SIEBENUNDZWANZIG

Als der letzte Interpret zum Vorsingen die Bühne betrat, waren die anderen Konkurrenten mittlerweile unglaublich nervös. Jeder wollte wissen, ob er oder sie es bis ins Finale geschafft hatte. Für diejenigen, die schon früh am Abend ihren Auftritt gehabt hatten, war das Warten unerträglich. Viele von ihnen hatten Zuflucht in einer der Hotelbars gesucht, um mit einem Drink die Nerven zu beruhigen, ehe die Finalisten bekannt gegeben wurden. Andere waren auf ihre Zimmer gegangen, um sich auszuruhen. Ein paar Unglücksraben waren getötet worden und ein anderer, Elvis, unternahm gerade eine Spazierfahrt in die Wüste.

Eine der wenigen, die sich entschieden hatten, sich auch noch den Auftritt des letzten Konkurrenten anzusehen, war Emily. Sie war nicht so nervös und gespannt wie die anderen, weil sie wusste, dass ihr ein Platz im Finale sicher war. Sie wusste bereits seit Monaten, dass sie nichts anderes zu tun hatte als zu erscheinen und ihren Auftritt beim Vorsingen nicht zu vergeigen. Nachdem sie diese Hürde erfolgreich überwunden hatte, ließ sie den anderen Konkurrenten, von denen sie wusste, dass sie keine Chance hatten, ins Finale zu gelangen, ihre Unterstützung zuteilwerden. Diese Unterstützung war von Herzen aufrichtig gemeint. Sie nahm an, dass sie sich dann auch wegen des ganzen Schwindels besser fühlen würde.

Der Mann auf der Bühne, der wie einer der Blues Brothers gekleidet war – nun, zumindest oben herum –, sah nicht so aus, als sei er eine Bedrohung, und außerdem erschien er viel zu nervös. Als sie sich daran erinnerte, wie nervös sie bei ihrem eigenen Auftritt gewesen war, flog ihm Emilys Herz zu. Hinzu kam, dass die rote Lederhose, die er trug, nicht gerade eine Hilfe war. Armer Kerl. Sie schaute von der Bühnenseite zu, wie er nervös mit einer Mundharmonika herumhantierte, während Nina Forina ihm ein paar Fragen stellte. Emily hatte das Glück gehabt, von der Showmasterin nicht interviewt zu werden, ehe sie sang. Wenn Nina einen Kandidaten bat, dem Publikum ein wenig über sich selbst zu erzählen, bedeutete das gewöhnlich, dass der Kandidat entweder ein Freak war oder dass er eine tränenreiche Geschichte auf Lager hatte.

»So, Jacko, sind Sie nervös?«, fragte Nina und legte eine perfekt manikürte orangefarbene Hand auf seine Schulter.

»Ja, ein wenig«, murmelte er leise.

»Haben Sie irgendwelche Freunde oder Familienangehörige im Publikum?«

»Äh – nein. Meine einzige Freundin war meine Frau Sally, aber sie ist vor Kurzem gestorben.«

Das Publikum stieß ein einstimmiges und mitfühlendes »Aaah« aus.

»Das tut mir leid«, sagte Nina mit einem Blick, der sicherlich mitfühlend ausgefallen wäre, wenn das Botox dies nicht verhindert hätte. »Und wie ist sie gestorben?«

»Hä?«

»Ihre Frau, Sally. Was war die Ursache ihres tragischen Todes? Oder ist es für Sie zu schmerzlich, darüber zu sprechen?«

Emily kam es so vor, als bereitete diese Befragung Jacko Unbehagen und als wüsste er darauf keine Antworten. »Äh, ja – ich meine, ja, es war schmerzlich. Sie wurde von einem Leoparden gefressen.«

»Von einem was

»Einem Leoparden.«

Das Publikum stieß einen einstimmigen Seufzer aus. Indem sie sofort erkannte, dass das Interview schon lange genug gedauert hatte, wandte Nina sich wieder an das Publikum und schmetterte in ihr Mikrofon: »Okay, das ist eine sehr traurige Geschichte. Aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb, Ladys und Gentlemen, bitte ich um Applaus für … den Blues Brother

