FÜNFUNDFÜNFZIG

Sanchez spürte, wie eine kalte Flüssigkeit in sein Gesicht spritzte. Er schlug die Augen auf und blinzelte mehrmals, ehe er sich das Wasser abwischte, das in sie hineinsickerte. Ihm dämmerte, dass er in einem bequemen Sessel lag und eine kleine Gruppe Menschen auf ihn herabblickte. Er erkannte die Gestalt dicht neben sich. Es war Emily und sie hatte eine kleine Plastikwasserflasche in der Hand. Er konnte außerdem eine vertraute Stimme hören, die seinen Namen rief. »Sanchez? Bist du okay?« Das war Elvis. Sanchez richtete sich auf und blinzelte abermals. Er entdeckte Elvis’ goldenes Jackett, das hinter Emily funkelte. »Wo bin ich?«, fragte er.

»Du bist in der Künstlergarderobe. Du wurdest ohnmächtig, Mann. Bist einfach umgekippt und mit dem Kopf auf den Fußboden geknallt.«

Das schien zu stimmen. In Sanchez’ Hinterkopf pulsierte ein höllischer Schmerz. »Wie ist das passiert?«, fragte er.

Emily reichte ihm die halbvolle Wasserflasche. »Wir haben uns unterhalten«, berichtete sie, »und plötzlich wurden Sie ganz bleich und sind zusammengebrochen.«

»Oh.« Sanchez wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Dann kam ihm ein Gedanke. »Hey! Ist die Show schon vorbei? Wer hat gewonnen?«

Elvis beugte sich über ihn und musterte ihn über den Rand seiner goldgefassten Sonnenbrille. »Verdammt noch mal, du warst nur fünf Minuten oder so weggetreten, Mann. Sie haben den Sieger noch nicht bekannt gegeben.«

»Cool. Was hielten die Juroren von Julius? Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass er seinen Song beendete. Danach ist alles weg.«

»Du hättest mitkriegen sollen, was geschah«, sagte Elvis. »Mann, es war irrsinnig komisch.«

»Weshalb?«

»Nun, zuerst erklärte Lucinda, dass er super sei. Und dass sie ihn liebt.«

»Jaaa! Gut!«

»Aber dann kam unser alter Freund Agent Orange Powell und meinte zu ihm, er sei totale Scheiße.«

»Dieses Arschloch.«

»Stimmt. Aber dann wurde es wieder gut. Candy Perez meinte nämlich, er sei einfach brillant.«

»Sie ist eine gute Jurorin.«

»Das ist sie ganz sicher. Sie wollte sogar das Publikum in Fahrt bringen, indem sie es zu dirigieren versuchte und wie wild mit den Armen ruderte. Aber du errätst niemals, was dann geschah.«

»Was denn?«, fragte Sanchez und massierte behutsam die dicke Beule, die seinen Hinterkopf zierte.

»Du erinnerst dich doch an die enge weiße Jacke, die sie trägt, nicht wahr? Nun, als sie mit den Armen herumwedelte und die Leute im Saal anfeuerte, rutscht der Reißverschluss nach unten und BAM! Ihre Titte fällt raus! Das hättest du sehen müssen, Mann. Es war zum Totlachen. Und es war alles oben auf dem großen Schirm zu sehen, wirklich alles. Die Frau hat einen monstermäßigen Vorbau!«

Sanchez spürte, wie ihn eine neue Woge der Benommenheit überrollte. Ganz schwach hörte er Emilys besorgte Stimme. »Er wird wieder ohnmächtig. Sanchez, sind Sie okay? Sanchez?«

Er wachte mehrere Minuten später auf, als abermals kaltes Wasser sein Gesicht traf.

»Was ist passiert?«, krächzte er matt.

»Du bist wieder weggetreten«, sagte Elvis.

»Schon wieder? Wie oft denn schon?«

»Zweimal, Mann. Wir wollten einen Arzt rufen, aber an der Rezeption macht im Augenblick niemand Dienst. Es scheint, als hätten alle den Laden verlassen, um nach Hause zu verschwinden.«

»O mein Kopf! Warum tut mein verdammter Schädel so weh?«

»Du bist hingefallen und hast dir die Birne angeschlagen, kurz nachdem Julius seine James-Brown-Nummer abgezogen hat.«

»Ach ja, richtig. Was haben die Juroren über ihn gesagt?«

Emily und Elvis sahen einander an. Dann sagte Emily: »Sie fanden ihn gut.«

»Prima. Das ist ja bestens.«

»ARSCHLÖCHER!« Es war nicht schwierig zu erkennen, dass Janis sich immer noch in der Garderobe aufhielt. »Sie verkünden gleich den Sieger«, sagte sie und zerrte an Elvis’ Jackett.

Der King musterte Sanchez prüfend. »Fühlst du dich fit genug, um dir das Ergebnis anzusehen?«

»Scheiße, klar.«

»Na dann hiev mal deinen fetten Hintern hoch!«

Elvis eilte hinter Janis her und überließ Sanchez Emilys Obhut. Sie reichte ihm eine Hand. Er ergriff sie dankbar und sie zog ihn aus dem Sessel und auf die Füße. Die schnelle Bewegung ließ ihm das Blut aus dem Schädel strömen, und ihm wurde kurz schwarz vor Augen.

