FÜNFUNDDREISSIG ♦
Emilys Plan war ziemlich schwachsinnig. In der langen und unbedeutenden Geschichte schwachsinniger Pläne hätte dieser sicherlich einen recht hohen Rang erreicht – vielleicht sogar einen Platz unter den Top Ten beschissener Pläne. Ein Mann mit einer Schusswaffe drohte jeden Moment durch ihre Tür zu stürmen, und es war durchaus davon auszugehen, dass er gekommen war, um sie zu töten. Und was tat sie?
Ihr erster Gedanke war, sich unter dem Bett zu verstecken. Aber sie entdeckte sehr schnell, dass der Sockel auf vier sehr kurzen Beinen ruhte. Emily war schlank, aber nicht schlank genug, um sich unter ein Bett zu zwängen, unter dem nur fünf Zentimeter Platz waren. Das verringerte ihre Möglichkeiten beträchtlich. Sie ging ihre Alternativen durch. Aus dem Fenster klettern? Dazu blieb ihr nicht genug Zeit. Mehr noch, sie wusste noch nicht einmal, ob sich das Fenster öffnen ließ. Dann war da das Badezimmer. Sie konnte sich dort hineinflüchten, aber das war eine Sackgasse, und das einzige Versteck wäre hinter dem Duschvorhang. Da keine dieser Möglichkeiten ihr Problem lösen würde, blieb ihr nur noch der Kleiderschrank in der Ecke des Zimmers.
Die cremefarbenen Schranktüren waren mit Holzlamellen zur Belüftung versehen. Emily eilte durch das Zimmer, schlängelte sich in den Schrank und schloss behutsam die Türen, um so wenig Lärm wie möglich zu verursachen. Der Kleiderschrank war leer, und durch die Lamellen hatte sie einen ungehinderten Blick auf die Zimmertür.
Sie konnte aus dem Korridor nichts mehr hören. War der Killer weggegangen? Oder trieb er irgendwelche Spielchen? Es war eine Qual, abzuwarten, was geschehen würde. Dabei atmete sie so ruhig und flach wie möglich, um sich nicht zu verraten.
Nach etwa zwanzig Sekunden, in denen sie in Erwägung zog, ihr Glück am Fenster oder im Bad zu versuchen, klickte das Türschloss. Sie atmete zischend ein.
Der Schrank war wirklich das dümmste Versteck, das sie sich hatte aussuchen können.
Emily schaute sich gehetzt nach irgendetwas um, mit dem sie sich schützen oder verteidigen könnte. Aber sie war in dem Schrank alleine, abgesehen von einem Bügelbrett, das an der Rückwand lehnte, und einem Dampfbügeleisen auf einem schmalen Regalbrett links neben ihr. Falls sie sich gegen einen Angriff verteidigen müsste, war das Bügeleisen ihre einzige Waffe.
Während sie den Atem anhielt, beobachtete sie, wie die Tür langsam geöffnet wurde. Eine Hand, die eine Pistole mit Schalldämpfer hielt, schob sich um die Türkante. Ihr folgte, nachdem er durch den Türspalt gespäht hatte, ein Mann. Er war gut über eins achtzig groß und hatte einen kahl rasierten Schädel. Er trug eine schwarze Lederhose und eine schwarze ärmellose Lederjacke. Dem Aussehen nach ein Biker mit drei tätowierten Würfeln auf einem Arm.
Seine dunklen Augen überprüften jeden Winkel des Zimmers. Der Mann kam vollends herein und schloss leise die Tür hinter sich. Dann ging er mit gezückter Pistole zum Badezimmer. Emily schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er sie durch die Lamellen in der Schranktür nicht sehen konnte. Instinktiv zog sie sich zurück und presste sich mit dem Rücken gegen die hintere Schrankwand. Was wollte er von ihr? Warum wollte er sie töten? Es war klar, dass er nicht die Absicht hatte, ihr einen vergifteten Donut zu geben. Er wollte sie erschießen, dessen war sie sich sicher. Sie hatte nur keine Ahnung, weshalb.
Er verschwand im Badezimmer und gelangte außer Sicht, wodurch sie in ein schreckliches Dilemma geriet. Sollte sie den Schrank verlassen und um ihr Leben rennen? Oder sollte sie in ihrem Versteck bleiben? Sie musste schnellstens eine Entscheidung treffen. Wenn sie sich entschloss, im Schrank auszuharren, müsste sie das Bügeleisen in die Hand nehmen und bereit sein, es auch als Waffe zu benutzen. Und wenn sie um ihr Leben rennen wollte, dann müsste sie es sofort versuchen.
Ihre Unentschlossenheit kam sie teuer zu stehen. Sie war tief in Gedanken versunken und achtete nicht darauf, was der Mann tat. Die Schranktür flog auf. Emily stieß einen erstickten Schrei aus, als der riesige Eindringling vor ihr erschien und mit der Pistole auf ihre Brust zielte. Er hatte sich von der Seite an den Schrank herangeschlichen und plötzlich die linke Tür aufgerissen.
