SIEBENUNDVIERZIG ♦
Invincible Angus’ Blicke wanderten durch die Küche. In dem Raum herrschte ein totales Durcheinander, als hätte das Personal wegen einer Feuerübung alles überstürzt stehen und liegen lassen. Stählerne Rolltische standen verstreut herum, Küchenutensilien bedeckten die Arbeitsflächen. Lebensmittelreste, Saucen und Mehl waren überall zu sehen. Dazwischen standen hohe stählerne Rollwagen voller etagenartig angeordneter Tabletts. Und in der Luft lag ein Geruch, als sei hier jemand gestorben, doch wahrscheinlich war es nur verdorbenes Fleisch.
Der Zustand der Küche war jedoch unwichtig. Für Angus ging es vordringlich darum herauszubekommen, wo dieser Feigling Sanchez sich versteckte. Er brauchte nur für einige Sekunden still stehen zu bleiben, sich umzusehen und zu lauschen. Mit ein wenig Glück würde sich die Frage nach Sanchez’ Verbleib schon bald von selbst beantworten.
Und sie tat es.
In der nächsten Ecke, etwa zehn Meter von ihm entfernt, konnte Angus eine große Stahltür erkennen, die aussah, als führte sie in einen begehbaren Kühl- oder Gefrierschrank. Er hatte sie während seines ersten Rundblicks nicht beachtet, weil er annahm, dass Sanchez bestimmt nicht so dumm wäre, sich in einer derart offensichtlichen Falle zu verstecken. Aber wenn er daran dachte, wie der fette kleine Bastard sich im Verlauf des Tages selbst ausgeschaltet hatte, als er versuchte, eine Pistole abzufeuern, erschien es absolut logisch. Sanchez war ein Idiot und zweifellos dämlich genug, sich in einen Raum zu flüchten, der nur einen einzigen Zugang hatte.
In diesem Moment entdeckte Angus den entscheidenden Beweis. Auf dem Fußboden vor der Stahltür glänzte eine kleine Blutpfütze. Eine genauere Untersuchung zeigte, dass eine Spur von der Tür, durch die er aus der Bar hereingekommen war, bis zu dieser Stelle führte. Er musste Sanchez mit der Kugel getroffen haben, die er durch die Glastür in die Hotelhalle gefeuert hatte. Die Spur verlief von der Tür zur Bar bis zu der Blutpfütze vor der Stahltür, wo sie abrupt endete.
Eigentlich schade, dass es so einfach ist, dachte er und grinste.
Auf leisen Sohlen folgte Angus der Blutspur und gab sich alle Mühe, kein Geräusch zu verursachen. Er blieb vor der Tür stehen und presste ein Ohr an den kalten Stahl. Kein Laut war drinnen zu hören. Er streckte die Hand nach dem großen Türgriff aus und zog langsam daran. Er stand unter Federspannung und sprang ihm regelrecht in die Hand, während sich die Tür ein wenig öffnete. Er wurde noch vorsichtiger, weil immerhin die Möglichkeit bestand, dass Sanchez sich auf irgendeine Art und Weise bewaffnet hatte. Sehr langsam und in einer möglichst sicheren Position bleibend, fasste er den Türgriff und zog die Tür vollends auf.
Niemand stürmte heraus. Er reckte den Kopf vor und lauschte. Noch immer nichts. Er trat vorsichtig in die Türöffnung, blieb dicht hinter der Schwelle stehen und zielte mit der Pistole ins eisige Innere eines, wie er jetzt erkannte, begehbaren Gefrierschranks.
In der Kühlkammer herrschte ein leichter Nebel, der die Sicht erschwerte, aber er konnte drei deckenhohe Regale erkennen, die durch schmale Gänge voneinander getrennt waren und auf deren zahlreichen Brettern Kartons und Säcke voller Lebensmittel lagerten. Kondenswasser rann an den Wänden herab, und die kalte Luft war feucht und klebrig. Außerdem hingen ein paar Schweinehälften von der Decke herab. Aber von Sanchez war nichts zu sehen. Angus warf einen Blick auf den Fußboden und sah, dass die Blutspur sich fortsetzte. Sie führte zu dem Regalgang auf der linken Seite. Das war zu erwarten gewesen, denn dort befand sich der Teil der Kühlkammer, der von der Tür am weitesten entfernt war.
Er ging langsam zum linken Regal und blickte vorsichtig in den Gang. Eine lange Reihe kopfloser Schweinekadaver hing an der Decke. Die Blutspur führte an ihnen vorbei. Irgendetwas störte Angus an dieser Blutspur. Sie sah nicht so aus, als stammte sie von jemandem, der gerannt oder aufrecht gegangen war. Sie verlief in einer ununterbrochenen Linie auf dem Fußboden, als ob Sanchez dort auf dem Bauch entlanggekrochen wäre. Angus schob sich leise um das erste Schlachtschwein herum, während er den Finger um den Pistolenabzug krümmte. Der Geruch in diesem Bereich der Kühlkammer war besonders abscheulich. Verdorbenes Fleisch, das hier zweifellos zu lange aufbewahrt worden war, obgleich es schon ziemlich verfault sein musste, um in gefrorenem Zustand einen solchen Gestank zu verströmen. Entweder das oder Sanchez versteckte sich dort und hatte sich in die Hose geschissen.
