NEUNUNDVIERZIG ♦
Emily konnte es kaum erwarten, endlich auf die Bühne zu gehen und mit ihrem Vortrag zu beginnen. Jacko war als Nächster dran, dann sie und James Brown als Letzter des Finales. Sie war sicher, dass sie die drei Sänger übertreffen würde, die bereits aufgetreten waren. Janis Joplin war katastrophal gewesen. Elvis und Freddie Mercury hatten das Publikum beeindruckt, aber wenn sie in Form war, dann würde sie die beiden mit Leichtigkeit schlagen. James Brown würde ihre Siegchancen sicherlich um einiges mindern, allerdings nicht unbedingt durch seinen Gesang. Der Godfather of Soul war superbad und würde sie wahrscheinlich mit einer Pistole bedrohen. Er gehörte nicht gerade zu der Sorte Mensch, der man gerne im Dunkeln begegnete. Die unbekannte Größe war der Blues Brother, Jacko, der in wenigen Sekunden auftreten würde. Tatsächlich stand Nina Forina schon in der Bühnenmitte, um ihn anzukündigen.
»Ladys und Gentlemen«, hallte ihre Stimme bereits durch den Konzertsaal. »Empfangen Sie mit Applaus den vierten Finalteilnehmer mit seinem Titel ›Mustang Sally‹ … es ist der Blues Brother!«
Die Menge spendete Jacko reichlich Applaus, begleitet von vereinzelten anfeuernden Pfiffen. Sein vorheriger Auftritt mit der Mundharmonika war vor allem deshalb außerordentlich gut angekommen, weil er es geschafft hatte, das Publikum zum Mitmachen zu animieren. Daher erreichte der Applaus die doppelte Lautstärke und die Pfiffe gingen in den Jubelrufen und dem Füßestampfen unter, als er die Bühne mit einer schwarzen Gitarre an einem Gurt über den Schultern betrat. Als sie Jacko beobachtete, während ein Techniker seine Gitarre an einen Verstärker anschloss, kam Emily zu dem Schluss, dass er in diesem Moment unter einem zehnmal höheren Druck stehen musste als bei seinem ersten Auftritt. Selbst wenn er ihr versichert hatte, dass er überhaupt nicht nervös sei, musste er es eigentlich in diesem Moment sein, oder? So erging es doch jedem vor einem wichtigen Auftritt, und dieser jetzt entschied wahrscheinlich über sein weiteres Leben.
Der Applaus versiegte schließlich, und was folgte, war – Stille. Die von allen erwartete Musikbegleitung erklang nicht. Die Lautsprecher im Zuschauerraum blieben stumm.
Jacko trat ans Mikrofon im Scheinwerferkegel in der Bühnenmitte und rang sich eine leise Ansage ab. »Äh – ich habe mich im letzten Moment entschieden, einen anderen Titel zu singen.« Er räusperte sich, während im Publikum Unruhe entstand und gedämpftes Murmeln laut wurde. »Ich verzichte auch auf die Musikbegleitung vom Band«, er schaute in den Orchestergraben hinunter –, »aber wenn jemand von der Band bei dem Song mitspielen will, dann habe ich absolut nichts dagegen.«
Emily klappte die Kinnlade nach unten. Hatte er den Verstand verloren? Die Zuschauer hatten anscheinend den gleichen Gedanken. Das Murmeln im Publikum wurde lauter, und im Orchestergraben sahen die Musiker einander verwirrt an und bereiteten sich darauf vor, den seltsamen Sänger zu begleiten, falls sich dazu eine Gelegenheit ergab.
Und dann begann Jacko auf seiner Gitarre zu spielen.
Er wirkte nervös und sichtlich aufs Höchste konzentriert, als er langsam an den Saiten zupfte. Und was zum Teufel spielte er?
Emily bekam Gesellschaft von den anderen Finalisten, die ausnahmslos genauso neugierig waren wie sie. Es war wirklich ein faszinierendes Schauspiel. War dieser Typ, dieser Blues Brother, im Begriff, seine Chancen auf den Sieg zu verspielen? Oder war dies eine überaus raffinierte Taktik, das Publikum und vielleicht sogar die Jury für sich einzunehmen?
Nachdem er für das verwirrte Publikum ein paar halbwegs sauber klingende Akkorde intoniert hatte, nahm Jacko die ersten Textzeilen des Songs in Angriff.
