SECHSUNDZWANZIG

Sanchez war sich nicht sicher, was er von Elvis’ plötzlicher Entscheidung, seine Schaufel fallen zu lassen, halten sollte. Noch weniger sicher war er, wie er die geheimnisvolle Bemerkung seines Freundes, dass etwas »passiert sei«, deuten sollte. Was sollte das heißen? Es musste der Teil eines Plans sein, aber welchen Plans? Eines Plans, der ihre Flucht zum Ziel hatte, hoffte er. Er war gar nicht glücklich über die Möglichkeit, dass Elvis möglicherweise beabsichtigte, ihn aufs Kreuz zu legen.

Doch wenn der Plan es schaffte, Invincible Angus aus dem Konzept zu bringen, dann würde er gewiss funktionieren. Der Profikiller war offensichtlich verwirrt über Elvis’ plötzliche Feststellung, dass irgendetwas geschehen war. Die rechte Seite seines Gesichts zuckte und er biss heftig die Zähne zusammen. Dieser Mann war angespannt wie eine zusammengedrückte Sprungfeder, und seine Selbstkontrolle stieß an ihre Grenzen. Er riss die Augen weit auf und zielte mit der Pistole auf Elvis’ Kopf.

»Heb die verdammte Schaufel auf und fang wieder an zu graben, sonst blase ich auf der Stelle ein verdammtes Loch in deinen verdammten Schädel«, befahl er drohend.

Elvis zeigte nur wenig Besorgnis und noch weniger Interesse. Er erschien irgendwie abgelenkt. »Hör mal, Mann, wir müssen schnellstens von hier verschwinden«, sagte er. Im Mondlicht verriet das Gesicht des King zunehmende gespannte Erwartung. Sanchez war ebenso verwirrt wie Angus. Was hatte Elvis vor? Und sollte Sanchez irgendwie mitmachen?

»ich zähle jetzt bis drei«, sagte Angus. »Und wenn du bis dahin die Schaufel nicht wieder in der Hand hast und gräbst, lässt du mir keine Wahl. Eins …«

Sanchez entschied, dass der Zeitpunkt gekommen war, sich bemerkbar zu machen. Elvis hatte eine Karte ausgespielt und hoffte vielleicht, dass er mit etwas Raffiniertem nachzog. Indem er zu Angus schaute, rief er: »Achtung, hinter dir«, und deutete auf einen Punkt hinter dem linken Bein des Killers.

»Um Himmels willen!« Angus schüttelte den Kopf und sah Elvis an. »Ist dieser Typ echt? Das ist doch der älteste Trick der Welt. Und der soll ein weltberühmter Berufskiller sein?«

»Okay«, sagte Elvis. »Dann schau mal hinter mir nach.«

An diesem Punkt war sogar Sanchez verwirrt. Wie immer ihr Plan aussehen sollte, er schien unendlich lahm zu sein. »Achtung, hinter dir« war schon schlapp genug, aber wenn Elvis jetzt weitermachte, indem er jeden aufforderte, hinter ihn zu schauen, dann griffen sie wirklich nach Strohhalmen. Dennoch entschied Sanchez, weiter mitzumachen, und betete zu Gott, dass das Ganze wirklich Teil eines Plans war. Die Schaufel immer noch mit seinen gefesselten Händen festhaltend, drehte er sich, um einen Blick hinter seinen Freund zu werfen. Zuerst konnte er außer den Umrissen der beiden toten Sicherheitsmänner auf dem Boden nicht viel erkennen. Dann, in der Friedhofsstille, die Elvis’ Aufforderung folgte, hörte er plötzlich etwas.

