FÜNFZEHN

Johnny Cash – oder besser gesagt sein Imitator – musste noch gut über eine Stunde bis zu seinem Auftritt warten. Er hatte hinter der Bühne mit den anderen Sängern und Sängerinnen herumgehangen und jeden mit seiner coolen, unerschütterlichen Selbstsicherheit beeindruckt. Niemand ahnte, dass er sich unter seinem lässigen äußeren fast in die Hose machte. Eine Million Dollar standen auf dem Spiel. Für den Zweiten gab es nichts, keinen Cent. Es war völlig egal, wie gut er im Laufe seiner Karriere mit allem möglichen Stress zurechtgekommen war, dies war ein völlig anderes Spiel.

Im Aufenthaltsraum hinter der Bühne, der gerammelt voll war mit Kandidaten, die kostümiert waren wie ihre verstorbenen Lieblingssänger, ging es zu wie in einem Bienenstock. Gemütliche Sofas, Sessel und Sitzsäcke standen herum, und vor jeder der vier Wände hatte man Tische mit Getränken und diversen Snacks aufgebaut. Nichts von alledem schaffte es auch nur andeutungsweise, einen der Anwesenden zu beruhigen. In diesem einen Raum war mehr nervöse Energie und Anspannung versammelt als im gesamten übrigen Hotel.

Die Person, die Johnny am meisten beneidete, war Luther, der Otis-Redding-Imitator. So ein verdammter Glückspilz. Er hatte seinen Auftritt bereits hinter sich, und jetzt entspannte er sich wahrscheinlich irgendwo in dem Bewusstsein, dass er so gut wie sicher ins Finale vorgedrungen war. Johnny wünschte sich, er könnte das Gleiche tun, aber er brauchte jetzt eine Aufmunterung, eine Art Energiespritze für sein Selbstbewusstsein, um die quälende Wartezeit bis zu seinem Auftritt zu überstehen. Er wollte sich außerdem vergewissern, dass die anderen Bewerber hinter der Bühne genauso nervös waren wie er selbst und nicht nur so taten als ob.

Er ließ den Blick über die anderen Interpreten schweifen und suchte sich ein geeignetes Ziel aus. Und tatsächlich, Kurt Cobain schien nach der langen Wartezeit ebenfalls angespannt und ein wenig von der Rolle. Er stand abseits von den anderen in der Nähe des Ausgangs zum Korridor und trank mit einem Strohhalm aus einer lauwarmen Dose Sprite. Ach, was soll’s, dachte Johnny und ging zu ihm hinüber.

»Yo, Cobain! Wie geht’s denn so, Mann?«, fragte er mit einem selbstsicheren Lächeln, das seine Nervosität kaschierte.

Der verlottert aussehende Sänger erwiderte das Lächeln und verschluckte sich, sodass er husten musste und ein paar Tropfen Sprite aus seiner Nase rannen. Er machte nicht den Eindruck, als sei er daran gewöhnt, dass die Leute ihm freundlich begegneten, und er war auf jeden Fall wachsam, was Johnnys Absichten betraf. Kurt sah aus wie ein Außenseiter und tat offenbar nichts, um sich an seine Umgebung anzupassen.

»Wenn ich ehrlich bin, mache ich mir fast in die Hose«, antwortete er mit entwaffnender Offenheit.

»Wirklich? Da habe ich vielleicht etwas, das dagegen hilft.«

»Echt?«

»Ja.«

Kurt musterte ihn argwöhnisch. »Du willst mir doch nicht etwa von Jesus und der Kraft des Gebetes erzählen, oder?«, fragte er.

»Nee«, meinte Johnny grinsend. Indem er den Körpergeruch seines Gegenübers zu ignorieren versuchte, beugte er sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Was hältst du von einer Line Koks?«

»Hast du welches?«

Lieber Himmel, dieser Typ ist wirklich etwas ganz Spezielles, dachte Johnny. »Nein, ich hab’s nur aus Jux angeboten«, sagte er voller Sarkasmus, ehe er hinzufügte: »Natürlich habe ich was. Bist du dabei?«

»Yo! Wohin gehen wir?«

Johnny deutete mit einem Kopfnicken zum Ausgang und Kurt folgte ihm in den Korridor. Sie gingen zur Herrentoilette auf der rechten Seite. Nach einem kurzen Blick in die Runde schob Johnny sich durch die Tür, dicht gefolgt von Kurt.