»Judy Garland«, sagte er mit einem schmalen Lächeln. »Bitte kommen Sie aus dem Schrank heraus.«
Er war ausgesprochen höflich. Vielleicht wollte er sie doch nicht töten. Er trat beiseite und dirigierte Emily mit der Pistole zum Bett hinüber. Sie stolperte aus dem Kleiderschrank und ging zum Bett. Dabei hielt der Biker die ganze Zeit seine Waffe auf sie gerichtet. Sie begriff, dass ihre Chance zur Flucht äußerst gering war, während er sie beobachtete. Aber wie sollte sie ihn ablenken?
»Setzen Sie sich bitte«, befahl er höflich. Der Mann hatte Manieren, das war offensichtlich. Aber er war auch ein Killer. Wenn ihre Einschätzung zutraf, gab es draußen zwei tote Wachmänner als Beweis.
»Was wollen Sie?«, fragte Emily. Ihr Herz raste und ihr Mund war so trocken, dass sie Mühe hatte, die Worte auszusprechen.
»Ich bin hier, um Sie zu töten.«
»Oh.« Genau das hatte sie befürchtet. Der Kerl würde sie tatsächlich töten. Aber auf was wartete er noch? »Jetzt gleich?«, fragte sie zaghaft.
»Das hängt von Ihnen ab.« Er stand direkt zwischen ihr und der Tür zum Korridor, um jeden Fluchtversuch zu vereiteln.
»ich möchte wirklich gerne am Leben bleiben«, sagte Emily und lächelte ihn flehend an. Dabei hoffte sie, ihn davon zu überzeugen, dass sie ein lieber und warmherziger Mensch war, der es verdiente, verschont zu werden.
»Ja, das kann ich mir denken. Und das werden Sie auch, wenn Sie mitspielen.«
»Ich spiele mit.«
»Gut. Hören Sie, Sie dürfen dieses Wettsingen nicht gewinnen!«
»Warum nicht?«
»Weil jemand anders gewinnen muss. Wenn Sie gewinnen, werden viele Leute sterben, Sie inklusive. Und das kann ich nicht zulassen.«
Emily unterdrückte den Impuls herauszuplatzen: »Aber ich muss gewinnen. Für meine Mom.« Stattdessen entschied sie sich für eine weitaus maßvollere Reaktion. »Okay. Was muss ich tun?«
»Reisen Sie ab. Ich muss nichts anderes tun, als dafür zu sorgen, dass mein Boss denkt, Sie seien tot. Wenn Sie nun von hier verschwinden und nicht mehr zurückkehren, dann kann ich ihn davon überzeugen.«
»Das ist alles?«
»Nein. Nicht ganz. Ich brauche ein Foto von Ihnen, auf dem Sie aussehen wie eine Tote. Wir müssen daher einen Tatort herrichten. Ich habe ein paar von diesen kleinen Ketchup-Tüten in der Tasche. Ich schlage vor, Sie legen sich auf den Fußboden und ich spritze Ketchup auf Ihren Hals und lasse es aussehen, als hätte ich Sie erschossen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Nein.«
»Okay. Haben Sie das auch mit den anderen Finalisten gemacht?«
»Nein, die sind wirklich tot.«
Emily war fassungslos. »O mein Gott! Im Ernst?«
»Jawohl. Sie wurden aber nicht von mir getötet. Das hat jemand anders getan, ein Typ, den sie den Bourbon Kid nennen. Ich habe noch keine Erklärung, weshalb er Sie nicht getötet hat. Aber das wird er tun, wenn er sieht, dass Sie noch am Leben sind.«
»Ist er so ein unheimlich aussehender Mann in Schwarz?«
»Das müsste er sein. Haben Sie ihn gesehen?«
»Zweimal, ja. Er war ziemlich gemein zu mir. Und er wusste, dass die Show manipuliert wurde.«
»Ja. Schätzen Sie sich glücklich, dass ich Sie noch vor ihm erwischt habe.«
»Wer sind Sie denn?«
»Ich heiße Gabriel. Ich arbeite für Gott.« Er stand vor ihr und schraubte den Schalldämpfer vom Lauf seiner Pistole ab. Es sah wirklich so aus, als hätte er sich entschieden, ihr kein Haar zu krümmen. Er schien viel netter zu sein, als er aussah, obgleich Emily begriff, dass sie im Augenblick wahrscheinlich nur nach Strohhalmen griff. Oder gegen den Wind pinkelte. Oder wer weiß was tat. Schließlich hatte er die Wachmänner draußen auf dem Gewissen, oder etwa nicht? Und zwar mit einer ziemlich kleinen Waffe, wie sogar Emily erkennen konnte, sobald der Schalldämpfer entfernt worden war.
»Das ist aber ein winziges Ding, nicht wahr?«, stellte sie fest.