»Come on
Yo people, we’re all gonna go …«
Emily erkannte die Melodie, obgleich sie – und das nicht zum ersten Mal während der Show – erhebliche Zweifel hegte, dass er den richtigen Text sang. Sie hatte diesen Titel in zahlreichen Bars gehört, gewöhnlich dargeboten von Blues-Brothers-Tribute-Bands. Es war »Sweet Home Chicago«, was Jacko bestätigte, als er zum Ende der ersten Strophe kam.
»Back to that dirty old place
They call Chicago …«
Jacko mochte einiges fehlen, aber Mut war es ganz sicher nicht. Er spielte weiter unbeirrt auf seiner Gitarre und sang halbwegs passabel. Er erzeugte jedoch nicht die gleiche Begeisterung wie bei seinem früheren Auftritt mit »Mustang Sally«. Aber die Menge liebte ihn, und wenn auch nur wegen seines seltsamen Verhaltens. Sie würden ihn niemals ausbuhen, solange er sich auf der Bühne nicht etwas wirklich Dummes erlaubte.
Freddie Mercury sprach anscheinend für sie alle, als er ziemlich laut flüsterte: »Was zum Teufel macht er da?«
»Das ist ›Sweet Home Chicago‹«, sagte Emily.
»Scheiße, das weiß ich doch, aber er ist ganz alleine mit seiner Gitarre. Was denkt er sich dabei? Der Kerl hat es voll vermasselt.«
Emily musterte unauffällig die anderen Finalteilnehmer und fragte sich, was sie wohl dachten. Sie waren alle anwesend bis auf James Brown. Er war Gott sei Dank irgendwohin verschwunden und noch immer nicht aufgetaucht. Elvis und Janis waren noch zugegen, obgleich sie dem Bühnengeschehen nicht viel Achtung schenkten. Sie schienen sich mehr füreinander zu interessieren als für das, was sich auf der Bühne tat. Elvis flüsterte Janis etwas ins Ohr und sie starrte ihn an und runzelte die Stirn, als könnte sie nicht hören, was er sagte. Schließlich seufzte er, holte tief Luft und rief. »Ich sagte, hast du Lust auf eine schnelle Nummer?« Emily sah, wie Janis heftig nickte und den King mit einem strahlenden Lächeln belohnte. Dann verschwanden die beiden eilig in Richtung Künstlergarderobe. Emily kicherte grinsend vor sich hin, ehe sie sich wieder umwandte, um sich auf keinen Fall entgehen zu lassen, wie Jacko auf der Bühne sein Ausscheiden aus dem Wettbewerb zelebrierte.
Er hatte etwa eine Minute lang gesungen und auf seiner Gitarre geklimpert, als etwas Unerwartetes geschah. Im Orchestergraben begann der Schlagzeuger auf der Snare Drum einen Rhythmus zu trommeln. Es war wie eine Aufforderung an die anderen Orchestermitglieder, sich ein Herz zu fassen und mitzuspielen. Nachdem sie zu ihrer Enttäuschung erfahren hatten, dass sie nur für zwei Finalisten spielen sollten, war Jackos Aufforderung, ihn zu begleiten, für sie wie ein Geschenk, das ihre Laune schlagartig besserte. Der Pianist begann, die Tasten seines Flügels zu kitzeln, dann stimmte eins der Saxophone ein, gefolgt von dem anderen Gitarristen, Pablo, und sogar zwei Violinen. Nach und nach rundete sich der Klang und wurde voller, lauter, rankte sich um seine Gitarre und harmonisierte mit seinem Gesang. Innerhalb weniger Sekunden begleitete das Orchester den Song mit beträchtlichem Schwung.
Die Mitwirkung des Orchesters weckte das Publikum auf, und die Zuschauer erhoben sich von ihren Plätzen und klatschten rhythmisch mit und wiegten sich zur Musik. Emily verfolgte erstaunt, wie Jackos Selbstsicherheit ständig wuchs. Er spielte jetzt viel beherzter auf seiner Gitarre, seine Hüften begannen sich im Takt zu bewegen und seine Stimme wurde kräftiger und sicherer. Während der Gesangsteil des Titels in ein langes Instrumentalsolo überging, begann er, das Orchester im Graben zu seinen Füßen zu dirigieren, indem er jeweils mit einem Kopfnicken andeutete, wer als nächster Solist brillieren solle. In der einen Minute war es eines der Saxophone oder eine der Trompeten, dann folgte der Pianist und schließlich wieder Jacko, der der gestohlenen Fender ein schrilles Solo entlockte.