Die Toilette war leer und sie gingen zur zweiten Kabine. Der Raum war peinlich sauber und der weiße Fliesenboden sah aus, als sei er erst vor Kurzem gewischt worden. Nachdem er sich ein letztes Mal vergewissert hatte, dass ihnen niemand gefolgt war, schaute Johnny sich noch einmal um und drückte dann die Tür hinter ihnen zu und verriegelte sie. Die Toilette in der Kabine, die sie ausgesucht hatten, war genauso sauber wie der Fußboden draußen. Nicht ein Tropfen Pisse auf der blendend weißen Brille.

Kurt klappte den Klodeckel nach unten und trat zur Seite, um seinem neuen Kumpel Platz zu machen. Johnny holte eine kleine Tüte Kokain aus der Hosentasche. Er hatte gehofft, nicht zu dem Zeug Zuflucht nehmen zu müssen, weil er eigentlich mit völlig klarem Kopf auf die Bühne gehen wollte, aber als er an diesem Morgen die Tüte mit dem weißen Pulver in die Tasche gesteckt hatte, war ihm klar gewesen, dass er am Ende doch etwas davon nehmen würde.

Er öffnete die Tüte und sah, wie Kurts Augen aufleuchteten, als er einiges von dem Pulver auf den Klodeckel streute. Als Nächstes holte er eine Rasierklinge aus der Brusttasche seines schwarzen Oberhemdes. Mit der Rasierklinge teilte er das Pulver in vier gleichlange Linien von etwa anderthalb Zentimetern auf. Er brauchte dafür weniger als dreißig Sekunden, und er konnte feststellen, dass sein neuer Kumpel zutiefst beeindruckt war.

»Willst du zuerst?«, fragte er.

Die Antwort war ein entschiedenes Ja. Kurt hielt bereits einen kurzen, rot-weiß gestreiften Plastikstrohhalm in der Hand und war bereit. Noch vor wenigen Minuten hatte er Sprite durch den Strohhalm gesogen. Er hatte sicher nicht zu hoffen gewagt, dass er ein stärkeres Stimulans finden würde.

»Treten Sie zur Seite, guter Mann«, sagte er übertrieben förmlich. Dann kauerte er sich auf den Fliesenboden, steckte sich ein Ende des Strohhalms in ein Nasenloch, drückte das andere mit einem Finger zu und saugte die erste Linie auf. Er inhalierte sie in einem einzigen langen Zug, ließ sich dann in der Hocke nach hinten kippen und blinzelte mehrmals. Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und schniefte heftig, um auch die letzten Reste aufzusaugen, die vielleicht noch am Rand seines Nasenlochs klebten.

»Das ist hervorragender Shit, Mister Cash. Oh ja. Sehr guter Shit«, sagte er. Dann hielt er Johnny den Strohhalm hin. Johnny nahm ihn, ging in die Hocke, beugte sich über den Klodeckel und sog die zweite Linie auf.

Draußen öffnete jemand die Tür der Herrentoilette. Johnny hörte Schritte. Stiefel klackten auf den Fliesen. Er hatte gerade die erste Linie inhaliert und blinzelte heftig, während er versuchte, den Drang zu kontrollieren, laut zu rufen, wie gut dieser Shit war.

Die Person außerhalb der Kabine ging langsam über den Fliesenboden. Johnny lugte unter der verriegelten Tür nach draußen und sah ein Paar abgewetzter schwarzer Stiefel, die an der ersten Kabine vorbeigingen. Vor der Tür, hinter der er und Kurt Cobain kauerten wie Schüler mit einem Tittenmagazin, blieben die Stiefel stehen. Johnny Cash sah zu Kurt, der genauso besorgt dreinschaute wie er. Vom Sicherheitsdienst auf dem Hotelgelände beim Konsum illegaler Substanzen erwischt zu werden, hätte die Disqualifikation vom Gesangswettbewerb zur Folge, daher waren sie sich auch ohne Absprache einig, dass sie sich absolut still verhalten mussten. Kurt wusste, was auf dem Spiel stand.

Johnny beobachtete mit zunehmendem Horror, wie die Stiefelspitzen, die unter dem Türspalt zu sehen waren, sich in ihre Richtung drehten. Eine schreckliche Pause folgte. Dann ertönte ein leiser dumpfer Laut, als die Person draußen gegen die Tür drückte und feststellte, dass sie verriegelt war. Johnny blickte zu Kurt, der eine Hand auf seine Nase presste und sich zweifellos die größte Mühe gab, nicht zu schniefen.

Die Stiefel traten zurück, erst der linke, dann der rechte. Johnny musste sich tiefer hinabbücken, um sie weiterhin sehen zu können, während sie sich aus seinem Sichtfeld zurückzogen. Eine Sekunde, nachdem er den Kopf gesenkt hatte, flog die Tür auf, wobei das Schloss mit einem lauten Krachen den Geist aufgab. Die Tür erwischte Johnny an der Stirn und schleuderte ihn nach hinten. Er landete neben der Kloschüssel auf dem Hintern. Erschrocken blickten er und Kurt hoch und gewahrten einen ganz in Schwarz gekleideten Mann, der auf sie herabsah. Er trug eine Sonnenbrille und hatte eine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen.

