EINUNDZWANZIG ♦
Julius schloss seine Interpretation von »Get Up I Feel Like Being A Sex Machine« mit dem charakteristischen James-Brown-Schrei. Er versuchte den Spagat am Ende der Tanzeinlage, schaffte es jedoch höchstens ein Drittel des Weges nach unten. Nun stand er regungslos in einer Art halber Hocke und hatte den Arm in Richtung der Jury ausgestreckt.
Trotzdem gefiel es dem Publikum, und die Juroren – die wussten, dass er auf ihrer Liste der fünf stand, die im Finale auftreten sollten – überschütteten ihn mit überschwänglichem Lob. Vor allem Nigel Powell gratulierte ihm dazu, der bislang temperamentvollste Kandidat der gesamten Show zu sein.
Julius’ Anstrengungen hatten seinen engen violetten Anzug enorm strapaziert. Die Hose stand kurz davor, nach dem versuchten Spagat und der sich daran anschließenden Hocke am Hintern zu platzen. Er sog jetzt den Beifall des Publikums gierig auf und war insgeheim froh, der Peinlichkeit entronnen zu sein, sich die Hose zu zerreißen.
Nachdem er die Ovationen dankbar hatte über sich ergehen lassen, stolzierte er zur Bühnenseite und winkte dabei heftig dem Publikum zu. Auf dem Weg hinaus auf den Korridor kam er an den Konkurrenten vorbei, die noch vorsingen mussten. Was für ein Haufen Trottel. Die armen Schweine hatten nicht die leiseste Ahnung, dass sie nicht die geringste Chance auf einen Sieg hatten. Sie wichen vor ihm auseinander wie die Fluten des Roten Meeres, und viele beglückwünschten ihn zu seinem Auftritt. Jetzt, wo alles vorbei war, wollte er nur noch weg von den anderen. Sie würden sowieso schon bald aus dem Wettbewerb ausscheiden, darum hatte es wenig Nutzen, jetzt zu ihnen höflich zu sein. Seine Chancen, die Konkurrenz zu gewinnen, waren nach dieser Darbietung besser als jemals zuvor. Alles, was er jetzt wissen musste, war, ob der Bourbon Kid seinen Anteil geleistet hatte. Ob er die – äh – anderen vier Finalisten aus dem Weg geräumt hatte.
Julius hüpfte regelrecht über den beigen Teppichboden im gelben Korridor, während er zum Fahrstuhl an seinem Ende ging. Als er ihn erreichte, kam er nach dem RauschZustand während seiner Darbietung für die Jury allmählich wieder auf den Boden zurück. Kein Mensch war zu sehen, weil sich höchstwahrscheinlich fast alle Gäste im Konzertsaal drängten, um sich die Show anzusehen. Er drückte auf den Knopf in der Wand, um den Fahrstuhl zu rufen. Die silbern glänzenden Türen öffneten sich sofort und er betrat die Kabine. Während er sich anschickte, auf den Knopf für den achten Stock zu drücken, bemerkte er Blutflecken auf der Armaturentafel. Der Anblick zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Das war vermutlich das Werk des Bourbon Kid. Jemand war in diesem Fahrstuhl zumindest schwer verwundet worden. Mit ein wenig Glück sogar getötet. Er betätigte den Knopf für den achten Stock, wandte sich dann um und blickte in den Korridor, den er soeben verlassen hatte.
Um vom Anblick seines neuen Komplizen begrüßt zu werden.
Der Bourbon Kid marschierte durch den Korridor in Richtung Fahrstuhl und sah so unheilvoll wie eh und je aus. Die dunkle Kapuze seiner Jacke bedeckte seinen Kopf, und darunter konnte Julius erkennen, dass er immer noch seine dunkle Brille trug. Im Innern eines Gebäudes. Die Totengräberkluft kennzeichnete ihn tatsächlich als einen Furcht erregenden Zeitgenossen. Der Mann strahlte Böses aus, ohne sich viel Mühe geben zu müssen. Ein idealer Verbündeter, wenn man vier unschuldige Menschen töten musste, dachte Julius. Er betätigte einen anderen Knopf auf dem Armaturenbrett des Fahrstuhls, damit die Türen offen blieben und sein Mietkiller eintreten konnte. Dabei schmierte er sich ein wenig klebriges Blut auf die Fingerspitze. Schnell wischte er es an seinem Hosenbein ab.
»Auch in den achten Stock?«, fragte Julius, während der Kid hereinkam.
»Ist mir egal.«
Die Türen schlossen sich und der Lift begann seine Aufwärtsfahrt. Sobald er sich in Bewegung gesetzt hatte, atmete Julius erleichtert auf und nahm sich die dicke dunkle Perücke vom Kopf. Sein kahler Schädel schwitzte nach den langen Minuten im Scheinwerferlicht, und es war angenehm, endlich wieder ein wenig kühle Luft zu spüren.
»Dieses verdammte Ding juckt wie die Hölle«, sagte er und schüttelte die Perücke, als wimmelte es in ihr von Insekten.
»Hör auf mit deinem verdammten Gejammer«, erwiderte der Kid.
