SIEBENUNDFÜNFZIG ♦
Sanchez wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Julius hatte nicht gewonnen. HATTE. NICHT. GEWONNEN.
Er hatte ausreichend Zeit, um sich eingehend mit dieser ernsten Komplikation zu befassen, denn fast eine ganze Minute war verstrichen, seit Nina verkündet hatte: »Der Sieger – ja, Sieger – des Back-From-The-Dead-Gesangswettbewerbs ist …« Ein, wie es schien, nicht enden wollender Trommelwirbel begann während ihrer Ansage und dauerte mit zunehmender Lautstärke an. Sanchez rechnete halb damit, im Orchestergraben einen riesigen Batteriehasen an der Snare Drum zu sehen, weil nichts darauf hindeutete, dass der Tusch enden würde. Der Trommelwirbel erklang weiter. Sanchez blickte wieder auf die Uhr. Der Vertrag musste bis 1:00 Uhr morgens unterzeichnet werden.
Und jetzt war es 0:55 Uhr.
Das gesamte Publikum spielte verrückt, schickte seinem jeweiligen Liebling Anfeuerungsrufe und beschimpfte den Schlagzeuger. Dann, plötzlich, endete der Trommelwirbel. Angespannte Stille senkte sich auf den Zuschauerraum herab. Nina beendete ihre Ansage.
»... der Blues Brother!«
Die Zuschauer begrüßten die Wahl mit ausgelassenem Jubel. Nina, die die Hände beider Finalisten ergriffen hatte, reckte Jackos Hand in die Luft, um seinen Sieg deutlich zu machen. Rechts neben Nina stehend, lachte er und winkte triumphierend und bedankte sich so beim Publikum für seine Stimmabgabe. Links neben Nina ließ Emily enttäuscht den Kopf hängen. Dann ließ sie Ninas Hand los und ging zu Jacko. Sie umarmte ihn, während sie ihm gratulierte, dann trat sie zurück, um sich zu den Verlierern auf dem rückwärtigen Teil der Bühne zu gesellen.
Sanchez schüttelte unwillkürlich den Kopf und dachte an das, was vielleicht gleich geschehen würde. Eigentlich hätte Julius den Vertrag unterschreiben sollen. Aber Julius hatte nicht gesiegt, und er konnte Jacko wohl kaum beiseitedrängen und den Vertrag selbst unterzeichnen. Also was würde er tun? Wenn die Antwort »nichts« wäre, hatte dann Elvis einen Plan? Denn Sanchez wollte nichts anderes, als nach Hause zurückzukehren. Und zwar jetzt gleich.
Er winkte Elvis aufgeregt zu und versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Es wurde Zeit, aus dem Hotel zu verschwinden. Elvis bemerkte schließlich das verzweifelte Winken seines Freundes und nickte ihm zu. Hoffentlich hatte er den gleichen Gedanken. Er fasste nach Janis Joplins Arm, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und dann verließen die beiden die Bühne und kamen auf Sanchez zu.
»Meinst du nicht, wir sollten schnellstens abhauen?«, fragte Sanchez.
»Du hast verdammt Recht«, sagte Elvis. »Aber lass uns noch einen Moment warten. Ich will nur sehen, was Julius macht.«
Sanchez wollte nichts anderes als weg von diesem Ort, je schneller und weiter desto besser. Nun, da er sich wieder in Elvis’ Gesellschaft befand, rechnete er sich aus, dass seine Chance, lebend rauszukommen, sich erheblich verbessert hatte. Was auf der Bühne im Gange war, interessierte ihn nicht mehr, und er eilte die Treppe zum Flur hinunter, der zum Empfang führte. Auf der Treppe hörte er das Geräusch von zerschellendem Glas. Es kam aus der Eingangshalle. Ein kalter Windhauch folgte. Irgendwo in der Nähe musste ein Fenster zu Bruch gegangen sein. Als er das Ende der Treppe erreichte, hörte er Schritte, und zwar eine ganze Menge, die auf ihn zukamen. Und das schnell.
