ZEHN

Sanchez war ein Mann mit vielen Fehlern. Einer der schlimmsten war eine Schwäche fürs Glücksspiel. Es war ein Zeitvertreib, der ihn im Laufe der Jahre einen beträchtlichen Teil seines Vermögens gekostet hatte, aber die Verlockung einer Wette und der Gelegenheit, Geld zu verdienen, ohne ins Schwitzen zu geraten, war für ihn zu stark und zu verführerisch, um ihr zu widerstehen.

Von der Sekunde an, in der sein Blick auf das Geld in dem Umschlag gefallen war, den er in seinem Hotelzimmer gefunden hatte, gingen ihm alle möglichen Pläne durch den Kopf, wie er es möglicherweise vermehren könnte. Und trotz Elvis’ Warnung, dass der Umschlag für einen Berufskiller bestimmt war, dessen Namen und Identität sie nicht kannten, konnte Sanchez diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Daher machte er sich sofort auf den Weg ins Spielkasino des Hotels. Er hatte sich den Umschlag mit den Fotos und den zwanzigtausend Dollar vorne in den Hosenbund seiner Shorts gestopft und, clever wie er war, unter seinem roten Hawaiihemd versteckt, das er darüber herabhängen ließ. Als er das Hemd kaufte, hatte die Verkäuferin ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er, wenn er es trüge, niemals etwas darunter verbergen könne. Nun, sie hatte sich geirrt.

Da er ein leidlich ehrlicher Kerl war – zumindest nach seiner Einschätzung –, hatte Sanchez die ernste Absicht, den Umschlag am Empfang abzugeben. Schließlich gehörte er ihm nicht. Und wenn er ihn abgäbe, wäre immer noch Geld darin: der richtige Betrag, die richtige Anzahl von Banknoten in der richtigen Stückelung. Aber vorher würde er zwanzigtausend als Kapital im Kasino einsetzen. Sobald er einen anständigen Gewinn eingestrichen hätte, würde er zwanzigtausend in Hundertdollarscheinen in den Umschlag stecken, ihn zukleben und aufs Empfangspult legen. Niemand würde etwas bemerken.

Als er sich seinen Plan zurechtlegte, hatte er die Absicht gehabt, beim Spielen auf Nummer sicher zu gehen und nur einen kleinen Gewinn zu machen. Doch als er zum Kasino im Parterre hinunterfuhr, hatte er entschieden, dass er erst aufhören würde, wenn er den Betrag verdoppelt hätte. Zwanzigtausend für Sanchez und zwanzigtausend für den Profikiller, wer auch immer er war. Das war nur fair. Seine Handflächen waren schweißnass, als er den Fahrstuhl verließ und das Kasino betrat. Ein dicker Treffer, und sein Kurzurlaub startete auf eine Weise, wie er sie sich besser nicht vorstellen konnte.

Das Kasino schien direkt aus einem von Sanchez’ Träumen zu stammen – außer dass die Croupiers keine Affen in roten Anzügen und Hüten waren; Sanchez’ Träume waren gelegentlich ein wenig seltsam. Es war riesig und üppig ausgestattet, und die Beleuchtung verlieh dem Saal einen strahlenden goldenen Glanz. Der Teppichboden war purpurrot und ähnelte dem Rot der Westen, die von den Croupiers und Serviererinnen getragen wurden. Und überall waren Gäste. Und nicht nur sie, sondern auch der Klang rollender Würfel, von Spielkarten, die klatschend auf mit grünem Tuch bezogene Tische geworfen wurden, von rotierenden Rouletterädern, dazu die lauten Freudenrufe glücklicher Gewinner und die traurigen Seufzer enttäuschter Verlierer sowie das Klimpern von Münzen, die in die Auffangschalen von Spielautomaten regneten. Es war alles da.

Sanchez fühlte sich wie im Himmel.

Zu seiner Linken standen in langen Reihen Geldspielautomaten, die vorwiegend von älteren Leuten benutzt wurden. Direkt vor ihm befand sich eine Bar mit zahlreichen Hockern, die von ein paar Verlierern besetzt wurden, die dort die Trauer über ihr Spielpech ertränkten. Rechts sah er die Roulette- und Black-Jack-Tische, insgesamt etwa zwanzig an der Zahl. Jeder Tisch war mit einem Croupier und drei oder vier Spielern besetzt und bot ausreichende Möglichkeiten für Sanchez. Er konnte sich irgendeinen Tisch aussuchen, aber welches Spiel gefiel ihm am besten? Black Jack, Poker, Würfeln oder Roulette?