Ein tiefes Rumpeln. Ein Geräusch aus der Erde, als seien hunderte Maulwürfe dabei, sich nach oben zu graben. Aus dem Augenwinkel gewahrte er eine Bewegung in der Nähe des toten Wachmanns hinter Elvis. Der Erdboden begann in Gestalt kleiner Erd- und Sandhaufen aufzubrechen, wobei Staub und kleine Steine in die Luft geschleudert wurden. Sanchez spürte, wie ein Erdbrocken auf seinem Schuh landete. Er kam aus dem Grab, das er und Elvis ausgehoben hatten. Er fuhr herum und beugte sich über das Loch, um nachzusehen, woher der Erdbrocken gekommen war. Das Rumpeln schien auf allen Seiten zu erklingen, aber die nächste Geräuschquelle befand sich eindeutig im Grab. Weitere Erdkrümel flogen heraus. Irgendetwas kam durch die Erde nach oben.

»Was zur Hölle ist das?«, rief Angus ihnen zu. Er konnte das Geräusch, das von Sekunde zu Sekunde lauter wurde, deutlich hören.

Immer noch ins Grab starrend, fixierte Sanchez die kleinen Steine und Erdbrocken, die herausgeschleudert wurden. Beim ungewissen Licht des Mondes war er sich nicht sicher, ob seine Augen ihm etwas vorgaukelten oder nicht. Dann bohrte sich etwas Bleiches von unten durch das Erdreich.

Eine Hand.

Eine alte, vermoderte Hand mit Dreck unter den kurzen, abgebrochenen Fingernägeln. Ihre Finger bewegten sich, suchten nach etwas, woran sie sich festhalten konnten. Es war eine Hand, die sich aus der Erde wühlte. Sanchez schaute wieder zu Angus, der die Pistole auf ihn richtete.

»Es ist eine verdammte Hand!«, brüllte er.

»Wie bitte?«

Es hatte um einiges länger gedauert, als es hätte dauern sollen, doch Sanchez hatte endlich genau erkannt, was es war, wovor Elvis sie zu warnen versuchte. Etwas passierte tatsächlich, das war richtig. Noch etwas, das die verdammte Mystische Lady nicht vorhergesagt hatte, dachte er völlig zusammenhanglos.

»O mein Gott! Hinter dir!«, brüllte er plötzlich. Er starrte auf den Erdboden hinter Angus, und er hatte tatsächlich etwas gesehen. Und das war mehr als nur eine Hand. Was Sanchez sah, war ein halb vermoderter Leichnam, der im Begriff war, sich aus dem Erdreich zu befreien. Die obere Körperhälfte befand sich bereits über der Erdoberfläche, und einer ihrer Arme war ausgestreckt und griff nach Angus’ linkem Oberschenkel. Das Gesicht war eine Masse aus zerfetztem und faulendem Fleisch. Der Körper war noch mit Kleiderresten umhüllt, die kaum mehr als die Hälfte des skelettierten Torsos verbargen. Die Kreatur besaß noch Haare, wenn auch grau und voller Erde, Augen und Zähne, aber jedes Gramm Fett, das der Körper vielleicht einmal enthalten hatte, war verschwunden oder während seines unterirdischen Schlafs verbraucht worden. Seine schwarzen, fanatisch glühenden Augen signalisierten einen wahnsinnigen Hunger. Einen Hunger nach menschlichem Fleisch.

Das war jedoch erst der Anfang. Als Angus endlich wach wurde und begriff, dass tatsächlich etwas im Gange war, und sich umwandte, um nachzusehen, eruptierten zwei weitere Erdhaufen rechts und links von ihm. Leiber stiegen aus flachen Gräbern in der Wüste. Leiber all der toten Menschen, die dort während der letzten einhundert Jahre beerdigt worden waren.

Die wahre Back-From-The-Dead-Show, ein alljährlicher Leichenschmaus für die Untoten, fing gerade erst an. Und es sah so aus, als sollten Sanchez, Elvis und Invincible Angus die Vorspeise sein. Diese grotesk deformierten, Fleisch fressenden Vertreter der Untoten hatten ein ganzes Jahr ihren Winterschlaf gehalten.

Und sie sahen verdammt hungrig aus.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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