Kurt ergriff als Erster das Wort. »Hey, Mann, was fällt dir ein?«, fragte er mit einem beleidigten Winseln. »Wäre doch möglich, dass wir hier drin bloß in Ruhe scheißen wollen!«

Der Eindringling antwortete mit rauer Stimme. »Tatsächlich? Ihr beiden?«

»Nun ja, nein

»Hör mal, Kumpel«, sagte Johnny und rieb seine Stirn, wo die Tür ihn getroffen hatte. »Es gibt hier noch genügend freie Kabinen, okay?«

»Bist du Johnny Cash?«

»Ja.«

»Und du Kurt Cobain?«

»Ja, das ist er.«

Johnny deutete auf Kurt.

»Gut.«

Der Knabe schien es nicht eilig zu haben, in eine andere Kabine zu gehen, und die Situation wurde ein wenig peinlich. Johnny entschloss sich zu einem Friedensangebot.

»Willst du auch etwas von dem Koks? Wir haben noch zwei Lines übrig.«

»Nein.«

Eine unbehagliche Pause setzte ein, während sie darauf warteten, was der Mann als Nächstes tun würde. Er betrachtete sie unverwandt durch seine Sonnenbrille. Kurt kniete immer noch neben der Kloschüssel auf den Fliesen und Johnny saß noch immer auf seinem Hintern auf der anderen Seite.

Das Kokain war mittlerweile in Johnnys Kreislauf gelangt und rauschte wie flüssiges Selbstvertrauen durch seine Adern. Er war verdammt noch mal unbesiegbar. Es wurde Zeit, dieses Arschloch loszuwerden.

»Wenn du nichts haben willst, dann mach die verdammte Tür zu und hau ab.«

Der Mann ignorierte ihn und deutete auf Kurt Cobain. »Komm her«, knurrte er. Die Stimme klang beängstigend kalt und völlig gefühllos.

Kurt kämpfte sich auf die Füße und runzelte die Stirn. »Was will –«

CRACK!

Ohne Vorwarnung boxte der Mann Kurt auf die Nasenspitze. Der Hieb war ein solider gerader Jab mit der rechten Faust, und er traf mit entsetzlicher Wucht. Die Nase des Sängers explodierte in einer Blutfontäne, und er kippte nach hinten und schlug mit dem Kopf auf dem Klodeckel auf.

Johnny verfolgte voller Grauen, wie sein Kumpel zu Boden ging. Dann schaute er wieder zu dem Eindringling hoch. Der Mann bückte sich, grub eine Hand in seine fettigen Haare und zog ihn bis in Augenhöhe hoch.

»Was willst du?«, stammelte Johnny und wiederholte die Worte seines Gefährten. Er befand sich dicht genug vor seinem unerwünschten Gast, um sein eigenes Spiegelbild in den Gläsern der Sonnenbrille zu erkennen. Seine Selbstsicherheit hatte sich schlagartig verflüchtigt. Er hatte nur noch Angst.

Mit der Hand immer noch in Johnnys Haar, drehte der Mann seinen Kopf herum und deutete nach unten auf die Toilette.

»Schnupf den Rest von deinem Shit weg.«

»Hä?«

»Schnupf’s weg.«

Während er das sagte, lockerte er den Griff in Johnnys Haar und drückte seinen Kopf nach unten in Richtung Klodeckel. Johnny gehorchte und ging auf die Knie, um die beiden verbliebenen Linien Kokain zu inhalieren. Er hob den rot-weiß gestreiften Strohhalm auf, der neben der Toilette auf den Boden gefallen war, und hielt ein Ende dicht über eine der Linien aus weißem Pulver. Seine Hände zitterten. Er hatte das entsetzliche Gefühl, dass der Mann hinter ihm seinen Kopf auf den Klodeckel schmettern würde, sobald er anfing, das Kokain aufzusaugen.

Aber Scheiße, welche andere Möglichkeit hatte er denn?

Er beugte sich langsam vor und schob ein Strohhalmende in sein linkes Nasenloch. In diesem Moment – genau so wie er es erwartet hatte – schlug ihn der Mann mit voller Wucht auf den Hinterkopf. Der Hieb trieb ihm den Strohhalm tief in die Nase und in seinen Schädel. Er spürte den kalten Schmerz nur für eine Millisekunde. Dann krachte seine Nase auf den Klodeckel und Knochensplitter bohrten sich in sein Gehirn und töteten ihn auf der Stelle.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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