Er blieb stehen und spähte um den Türpfosten zum Empfang. Sein Kinn klappte nach unten und er spürte, wie sein Herz für einen Schlag aussetzte. Die Zombiewesen aus der Wüste waren durch die gläsernen Flügeltüren des Eingangs gebrochen und strömten zu Hunderten ins Hotel. Sie schwärmten in alle Richtungen aus auf der Suche nach Menschenfleisch, um ihren Hunger zu stillen. Sanchez machte kehrt und rannte die Treppe zur Bühne hinauf. Er konnte sich mit dem Gedanken, ein Appetithappen zu sein, nicht anfreunden. Und was Appetithappen betraf, war er groß genug, um mehr als einem untoten Esser als Kostprobe zu dienen. Augenblicklich meldete sich seine notorische Feigheit, und er tat das, was er am besten konnte – er ergriff die Flucht.
Elvis und Janis standen mit dem Rücken zu ihm oben auf der Treppe und verfolgten das Geschehen auf der Bühne. Nigel Powell hatte sich von seinem Platz am Jurorentisch erhoben und hielt etwas in den Händen, das nur der Vertrag sein konnte. Der Schock über den Anblick der Zombies hatte Sanchez kurzzeitig der Sprache beraubt. Er stand hinter Elvis und machte ein paar tiefe Atemzüge. Der King hatte ihn noch nicht bemerkt. Er unterhielt sich mit Janis.
»Sobald irgendjemand den Vertrag unterschreibt, müssen wir zusehen, dass wir uns von hier verdrücken, Baby«, hörte Sanchez ihn sagen.
»Willst du dir die Zugabe nicht ansehen?«, fragte Janis.
»Nee, wir müssen die Fliege machen. Der Typ, der gewonnen hat, wird gleich einen Vertrag mit dem Teufel unterzeichnen. Damit verkauft er seine Seele. Und wird bis in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren.«
»Wie bitte?«
»Das ist mein Ernst, Baby. Außerdem ist eine Bande verdammter Zombies hierher unterwegs. Sie werden uns allesamt umbringen, wenn wir es nicht schaffen, dass James Brown diesen verdammten Vertrag unterschreibt.«
»Aber der Blues Brother hat doch anständig und ehrlich gewonnen«, protestierte Janis.
Sanchez fand endlich seine Stimme wieder und platzte mit dem heraus, was er gesehen hatte. »Elvis! Die Zombies! Sie sind längst hier! In diesem verdammten Hotel!«
Elvis fuhr herum und starrte Sanchez an, dann schaute er auf seine Uhr. »Scheiße! Es ist drei Minuten vor eins.«
Sanchez deutete zur Bühne. »Wenn Jacko den Vertrag unterschreibt, dann bleiben die Zombies hier und bringen uns alle um, ja?«
Elvis nickte. »So hat Gabriel es beschrieben.«
»Aber wenn er nicht bis ein Uhr unterschreibt, dann fährt das ganze Hotel in die Hölle hinab und wir müssen alle sterben, ist es so?«
»Schon wieder richtig.«
»Warum sind wir dann noch hier?«
»Weil uns vielleicht gar nichts passiert, wenn Julius den Vertrag unterzeichnet.«
»Und was geschieht, wenn Julius seine Unterschrift daruntersetzt? Soweit ich mich erinnere, hat Gabriel sich über diese Möglichkeit nicht allzu erschöpfend geäußert.«
»Verdammt, Mann, du stellst wirklich Scheißfragen«, stellte Elvis genervt fest. »Ich bin mir nicht sicher, aber Julius ist der Einzige, der den Fluch bannen kann. Egal wie der verdammte Fluch aussehen mag.«
Janis betrachtete die beiden, als wären sie amtlich beglaubigte Irre. »Wovon zur – Scheiße, verdammt, Hurensöhne – Hölle verdammt noch mal, redet ihr beiden?«
»Wir haben keine Zeit, alles zu erklären«, sagte Elvis. »Wir müssen nur den Typen davon abhalten, dass er unterschreibt!«
»Zu spät«, sagte Janis leise und deutete zur Bühne.
Nigel Powell stand jetzt zusammen mit dem Blues Brother mitten auf der Bühne und musterte das Publikum. Powell hatte den tödlichen Vertrag in der Hand, Jacko einen Kugelschreiber. Bereit, eine Übereinkunft mit dem Teufel zu unterschreiben. Und ihm damit seine Seele zu verkaufen.