Gabriel lächelte. »Ich kann wohl kaum im Hotel herumrennen und Leute mit einer Schrotflinte aus dem Weg räumen, oder? Kleine Pistolen wie diese sind ideal für diskrete Hotelzimmer-Jobs.« Dann, als befürchtete er, dass er zu harmlos klang, fügte er hinzu. »Ich habe jede Menge schwere Hardware in einem Versteck gebunkert für den Fall, dass ich eine ganze verdammte Armee ausschalten muss.«
»Äh – okay. Ich habe nur so dahergeredet. Für eine Pistole sieht das Ding wirklich niedlich aus. Haben Sie diese – äh – beiden Wachmänner wirklich damit getötet?«
Gabriel wirkte für einen kurzen Moment überrascht, als hätte er sie längst vergessen. »Scheiße, ja. Können Sie mir helfen, die Leichen hier reinzuschaffen? Ich kann sie schlecht draußen herumliegen lassen. Jemand könnte sie finden.«
»Klar. Warum nicht.« Emily konnte sich kaum weigern. Sie hatte noch immer nicht die Zeit gehabt, sich über diesen seltsamen Fremden eindeutig klar zu werden. Er war ein Mörder und aus diesem Grund, diesem Grund alleine, würde sie tun, was er befahl. Ob er doch einer von den Guten war, denen man trauen konnte, müsste sich erst noch erweisen.
Gabriel ging zur Zimmertür und öffnete sie. Emily sah, wie er den Blick durch den Korridor schweifen ließ. Die toten Wachmänner lagen ausgestreckt mitten im Flur. Nicht unbedingt diskret, obgleich an beiden Körpern kaum ein Blutfleck zu sehen war. Der Einsatz einer kleinen Schusswaffe hatte sich tatsächlich ausgezahlt. Gabriel bückte sich und packte die ihm am nächsten liegende Leiche unter den Achselhöhlen und begann sie rückwärts gehend ins Hotelzimmer zu schleifen. Sobald er die Schwelle überschritten hatte, zog er die Leiche zu Emily hinüber.
»Sehen Sie zu, dass Sie ihn in den Kleiderschrank schaffen«, empfahl er ihr und deutete mit einem Kopfnicken auf ihr ehemaliges Versteck.
Sie trat hinter den Körper, schob die Arme unter seine Achselhöhlen, verschränkte die Hände vorne auf seiner Brust und begann ihn zum Kleiderschrank zu schleifen. Es war eine enorme Kraftanstrengung für sie, den Körper überhaupt zu bewegen, und sie schaffte es nur, indem sie ihn flach auf den Rücken legte und selbst rückwärts in den Schrank trat.
Emily hatte noch nie zuvor eine Leiche berührt, geschweige, sie über den Fußboden eines Hotelzimmers gezogen. So hatte sie sich ihr Wochenende ganz und gar nicht vorgestellt. Alleine eine Leiche in den Armen zu halten, machte ihr ihre Lage schmerzhaft deutlich. Indem sie aktiv am Geschehen teilnahm, leistete sie, rein technisch betrachtet, Beihilfe zu einem Mord. Mit einem Mörder zusammenzuarbeiten war keinesfalls Emilys Vorstellung von angenehmer Freizeitgestaltung. Egal, was Gabriel gesagt hatte und für wen er angeblich arbeitete, er hatte schließlich zwei unschuldige Männer ermordet. Woher sollte sie wissen, dass er nicht doch die Absicht hatte, sie irgendwann zu töten?
Gabriel verschwand durch die Tür nach draußen in den Korridor, um den anderen Wachmann zu holen. Endlich hatte Emily ein paar Sekunden Zeit, um sich über die Möglichkeiten klar zu werden, die er ihr genannt hatte: Nach Hause zurückkehren und auf die Million Dollar Preisgeld verzichten und sich die Chance entgehen lassen, das zu sein, was sie sich immer gewünscht hatte, oder bleiben und getötet werden.
Sie konnte erkennen, dass es eigentlich kein richtig faires Angebot war. Auch wenn dieser Mann sich höflich verhalten und ihr eine Chance, am Leben zu bleiben, geboten hatte, verlangte er von ihr, dass sie ihren Traum aufgab und jede Chance ungenutzt ließ, die letzten Tage ihrer sterbenden Mutter so schmerzfrei und friedlich wie möglich zu gestalten.
Aus dem Augenwinkel konnte sie das Bügeleisen auf dem Regalbrett im Kleiderschrank sehen. Wenn sie nicht nur im Finale der Show auftreten, sondern auch am Leben bleiben wollte, dann müsste sie es wohl benutzen. Dies war ihre letzte Chance. Wenn sie Gabriel mit dem Bügeleisen niederschlug, könnte sie Nigel Powell und die Polizei dazu bringen, sie vor jedem zu beschützen, der sie zu töten versuchen würde. Sie konnte den Wettbewerb immer noch gewinnen. Und ihrer Mutter die Fürsorge angedeihen lassen, die sie brauchte.
Verdammt noch mal, dachte sie. Es war das Risiko wert.