Was er brauchte, war ein Zeichen. Er war nicht besonders abergläubisch, aber er glaubte an glückliche Vorzeichen. Er spürte, dass irgendeine Art Omen ihm den richtigen Weg weisen würde. Und ein solches Zeichen entdeckte er beinah sofort. Etwa in der Mitte des Raums stand ein Roulettetisch, an dem drei Spieler saßen und ihr Glück versuchten. Einer war die selbsternannte Mystische Lady Annabel de Frugyn.

Volltreffer! Trotz seiner persönlichen Abneigung war sie genau die Person, die er hier anzutreffen gehofft hatte. Wenn die Gerüchte zutrafen, dann konnte diese verrückte alte Krähe in die Zukunft schauen. Wen gäbe es Besseres, an den er sich halten konnte?

Sanchez machte sich auf den Weg zum Tisch und steuerte auf Annabel zu. Sie saß auf einem Hocker zwischen zwei zierlichen Chinesinnen mittleren Alters. Jede von ihnen hatte hohe Chipsstapel vor sich aufgebaut, die vermuten ließen, dass sie alle gewannen. Oder dass sie gerade erst angefangen hatten zu spielen. Sanchez griff sich einen freien Hocker von einem anderen Tisch und schob ihn zwischen die Mystische Lady und die kleinere der beiden Chinesinnen, die er ein wenig zur Seite drückte, damit er sich links neben Annabel drängen konnte. Die Tatsache, dass er neben ihr erschien, hatte die gewünschte Wirkung. Sie freute sich offensichtlich, ihn zu sehen.

»Ich wusste, dass Sie es nicht ohne mich aushalten würden, Sanchez«, sagte sie und blinzelte ihm auf ihre entsetzliche kokette Art zu.

»Haha! Ja, das stimmt wohl«, erwiderte er mit mühsam gespielter Begeisterung. »Und, hatten Sie bis jetzt Glück?«

»Aber ja. Ich habe gerade eine richtige Gewinnsträhne, Sanchez. Der Hotelmanager hat mir fünfhundert Dollar gegeben, und die habe ich bereits verdreifacht.« Nun, sie hatte ja wirklich fünfhundert Dollar von Powell erhalten. Sanchez brauchte nicht zu wissen, wie sie sich die verdient hatte.

Sanchez griff nach dem Umschlag, den er sich vorne in den Hosenbund gesteckt hatte. Er hatte ihn tief hineingeschoben und handelte sich einige irritierte Blicke von den anderen Spielerinnen ein, als er drei- oder viermal daran zerren musste, bis er herausrutschte. Das geschah so plötzlich, dass sein Arm nach hinten schoss und er die Chinesin mit dem Ellbogen im Gesicht traf und sie von ihrem Hocker stieß, sodass sie rücklings auf dem Fußboden landete. Scheiße!, dachte Sanchez. Trotzdem, er hatte jetzt keine Zeit, sich zu entschuldigen. Sie würde sich schon irgendwie von dem Sturz erholen.

Seine augenblickliche Verlegenheit überspielend, öffnete er den Umschlag und holte den dicken Stapel Geldscheine heraus und warf ihn lässig vor dem Croupier auf den Tisch. Dessen Miene veränderte sich nicht. Er war ein kahlköpfiger, braunhäutiger junger Mann Ende zwanzig und hatte ein beeindruckendes Pokergesicht, das absolutes DesInteresse zeigte, wenn hohe Geldbeträge über den Tisch wanderten.

Die zierliche Chinesin kletterte zurück auf ihren Hocker, murmelte dabei wütend vor sich hin und schien bereit zu sein, Sanchez mit einem Karateschlag niederzustrecken. Aber als sie das Geldbündel entdeckte, schien sie es sich anders zu überlegen und brachte sogar ein mattes Lächeln für dessen Besitzer Zustande. Jeder liebte einen Mann, der Geld hatte. Und dieser Mann war diesmal Sanchez. Sanchez, der ebenfalls lächelte, rief dem Croupier zu: »Chips bitte, verehrter Sir.«

Der Croupier nahm Sanchez’ Geld, zählte es routiniert und ersetzte es durch einen Stapel roter, gelber und blauer Chips im gleichen Wert. Sanchez konnte spüren, dass seine Mitspielerinnen von seinem offensichtlichen Reichtum leicht beeindruckt waren.

Annabel bestätigte es. »Hey, Sanchez, Ihre Bar muss ja ganz gut laufen.«

»Klar. Ich bin nun mal ein cleverer Geschäftsmann«, prahlte er.