Jacko nahm seine Sonnenbrille ab und verstaute sie in der Brusttasche seines Jacketts. Dann streckte er die Hand aus und bekam ein Ende des Vertrags in die Hand. Er hielt den Schreibstift hoch und deutete an, dass er auf dem Vertrag nach einem geeigneten Platz für seine Unterschrift suchte.
Elvis schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Das konnte er unmöglich mit ansehen. »Der arme Teufel.« Er seufzte. »Er landet geradewegs in der Hölle.«
»Besser er als ich«, murmelte Sanchez. Sie beobachteten, wie Powell einen Blick auf seine Armbanduhr warf. Seine Augen verrieten, wie verzweifelt er darauf wartete, endlich Tinte auf dem Papier zu sehen. Es war ein Mordsvertrag, fast fünf Zentimeter dick. Jacko hätte keine Zeit mehr, ihn zu lesen. Unterschreib einfach, rief ihm anscheinend der ganze Saal zu. Während Jacko seinen Schreibstift auf das Papier setzte, um mit seiner Unterschrift sein Leben wegzuwerfen, standen Sanchez und Elvis reglos da und fragten sich, was geschehen würde. Und was sie tun sollten.
In diesem Moment hörte Sanchez hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich um und sah zwei Zombies aus dem Korridor herauskommen und am Fuß der Treppe vorbeirennen. Diese Scheißkerle sind gleich überall anzutreffen, dachte er. Er blickte wieder zur Bühne.
Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Julius aktiv wurde.
Von seinem Platz hinten auf der Bühne bei den Verlierern stürmte der Sänger im violetten Anzug auf Jacko und Powell zu. »STOPP!«, brüllte er. »Nicht unterschreiben!«
Er rannte an Nina Forina vorbei und stieß sie beinahe um. Als er ihn herankommen sah, versuchte Powell Jacko zur Eile zu drängen.
»Ignorieren Sie ihn. Schnell, unterschreiben Sie!«, trieb er ihn an.
irgendwo hoch oben im Zuschauerraum erklang das Klirren von berstendem Glas. Es war nicht so laut wie das Geräusch, das Sanchez kaum eine Minute zuvor gehört hatte, aber es erschreckte ihn mindestens genauso. Er blickte in die Richtung, aus der das Klirren zu ihm drang, und sah die Glasfront der Tontechnikerkabine zerspringen und wie eine Kaskade aus Eiskristallen auf das Publikum herabregnen.
Unten auf der Bühne packte Julius die Revers von Jackos Bühnenanzug und versuchte ihn wegzuziehen, ehe er den Vertrag unterschrieb. Er hatte für weniger als eine Sekunde eine Handvoll schwarzen Stoff im Griff, ehe ein Schuss ertönte.
BANG!
Sanchez verfolgte mit einem Ausdruck gelähmten Grauens, wie Julius’ Kopf explodierte. Ein akkurates Loch erschien in seiner Stirn. Den Bruchteil einer Sekunde später flog sein Hinterkopf weg, und eine Wolke aus Blut und Gehirnmasse bedeckte einen großen Teil der Bühne. Ein besonders unangenehmes Geräusch ertönte, als ein großer Brocken einer weichen, grauen Masse auf die Vorderseite von Nina Forinas silbernem Kleid klatschte. Rote Spritzer erreichten ihr Gesicht und sie schrie vor Schreck und Entsetzen laut auf. Die schrille Stimme war wie ein Auslöser für tausend andere Stimmen von entsetzten Zuschauern.
Sanchez blickte zuerst auf Julius’ leblosen Körper, während er auf den Bühnenboden stürzte. Er verursachte einen grässlichen dumpfen Laut, als er auf den Brettern aufschlug. Aus dem zerfetzten Kopf pulsierte Blut auf die Bühne und das, was vom Gesicht des Sängers noch übrig war. Seine Perücke, die durch den Schuss weggefegt worden war, lag in einer Blutpfütze und sog sich langsam voll. Für ein paar Sekunden starrten seine toten Augen quer über die Bühne Sanchez an, ehe sie sich nach oben rollten und nur noch das Weiße in den Augenhöhlen zu sehen war. Das ist heute etwa das fünfte verdammte Mal, dass so etwas passiert, dachte Sanchez völlig zusammenhanglos. Entsetzt und angstgeschüttelt blickte er zu dem Schützen in der Tonkabine. Da sein Kopf sich einigermaßen geklärt hatte, erkannte er in ihm den dunkel gekleideten Mann mit der Kapuze auf dem Kopf, deren Schatten sein Gesicht nahezu unkenntlich machte. Sanchez war ihm kurz vorher im Flur begegnet und hatte ihn dann in der Tontechnikerkabine gesehen, kurz bevor das Ergebnis des Wettbewerbs verkündet wurde. Diesen Kerl werde ich auch so schnell nicht vergessen, dachte er.