»Wie geht es Ihrem Kopf?«, erkundigte sie sich.

»Er tut noch ein bisschen weh. Es ist so ein dumpfes Pochen, wissen Sie. Aber damit komme ich schon klar«, erklärte er tapfer. Er sah noch immer Sterne, aber sein Kopf klärte sich allmählich. Emily nahm seine Hand und zog ihn zur Tür, die zur Bühne führte.

»Kommen Sie, sonst kriegen wir das Ergebnis nicht mehr mit«, drängte sie.

Sanchez entzog ihr seine Hand und blieb für einen kurzen Moment stehen. Der Schlag auf seinen Kopf brachte ihn anscheinend auf alle möglichen verrückten Gedanken. Emily sah ihn abwartend an. »Was ist los?«, wollte sie wissen.

Er stand da und rieb die Beule an seinem Kopf. Sollte er ihr sagen, was er dachte, oder nicht? Ach scheiß drauf, klar. Es konnte nicht schaden.

»Ähm, Emily?«, sagte er zögernd. »Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn sie den Gewinner dieser Show bekannt geben. Aber –«, er hielt inne und machte einen tiefen Atemzug, »wenn mein Kumpel Elvis nicht der Sieger ist, dann hoffe ich, dass Sie gewinnen. Sie sind hier die Beste und hätten es wirklich verdient.«

Ein reizendes Lächeln ließ das Gesicht der jungen Frau aufleuchten. »Vielen Dank«, sagte sie. »Sie sind der Erste, der mir das sagt, und Sie klingen, als meinten Sie es ernst.«

Sanchez zuckte die Achseln. »Na ja, wissen Sie«, murmelte er, während ihn die Verlegenheit übermannte.

Emily ergriff wieder seine Hand und zog ihn hinter sich her zur Treppe, die auf die Bühne führte. »Kommen Sie, Sanchez. Wir versäumen die Siegerehrung, wenn wir uns nicht beeilen.«

»Klar, okay.« Dann fiel ihm schlagartig etwas ein. »Haben Sie mir vorhin nicht irgendetwas von Candy Perez erzählt?«

Emily lachte, verzichtete jedoch auf eine Antwort. Sie geleitete ihn die Treppe hinauf, bis sie hinter den großen roten Vorhang gelangten, der die Bühne verhüllte. Während sie sie überquerten, nahm Nina Forina ihren Platz in der Bühnenmitte vor dem Tisch der Jury ein. Auf der Bühnenseite, am Ende des Vorhangs, hatten Elvis und Janis sich zu Julius, Jacko und Freddy Mercury gesellt.

Im Orchestergraben erklang ein Trommelwirbel, der sich zu einem Crescendo steigerte. Sekunden später teilte sich der Vorhang und glitt auf und Nina machte einen Schritt nach vorne ins Schweinwerferlicht. Das Publikum klatschte und johlte begeistert. Sanchez warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor ein Uhr morgens. Die Geisterstunde war fast vorbei. Wo zum Teufel blieben die Zombies? Und wo war Angus überhaupt?

Während ihm diese drängenden Fragen durch den Kopf gingen, blickte er in den Zuschauerraum. Jeder Platz war besetzt, Männer und Frauen jeden Alters warteten aufgeregt auf das, was gleich kommen würde. Allesamt offensichtlich ahnungslos, dass bei dem, was gleich geschähe, eine Menge Blut fließen würde.

Als er zur Galerie hinaufblickte, sah Sanchez, wie der DJ in seiner gläsernen Kabine einige Schalter betätigte. Bei ihm in der Kabine war noch eine andere Person. Sanchez blinzelte. Vor seinen Augen tauchten immer noch gelegentlich Blitze und schwarze Punkte auf, Nachwirkungen des Schlags auf seinen Kopf, als er sich selbst kurzfristig aus dem Verkehr gezogen hatte. Aber er hatte etwas gesehen. Gaukelten seine Augen ihm etwas vor? Er konnte nicht entscheiden, ob seine Augen ihm einen Streich spielten, oder war das wirklich jemand mit einer Waffe, der neben dem DJ in der Kabine stand? Er blinzelte mehrmals, um seinen Blick zu klären und zu sehen, ob er sich nur etwas einbildete. Aber das tat er nicht. Neben dem DJ stand tatsächlich ein Mann in schwarzer Kleidung mit einer Kapuze auf dem Kopf. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie eine Pistole.

Sanchez wollte gerade nach Emilys Arm greifen, um sie auf die unheimliche Gestalt in der DJ -Kabine aufmerksam zu machen, als sich der Schütze plötzlich in den Schatten zurückzog. Es war nicht das erste Mal, dass Sanchez diesen Mann gesehen hatte. Wer war er? Und was hatte er in der Kabine des DJ zu suchen?

Mit einer Pistole.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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