»Schätze, wir sollten uns geschäftlich zusammentun«, schlug Annabel vor. »Mit Ihrem Geschäftssinn und meinen seherischen Fähigkeiten könnten wir ein Vermögen scheffeln.«

»Aber immer. Fangen wir doch gleich damit an. Sie sagen mir Rot oder Schwarz und ich setze das Geld.«

»Oh, diesmal wird es bestimmt Rot sein.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

Sie klang unglaublich souverän. Und was Sanchez erst recht überzeugte, war, dass sie selbst ebenfalls einen Chip auf Rot setzte.

»Machen Sie Ihre Einsätze«, verlangte der Croupier. Obgleich seine Aufforderung an alle Spieler am Tisch gerichtet war, schaute er Sanchez direkt an, als bezweifelte er, dass Sanchez den Mut hatte, mehr als nur einen Chip bei seinem ersten Spiel zu riskieren.

Sanchez wog seine Möglichkeiten ab. Er musste sich schnell entscheiden. Ach, zum Teufel! Das Geld war ihm einfach so in den Schoß gefallen, entschied er.

Und setzte seine sämtlichen Chips auf Rot.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
titlepage.xhtml
b978-3-8387-0438-8_000017.xhtml
b978-3-8387-0438-8_000065.xhtml
b978-3-8387-0438-8_000170.xhtml
b978-3-8387-0438-8_000206.xhtml
b978-3-8387-0438-8_000345.xhtml
b978-3-8387-0438-8_000689.xhtml
b978-3-8387-0438-8_000808.xhtml
b978-3-8387-0438-8_001110.xhtml
b978-3-8387-0438-8_001391.xhtml
b978-3-8387-0438-8_001509.xhtml
b978-3-8387-0438-8_001644.xhtml
b978-3-8387-0438-8_001918.xhtml
b978-3-8387-0438-8_002223.xhtml
b978-3-8387-0438-8_002346.xhtml
b978-3-8387-0438-8_002719.xhtml
b978-3-8387-0438-8_002834.xhtml
b978-3-8387-0438-8_003015.xhtml
b978-3-8387-0438-8_003227.xhtml
b978-3-8387-0438-8_003432.xhtml
b978-3-8387-0438-8_003568.xhtml
b978-3-8387-0438-8_003777.xhtml
b978-3-8387-0438-8_003902.xhtml
b978-3-8387-0438-8_004286.xhtml
b978-3-8387-0438-8_004420.xhtml
b978-3-8387-0438-8_004615.xhtml
b978-3-8387-0438-8_004918.xhtml
b978-3-8387-0438-8_005087.xhtml
b978-3-8387-0438-8_005262.xhtml
b978-3-8387-0438-8_005400.xhtml
b978-3-8387-0438-8_005487.xhtml
b978-3-8387-0438-8_005642.xhtml
b978-3-8387-0438-8_005821.xhtml
b978-3-8387-0438-8_005879.xhtml
b978-3-8387-0438-8_005994.xhtml
b978-3-8387-0438-8_006321.xhtml
b978-3-8387-0438-8_006705.xhtml
b978-3-8387-0438-8_006831.xhtml
b978-3-8387-0438-8_006902.xhtml
b978-3-8387-0438-8_007091.xhtml
b978-3-8387-0438-8_007201.xhtml
b978-3-8387-0438-8_007312.xhtml
b978-3-8387-0438-8_007476.xhtml
b978-3-8387-0438-8_007763.xhtml
b978-3-8387-0438-8_008007.xhtml
b978-3-8387-0438-8_008128.xhtml
b978-3-8387-0438-8_008374.xhtml
b978-3-8387-0438-8_008501.xhtml
b978-3-8387-0438-8_008623.xhtml
b978-3-8387-0438-8_008802.xhtml
b978-3-8387-0438-8_009042.xhtml
b978-3-8387-0438-8_009157.xhtml
b978-3-8387-0438-8_009268.xhtml
b978-3-8387-0438-8_009413.xhtml
b978-3-8387-0438-8_009561.xhtml
b978-3-8387-0438-8_009758.xhtml
b978-3-8387-0438-8_009841.xhtml
b978-3-8387-0438-8_009969.xhtml
b978-3-8387-0438-8_010059.xhtml
b978-3-8387-0438-8_010264.xhtml
b978-3-8387-0438-8_010421.xhtml
b978-3-8387-0438-8_010701.xhtml
b978-3-8387-0438-8_010834.xhtml
b978-3-8387-0438-8_010950.xhtml
b978-3-8387-0438-8_011097.xhtml
b978-3-8387-0438-8_011234.xhtml
b978-3-8387-0438-8_011297.xhtml
b978-3-8387-0438-8_011569.xhtml
b978-3-8387-0438-8_011637.xhtml