Und das Publikum war begeistert.
Emily ertappte sich dabei, wie sie die Füße zur Musik bewegte. Auch sie fühlte sich bestens unterhalten. Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, dass es vielleicht nicht so günstig wäre, direkt nach Jacko auftreten zu müssen, aber dann sagte sie sich mit Nachdruck, dass sie nichts anderes tun konnte, als ihr Bestes zu geben und zu hoffen, dass es ausreichte.
Während der Blues Brother und das Orchester sich allmählich zu einem Crescendo steigerten, das zweifellos den krönenden Abschluss des Songs bildete, spürte Emily, wie jemand sie am Arm berührte. Erschrocken drehte sie sich um und sah den Bourbon Kid, der mittlerweile eine Hand um ihren Arm gelegt hatte.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er klar und unmissverständlich.
»Ähm, natürlich.«
Er deutete mit einem Kopfnicken auf Freddie Mercury. »Unter vier Augen.«
Der Kid hatte ihr höchstwahrscheinlich das Leben gerettet, daher war es nur fair, wenn sie ihm eine Minute ihrer Zeit schenkte. Indem er ihren Arm festhielt, führte er sie die Treppe hinunter und durch die Tür in den Korridor hinter der Bühne. Dann ging er mit ihr ein Stück in den Korridor hinein außer Sicht- und Hörweite für jeden, der sich, von ihnen unbemerkt, hinter der Bühne aufhalten mochte.
»Um was geht es?«, fragte sie.
»Hören Sie, wenn Sie sich so sicher sind, dass Sie gewinnen, können Sie dann nicht einen falschen Ton singen oder sich mit dem Text verheddern? Als wüssten Sie, dass Sie gewinnen, es aber ganz bewusst nicht dazu kommen lassen?« Seine Stimme war so rau wie immer, hatte jedoch nun einen Ausdruck von Dringlichkeit.
Emily schüttelte den Kopf. »Das haben wir doch bereits besprochen. Es tut mir leid, aber ich brauche das Geld. Und ich brauche außerdem das Bewusstsein, dass ich gut genug bin, um diesen Wettbewerb zu gewinnen. Ich habe Ihnen doch erklärt, dass ich es nicht für mich will. Meine Mutter ist krank und ich brauche das Preisgeld.«
»Okay, wie wäre denn das? Wenn Sie gewinnen, verzichten Sie darauf, den Vertrag zu unterschreiben. Sie geben ihn dann jemand anderem. Den töte ich dann, wer immer das sein mag, und verschaffe Ihnen auf diese Weise das Geld.«
Emily erschauerte. »Tut mir leid. Nein. Ich will wissen, ob ich gut genug bin, um diesen Wettbewerb zu gewinnen, und ich will nicht, dass jemand anders stirbt, damit mir das Geld zugesprochen wird. Genau genommen will ich nicht, dass überhaupt jemand stirbt, egal aus welchem Grund. Es hat schon längst zu viele Tote gegeben. Und außerdem würde ich niemals einen Preis annehmen, den ich nicht rechtmäßig gewonnen habe oder der jemandem gestohlen wurde, der … der …«
Der Kid verstärkte den Druck seiner Hand um ihren Arm. »Ich habe noch eine Kugel in meiner Pistole. Zwingen Sie mich nicht, Sie bei Ihnen zu benutzen. Das möchte ich wirklich nicht tun.«
»Dann lassen Sie’s.«
»Ich erlaube Ihnen aufzutreten. Aber ich kann Sie nicht gewinnen lassen.«
Emily machte einen Schritt zurück und befreite ihren Arm aus seinem Griff. »Nun, das hängt alleine von Ihnen ab«, sagte sie. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Jacko und wusste, dass sie so handeln musste. Dann machte sie kehrt, ließ den Kid stehen und ging zur Bühne zurück, um sich auf ihre Darbietung von »Over The Rainbow« vorzubereiten.
Während sie sich entfernte, fragte sie sich, ob sich die letzte Kugel des Kid gleich in ihren Rücken bohren würde.