Er zerrte heftig an Elvis’ goldenem Jackett und deutete zu der Kabine hinauf. »Dieser Kerl da oben hat Julius gerade erschossen!«
»Ja? Ohne Scheiß, Sherlock?«
»Meinst du, er ist tot?«
»Wenn ich mir ansehe, wie sein Gehirn über die verdammte Bühne verteilt ist, würde ich glatt sagen, dass er wirklich tot ist. Volltrottel.«
»Aber er ist der dreizehnte Apostel!«
Verständlicherweise schaute Janis immer noch verwirrt drein. »Was?«, fragte sie.
»Er war der dreizehnte Apostel«, verbesserte sich Sanchez und deutete auf Julius’ Leiche. »Er hätte uns als Einziger retten können, und jetzt ist er tot. Wir sind alle am Arsch!«
Janis runzelte die Stirn. »Red nicht so einen Scheiß. Dann wäre er ja mehr als zweitausend Jahre alt!«
»Ich bin durchaus bereit, das zu glauben«, sagte Sanchez.
»Wirklich? Aber er sieht aus wie dreißig. Höchstens fünfunddreißig.«
»Nun, das wird er auch sein, oder? Er ist schließlich ein Apostel.«
Janis begriff es offensichtlich nicht. »Kriegen Apostel denn gratis Anti-Falten-Creme aus der Drogerie?«
»Durchaus möglich.« Sanchez hatte nicht die geringste Vorstellung, wohin das Gespräch führen sollte.
»Dann ist es eigentlich schade, dass er nicht auch gleich noch irgendein Pflegemittel für seine Haare mitgenommen hat.«
Sanchez schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wenn sie nicht gerade ihn oder jemand anders beschimpfte, konnte Janis ziemlich sarkastisch sein. »Sieh mal«, versuchte er es erneut, »wir erfuhren das alles von einem Typen, der sich in diesen Dingen auskennt. War es nicht so?« Er sah Hilfe suchend zu Elvis.
»Ja. Aber ich weiß nicht, Mann. Vielleicht war das alles gequirlte Scheiße.«
»Aber Gabriel hat es geglaubt.«
»Ja, aber er hätte auch geglaubt, dass Joan Rivers gerade einundzwanzig ist, wenn man ihm so etwas erzählt hätte.«
Plötzlich machte sich Sanchez große Sorgen. Und er bekam es mit der Angst zu tun. War Gabriel von Julius ausgetrickst worden? »Also gibt es nun einen dreizehnten Apostel oder gibt es ihn nicht?«, dachte er laut.
»Das bezweifle ich«, sagte Janis. »Allerdings habe ich schon mal von so einem gelesen. Ich glaube, er ist irgendwo in Afrika begraben.«
»Vielleicht ist das dieser Kerl?«, sagte Elvis und deutete auf Jacko, der soeben seinen Namen auf den Vertrag gesetzt hatte, den Powell ihm unter die Nase hielt.
Mittlerweile wurde es auch schwieriger zu verstehen, was geredet wurde. Der größte Teil der Zuschauermenge war in lautes Geschrei ausgebrochen. So gut wie jeder auf der Bühne, außer Powell und Jacko, rannte kreischend herum, als er Julius’ Leiche sah oder sich vorstellte, dass der Schütze oben in der Glaskabine jeden Moment wieder feuern konnte. Und diesmal auf ihn.
Dann, als die Zuschauer aus dem Saal zu fliehen begannen, stellten sie fest, dass es etwas Neues gab, das sie zu weiteren Schreien animierte. Es gab keinen Ausweg. Durch alle Ausgänge strömten Zombies herein. Und versperrten jeden möglichen Fluchtweg.
Und das Blutbad hatte noch gar nicht richtig begonnen.