend auf den Boden.
Schon wieder eine Waffe im Eimer.
Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er nur noch zwei Kugeln übrig hatte, jetzt hatte er auch kein Messer mehr. Wenn es jemals ein Zeichen gab, dass er lieber nach Hause zurückkehren sollte, dann war dies ein solches. Aber während er Anstalten machte, zu seinem Wagen zurückzukehren, auf dessen Motorhaube seine Zigarette allmählich verglühte, entdeckte er etwas am Rollkragenpullover des ersten Zombies. Es sah aus wie ein Aufnäher. Er bückte sich und nahm ihn eingehender in Augenschein. In schwarzen Lettern in den Aufnäher eingestickt konnte er einen Namen erkennen.
Buddy Holly.
Er wandte sich zu der Leiche im pinkfarbenen Kleid um. Sie war wieder auf die Vorderseite gerollt, daher drehte er sie mit dem Fuß abermals um. Auch sie besaß ein Namensschild, dieses jedoch in Brusthöhe auf der rechten Seite des Kleides. Er zog den Stoff ein Stück hoch, um die Schrift lesen zu können. Auch diesen Namen kannte er.
Dusty Springfield.