ZWEIUNDFÜNFZIG ♦
Endlich fand auch Nigel Powell Gefallen an dem, was sich auf der Bühne tat. Emilys Interpretation von »Over The Rainbow« war sogar noch besser als die, mit der sie in der Vorrunde aufgetreten war. Mit dem Orchester als Begleitung war sie hervorragend und wurde mit jedem Wort, das sie sang, besser.
Im Zuschauerraum war kein leerer Sitzplatz mehr zu finden. Niemand suchte die Toilette auf. Niemand verdrückte sich zu einem späten Drink in die Bar. Niemand schlich sich hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Das gesamte Publikum blieb während des gesamten Songs völlig still, da es nicht eine Sekunde davon versäumen – oder, schlimmer noch, verderben – wollte. Im Gegensatz zu den stürmischen Auftritten der anderen Konkurrenten, die die zuhörer von ihren Sitzen gerissen und sie auf den Gängen zum Mitsingen und Tanzen animiert hatten, war dies etwas, das man in Ruhe genießen musste. Gebannt saßen die Zuschauer auf ihren Plätzen und erfreuten sich an der Schönheit von Emilys Stimme. Ihre Eleganz und Anmut erstrahlte in einem Wettbewerb, der, in Powells Augen, durch eine Reihe von geschmacklosen Ausrutschern beeinträchtigt worden war. Neben anderem von Janis Joplins Flüchen, Elvis’ Hüftschwüngen, Jackos Gesang-und-Tanz-Gehampel und Julius’ Versuchen, alle anderen Finalisten umbringen zu lassen. Endlich hatte die Bühne jemandem gehört, der sich keinerlei Requisiten oder Schaumschlägereien bedienen musste, sondern der nichts anderes als Talent aufzubieten hatte.
Als die letzten Töne von Emilys Titel verklungen waren, erhob sich das Publikum geschlossen und applaudierte begeistert. Blitzlichter flammten auf, die Menschen jubelten und pfiffen, und das gesamte Orchester sprang auf und rief: »Bravo! Bravo!« Sogar die drei Angehörigen der Jury standen auf und klatschten heftig. Rechts und links sah Nigel Tränen auf den Wangen seiner Kolleginnen glitzern. Wenn diese junge Frau nicht gewann, dann ging irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu.
Als Emily sich, auf altmodische Art und Weise, höflich beim Publikum bedankte, atmete Nigel erleichtert auf. Dies, so hoffte er, wäre der letzte Auftritt des Abends gewesen. Julius wäre sicherlich längst vom Sicherheitsdienst aus dem Hotel eskortiert worden, um sich schon in Kürze auf dem Devil’s Graveyard sein eigenes Grab zu schaufeln. Endlich lachte ihm das Glück.
Als der Applaus sich schließlich legte, stand Emily schüchtern vor den Juroren, die sich wieder hingesetzt hatten und darauf warteten, ihre Bewertung abgeben zu können. Candy war die Erste, die das Wort ergriff. Während sie sich die Tränen abtrocknete und gelegentlich schniefte, waren ihre Worte kaum zu verstehen, weil sie immer wieder nach Luft ringen musste.
»Brillant! Einfach nur brillant! Die beste Darbietung des Abends«, sprudelte sie unter Tränen der Rührung hervor.
Lucindas Urteil fiel ähnlich schmeichelhaft aus. »Ein Star ist geboren! Du warst fantastisch, Baby. Du hättest deine Sache nicht besser machen können. Niemand hätte das gekonnt, wenn du mich fragst. Herzlichen Glückwunsch, Schätzchen – und noch mehr als das.«
Und schließlich senkte sich eine Grabesstille auf den Saal herab, als Powell sich anschickte, das Wort zu ergreifen. Dieses eine Mal stand er auf und blickte die nervöse Sängerin direkt an und sagte mit betont weicher Stimme: »Emily, meine Liebe, das war einfach nur unglaublich. Ich wüsste auf der ganzen Welt niemanden, der diesen Song besser hätte Interpretieren können als Sie.« Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu: »Und das gilt auch für Miss Judy Garland persönlich, als sie noch lebte.«
Sofort kamen aus dem Publikum laute Rufe, die Powells Urteil unterstrichen. Anfangs waren es nur ein oder zwei betrunkene Fans, die ihrer Begeisterung Luft machten, doch schon bald brüllte das gesamte Publikum wie die Zuschauermassen bei einem Footballspiel. Powell fuhr fort, Emily Komplimente zu machen, aber der Lärm übertönte jedes seiner Worte, bis er kapitulierte und sie nur noch mit einem strahlenden Lächeln von der Bühne winken konnte und ihr eine Kusshand schickte.
Mit selbstsicheren federnden Schritten verließ Emily die Bühne. Nina Forina kehrte auf ihren Platz im Scheinwerferlicht zurück und wandte sich an das Publikum.
»Okay, Leute! Beruhigt euch bitte!«, rief sie. Sie musste eine weitere halbe Minute warten, bis die zuhörer ihrer Bitte so weit Folge geleistet hatten, dass sie fortfahren konnte. »Es wird Zeit für unseren letzten Kandidaten, den wirklich allerletzten Finalisten der Back-From-The-Dead-Show. Ladys und Gentlemen, eine Runde Applaus für den Godfather of Soul – Ja-a-a-a-a-mes Brown!«
Powell verfolgte interessiert, wie die James-Brown-Fans im Publikum zu klatschen und zu johlen begannen. Würde Julius erscheinen? Er glaubte, nein, er hoffte inständig, dass es nicht geschah.
Nina schaute sich um und erwartete, dass der letzte Finalteilnehmer von der Seite auf die Bühne kam. Sie blickte nach rechts und nach links und auf ihrem Gesicht erschien allmählich ein Ausdruck leichter Besorgnis. Powell wartete darauf, dass sie begriff, dass Julius nicht erscheinen würde. Als es ihr Sekunden später endlich klar wurde, sah sie zu ihm und wartete auf ein Zeichen, was sie in diesem Moment tun solle. Mit einem ausgesprochen selbstzufriedenen Lächeln beugte er sich vor, um in sein Mikrofon zu sprechen. Es wurde Zeit, das Publikum aufzufordern, unter Verwendung des Tastenblocks an den Sitzen mit der Abstimmung für den Lieblingskünstler zu beginnen. James Brown würde nicht auftreten.
Und dann, als er gerade zu seiner Ansage ansetzen wollte, stürmte Julius auf die Bühne. Er bedachte die Juroren mit seinem breiten Grinsen und ging dann hinüber zu Nina.
Nigel Powell schäumte innerlich vor Wut. Wie hatte dieser hinterhältige Bastard es nur geschafft, auf die Bühne zu kommen? Dafür würde er den Sicherheitsdienst zur Rechenschaft ziehen. Aber da er wusste, dass sein Gesicht auf dem großen Bildschirm über der Bühne zu sehen war, musste er sich zu einem Lächeln zwingen, während Nina sich hinter die Bühne zurückzog und Julius ans Mikrofon trat.
»Hey! Habt ihr Lust auf Party?«, brüllte er ins Mikrofon.
Das Publikum antwortete mit einem frenetischen »YEAH!«
Die Show war noch nicht vorüber.