Emily beobachtete, wie der Blues Brother stocksteif stehen blieb, sich nicht vom Fleck rührte und lediglich tiefe Atemzüge machte. Du meine Güte, dachte sie, er ist leer. Der Applaus war verstummt und fast zwanzig Sekunden gespenstischer Stille verstrichen, ehe Jacko endlich zu singen begann. Der Song, den er sich ausgesucht hatte, war »Mustang Sally«, obgleich er Mühe hatte, die erste Zeile über die Lippen zu bringen.

»Mustang Sally,

Someone better slow your Mustang down.«

Hätte kein Mikrofon vor ihm gestanden, hätten die Juroren, die nicht mehr als zehn Meter von ihm entfernt waren, ihn kaum gehört. Was letztlich auch ganz gut war, denn wenn man sich die zweite Textzeile genau anhörte, sang er anscheinend den völlig falschen Text. Wie jemand, der einen Titel im Autoradio mitsingt, schien er immer dann ein wenig zu nuscheln, wenn er den Text nicht mehr genau kannte.

Emily ging auf Zehenspitzen zum Bühnenrand, um besser sehen zu können, und hielt sich dabei hinter dem langen roten Vorhang, der zur Bühnenseite zurückgezogen war. Sie dachte, sie sei alleine, bis sie jemanden bemerkte, der sie von der Seitenbühne aus beobachtete. Er stand ungefähr einen Meter links von ihr vor einer Wand, die tiefschwarz gestrichen war. Sie hatte ihn nicht gesehen, bis sie ganz nahe bei ihm war, denn er verschmolz wie ein Chamäleon mit der dunklen Wand.

Sie erkannte in ihm den fremden Mann, den sie früher am Tag gesehen hatte, kurz bevor sie auf die Bühne gegangen war. Er trug immer noch die schwarze Lederjacke mit der dunklen Kapuze auf den Schultern. Das war nun wirklich jemand, der praktisch unbemerkt von einem Schatten zum anderen gleiten konnte. Aber obgleich sie ihn beunruhigend fand, nutzte Emily diese zweite Gelegenheit, diesen Fremden anzusprechen.

»Haben Sie ihm Ihre Sonnenbrille geliehen?«, fragte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf den Blues Brother auf der Bühne.

Der Mann war so sehr darin vertieft gewesen, Jackos Auftritt zu verfolgen, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie sich ihm näherte. Sein erster zorniger Blick deutete an, dass ihm ihr Annäherungsversuch höchst unwillkommen war, aber schon sein zweiter Blick fiel ein wenig sanfter aus, als er sie erkannte.

»Ja, er brauchte jede Hilfe, die er kriegen kann.«

»Die ersten Zeilen sind die schlimmsten. Doch dann wächst das Selbstvertrauen.«

»Stimmt.« In der rauen Stimme schwang tiefe Skepsis mit.

Emily hatte jedoch tatsächlich Recht. Obgleich er zögernd und stockend angefangen hatte, wurde Jacko mit jeder Zeile besser und mit jedem Wort, das er sang, lauter und selbstsicherer. Und als er zu der Mundharmonika-Passage kam, erstrahlte er geradezu. Der Junge konnte wirklich spielen. Plötzlich horchte das Publikum auf und begann mitzuklatschen.

»Ich hab’s doch gewusst«, meinte Emily. »Jetzt ist er ganz gut, nicht wahr?«

»Er ist besser als Sie, das ist schon mal sicher.«

Emily war bestürzt, und zwar sowohl über die unangebrachte Aggression in der Bemerkung als auch über ihre Grausamkeit. »Wie bitte?«, fragte sie betont ruhig.