»Was ist los mit dir?« Julius hielt inne. »Ach, vergiss es. Als machte es mir etwas aus. Ist alles erledigt?«
»Ich bin fertig.«
»Sind demnach alle tot? Jetzt schon?«
»Nein.«
»Nein? Wer ist noch am Leben?«
»Dorothy.«
»Wer zum Teufel ist Dorothy?«
»Judy Garland.«
»Was ist passiert? Konnte sie flüchten?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ich töte keine Dorothys.«
»Blödsinn. Du tötest alles.«
»Keine Dorothys.«
»Warum nicht? Was für einen verdammten Unterschied macht das?«
»Als da wären?«
»Das geht dich nicht den geringsten Scheiß an.«
Julius stand im Fahrstuhl und betrachtete sein Spiegelbild in den Stahltüren. Sein violetter James-Brown-Anzug sah immer noch überzeugend aus. Neben seinem befand sich das Spiegelbild der dunklen und zwielichtigen Erscheinung des Bourbon Kid, der ebenfalls auf die silbernen Fahrstuhltüren starrte. Da seine Augen hinter seiner Sonnenbrille verborgen waren, verriet sein Gesicht nicht die geringste Gefühlsregung.
Julius konnte seine Enttäuschung und seine Verwirrung über diese Wende der Ereignisse nicht verbergen. »Nur um mir Klarheit zu verschaffen«, sagte er, wobei seine Stimme vor Wut zitterte. »Du tötest jeden und alles, egal welchen Alters, welcher Rasse oder welchen Geschlechts, aber wenn es Dorothy aus dem Zauberer von Oz sein soll, dann meldet sich plötzlich dein Gewissen?«
»So in etwa könnte man es ausdrücken, ja. Hast du damit ein Problem?«
»Natürlich habe ich ein Scheißproblem damit!« Als Julius bemerkte, dass er die Stimme erhob, senkte er sie ein wenig, ehe er fortfuhr. »Sie ist die größte Gefahr für meinen Sieg in diesem Wettbewerb. Wenn sie es bis ins Finale schafft, dann war’s das. Ende des Spiels. Ich muss bei dieser Show gewinnen und sie ist die Einzige, die besser singen kann als ich.«
»Ich habe einen anderen Plan.« Die Stimme des Kid klang mit jeder Silbe tiefer.
»Nun, das wird sicher was Tolles sein, vermute ich. Und wie sieht der aus?«
»Lern besser zu singen.«
Der Fahrstuhl stoppte und die Türen glitten auf. Während er ausstieg, attackierte Julius wütend den anderen Mann. »Du bist ein verdammter Komiker, weißt du das?«
Der Kid drückte auf den Parterreknopf und kehrte in die Mitte der Fahrstuhlkabine zurück.
»Wo zum Teufel willst du hin?«, fragte Julius.
»Meine Arbeit ist getan.«
Während die Fahrstuhltüren sich zu schließen begannen, machte Julius einen Schritt vorwärts und streckte die linke Hand aus, um die Türen offen zu halten.
»Du weißt, dass du nicht bezahlt wirst, wenn du nur drei von ihnen tötest, nicht wahr? Der Auftrag betraf alle vier«, erklärte er.
»Mir egal.«
»Nun, das ist richtig gut – denn jetzt muss ich die fünfzig Riesen jemand anderem zahlen, und er braucht nichts anderes zu tun, als Judy Garland zu töten.«
Der Kid schüttelte langsam den Kopf. »Niemand rührt sie an. Nicht heute.« Seine Stimme klang wie knirschendes Geröll.
»Tut mir leid, Mann, aber sie ist Geschichte. Selbst wenn ich die verdammte Böse Hexe des Westens anheuern muss, um sie aus dem Weg zu räumen. Sie wird diesen verdammten Wettbewerb niemals gewinnen.«
»Möglich, dass sie ihn nicht gewinnt, aber sie kommt ins Finale.« Der Kid deutete mit einem Kopfnicken an, Julius solle die Fahrstuhltüren freigeben.
Der Sänger blickte ein letztes Mal in die dunklen Brillengläser und schüttelte in hilfloser Wut den Kopf. »Ich hätte mir denken können, dass man sich auf dich nicht verlassen kann. Du gottverdammter Idiot!«
Der Kid griff in seine Lederjacke. Julius ließ sich schnell die möglichen Konsequenzen dieser Geste durch den Kopf gehen. Zigaretten vielleicht. Oder eine Waffe. Höchstwahrscheinlich eine Waffe. Bei diesem Gedanken war er klug genug, die Tür loszulassen, sodass sie sich schließen konnte.
Sämtliche freudige Erregung, die Julius verspürt hatte, war verflogen, verdunstet wie Tau in der Wüste. Obgleich sein perückenloser Schädel sich abgekühlt hatte, begann er zu schwitzen. Scheiße! Verdammt gottallmächtige Scheiße! Er erkannte, dass die Dinge nun eine katastrophale Wendung zum Schlimmsten genommen hatten. Die Judy-Garland-Imitatorin war immer noch am Leben – zumindest einstweilen. Aber sie musste aus dem Rennen sein, ehe das Finale begann.
Aus dem Rennen hieß tot.