Der Regalgang war nicht länger als gut sechs Meter. Sanchez war nirgendwo zu sehen. Während Angus sich weiterhin wachsam umschaute und jeden Moment mit einem Hinterhalt rechnete, folgte er der Blutspur, bis sie ein kurzes Stück vor dem Ende des Gangs abbrach. Er blieb stehen und sah sich um. Wenn hier die Spur endete, musste Sanchez den Fußboden verlassen haben und in die Höhe geklettert sein. Die Regalbretter zu beiden Seiten des Gangs waren mit Kartons vollgestapelt. Vor der Wand in einiger Entfernung ragte hinter dem letzten Karton auf dem untersten Regalbrett etwas hervor. Es war ein Paar auf Hochglanz polierter Slipper. Während er sich näher heranschlich, stellte er fest, dass die Füße des Eigentümers noch in den Schuhen steckten.
Er schob sich um den letzten Schweinekadaver herum und gelangte mit einem beherzten Sprung vor die Schuhe. Dabei hielt er die Pistole schussbereit im Anschlag. Ihm bot sich ein Anblick, den er nicht erwartet hatte. Verwirrt über das, was er vor sich sah, ließ er die Pistole sinken. Der Eigentümer der Schuhe war ein Mann, aber der war bereits tot. Und zudem halb gefroren. Und es war nicht Sanchez. Aber wer zum Teufel war das? Gefrorenes Blut bedeckte Gesicht und Hals des Mannes. Aufgehalten wurde das Blut unterhalb des Kinns von einem rotschwarz gemusterten Halstuch. Angus griff in den grauen Sakko des Mannes und fand einen Führerschein. Er holte ihn heraus und inspizierte ihn. Das Foto des Inhabers glich dem blutbesudelten Gesicht der Leiche.
»Wer zur Hölle ist Jonah Clementine?«, flüsterte Angus halblaut.
Er hatte die Frage kaum ausgesprochen, als die Tür der Kühlkammer hinter ihm zuschlug.
Scheiße! Sanchez!
Sanchez hatte sich unter einen der stählernen Rolltische in der Küche gekauert. Er hatte einen mit einer weißen Tischdecke gefunden, die auf allen vier Seiten bis zum Fußboden herabhing, und war daruntergekrochen. Zu seinem Glück verhüllte die Decke alles bis auf seine Füße. Und auch die waren nur zu sehen, wenn man sich tief herabbückte, um unter den Tisch zu blicken.
Zu seiner unendlichen Erleichterung war Angus schließlich auf den verräterischen Hinweis hereingefallen und der Blutspur auf dem Fußboden bis in den Kühlraum gefolgt. Einige angsterfüllte Sekunden lang hatte Sanchez abgewartet, was der rachsüchtige Profikiller tun würde. Er war nicht besonders clever und galt ganz gewiss nicht als raffiniert. Hinterlistig, sicherlich. Heimtückisch und verlogen, auch das. Verschlagen, absolut. Aber raffiniert? Verdammt, niemals.
Er hatte die Blutspur gesehen und darauf gesetzt, dass Angus ihr in die Kühlkammer folgen würde. Schließlich hatte sich eins seiner Wagnisse ausgezahlt. Wenn sein Leben auf dem Spiel stand, war Sanchez’ Fähigkeit, sich aus nahezu jeder Gefahr herauszuwinden, geradezu eines wahren Genies wie Einstein persönlich würdig. Natürlich folgten seinen genialen Momenten gewöhnlich Augenblicke grenzenloser Selbstgefälligkeit gepaart mit dem überwältigenden Drang, sich damit zu brüsten, worauf, wie sich in der Vergangenheit bei vielen Gelegenheiten erwiesen hatte, praktisch immer eine Art wohlverdiente Strafe folgte. Es war eine Lektion, die er auch in vielen Jahren nicht hatte lernen wollen.
Er kroch aus seinem Versteck, schlich auf Zehenspitzen zur Tür der Kühlkammer und schlug sie zu. Während seiner langen und bescheidenen Karriere in den Randbereichen des Gaststättengewerbes hatte Sanchez des Öfteren diese Art begehbarer Kühlschränke kennengelernt und wusste, dass sie aus irgendeinem Grund niemals von innen geöffnet werden konnten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, weshalb das so war. Vielleicht für den Fall, dass irgendwelche speziellen Lebensmittel des Nachts zum Leben erwachten und zu fliehen versuchten? Wer wusste das schon? Egal weshalb, es war etwas, wofür er unendlich dankbar war. Durch die Tür hörte er, wie Angus ein einziges Wort ausstieß.
»Verdammt!«
Sanchez antwortete triumphierend durch die geschlossene Stahltür: »Hoffentlich friert dir der Arsch ein, du Wichser!«
Sofort brüllte die gedämpfte Stimme des eingesperrten Killers zurück: »Du bist tot, verdammter Mistbock!«
»Hey Mann, immer schön cool bleiben!« Unfähig, auf seine Prahlerei oder lahmen Scherze zu verzichten, begann Sanchez einen hüftschwingenden Freudentanz, zu dem er sich normalerweise nur in der Abgeschiedenheit seiner eigenen vier Wände hinreißen ließ. Er fügte seinen Tanzschritten einige höhnische Fratzen in Richtung der Stahltür hinzu und schwelgte ausgiebig in dem Bewusstsein, einen weltberühmten Killer ausgetrickst zu haben. Seine Selbstgefälligkeit kannte keine Grenzen, weil er wusste, dass Angus sich auf der anderen Seite einer verriegelten Stahltür befand und nichts dagegen tun konnte.
BANG!
Sanchez sah einen Funken von der Türklinke wegspritzen und hörte anschließend ein leises Klicken. Offenbar schoss Angus auf der anderen Seite auf das Türschloss.
Verdammt!
Der Freudentanz fand ein abruptes Ende. Sanchez war klug genug, den Schauplatz des Geschehens zu verlassen und um sein Leben zu rennen.