»Sie waren scheiße. Warum gehen Sie nicht nach Hause? Sie werden niemals gewinnen.«

»Ich habe das gleiche Recht, hier zu sein, wie jeder andere.« Gegen ihren Willen wurde sie wütend, und eine leichte Röte breitete sich auf ihren Wangen aus.

»Ihre Vorsingerei war reiner Schwindel«, fügte der dunkle Fremde hinzu.

Emily spürte, wie ihre Wangen sich intensiver röteten. Es war nicht sehr angenehm, hören zu müssen, wie jemand ziemlich laut aussprach, dass ihr Weg ins Finale vorbestimmt war. Für eine Sekunde zweifelte sie an ihrem Talent.

»ich weiß nicht, wovon Sie reden«, stotterte sie und suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit, sich diesem Gespräch zu entziehen.

»Das Finale ist manipuliert. Und falls Sie es nicht bemerkt haben sollten, drei der für das Finale Auserwählten sind verschwunden. Es scheint so, als gefiele jemandem nicht, dass betrogen wird. Warum tun Sie nicht allen Beteiligten einen Gefallen und verpissen sich verdammt noch mal zurück nach Kansas?« Er sah sie drohend an, wobei seine Augen ohne die Sonnenbrille noch beunruhigender erschienen. Sie glaubte nicht, dass drei ihrer Mitfinalisten verschwunden waren – das sagte er nur, um sie zu verunsichern.

Aber er hatte damit Erfolg. Emily schluckte heftig, um die Tränen zurückzuhalten. Es war nicht sehr angenehm, wenn auf diese Weise mit einem gesprochen wurde. Was für ein Problem hatte dieser Kerl? Sie hatte ihm nichts Böses getan. Auf der Bühne war Jacko jetzt in seinem Element und brachte ein heißes Mundharmonikasolo, welches das gesamte Publikum von den Sitzen riss.

»Sie sind sehr unhöflich«, platzte sie heraus, ehe sie sich von dem dunkel gekleideten Fremden abwandte und nach rechts ging, wo sie sich in ihrer Verwirrtheit fast in den dunkelroten Vorhangfalten verhedderte.

Nach Standing Ovations der Zuschauer, die gut eine Minute dauerten, gaben die drei Juroren ihre Urteile ab. Die ersten beiden, Lucinda Brown und Candy Perez, äußerten wohlwollend positive Kommentare, die den Beifall des Publikums erhielten. Schließlich kam der Juror in dem grellweißen Anzug in der Mitte, Nigel Powell, an die Reihe. Er war der Juror, dessen Meinung am meisten zählte. Er erschien um einiges zorniger als vorher während Emilys Auftritt. Er hatte es außerdem ohne Zweifel eilig, eine Pause zu machen.

»Nun, was kann ich sagen, Jacko?«, begann er. »Dein Gesang war bestenfalls mittelmäßig.« Das Publikum buhte und er lehnte sich zurück und drehte sich halb zum Zuschauerraum um. »Das war er wirklich!«, protestierte er. »Aber dafür war dein Mundharmonikaspiel hervorragend.« Das Publikum vergaß das Buhen und begann laute Freudenrufe auszustoßen. Als der Lärm sich ausreichend gelegt hatte, fuhr Powell fort. »Aber der Punkt ist, dass diese Show beweisen soll, dass du singen kannst, und für mich klang das überhaupt nicht nach den Blues Brothers. Ohne die Mundharmonika wäre das Ganze wahrscheinlich nicht einmal Mittelmaß.«

Weitere Buhrufe drangen aus dem Zuschauerraum, und aus dem Augenwinkel bemerkte Emily einen Anflug von Erregung auf dem Gesicht des Mannes neben ihr. Tatsächlich sah er aus, als sei er bereit, irgendjemanden zu töten, daher schlich sie sich im Interesse des Selbstschutzes davon und kehrte in die Sicherheit der Künstlergarderobe im achten Stock zurück. Wenigstens dort, so dachte sie, wäre sie unter Freunden wie Johnny Cash, Otis Redding, Kurt Cobain und James Brown.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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