EINUNDVIERZIG ♦
Emily war beängstigend dicht davor gewesen, es nicht rechtzeitig auf die Bühne zu schaffen. Sie musste dem Bourbon Kid dankbar sein, vermutete sie. Er hatte ihr schließlich das Leben gerettet. (Na schön, Gabriels Waffe war nicht geladen gewesen. Aber er hätte sie damit totschlagen können. Oder sie erwürgen können. Oder … Wenn nötig, fand Emily für alles ein überzeugendes Argument.) Und er hatte sie nicht getötet, weil sie sich ihm ganz offen widersetzt hatte. Als er in seine Jacke gegriffen hatte, war sie fast sicher gewesen, dass er eine Pistole herausholen würde. Stattdessen hatte er plötzlich eine Schachtel Zigaretten in der Hand gehabt. Wahrscheinlich war er fähig, jemanden mit einer Zigarette umzubringen, hatte es jedoch in ihrem Fall nicht getan. Was sie unendlich erleichterte. Egal wie man es betrachtete, er war dafür berüchtigt, Menschen aus ziemlich trivialen Anlässen zu töten. Wegen nichts, zum Beispiel.
Während sie auf der Bühne stand und über all das nachdachte, was geschehen war, wurde ihr bewusst, dass Julius sie anstarrte. Sie schaute zu ihm hinüber, nickte ihm zu und lächelte unsicher. Er musterte sie neugierig, ehe er sich mit einem knappen und heuchlerischen Lächeln revanchierte. Wenn das, was der Kid ihr erzählt hatte, zutraf, dann hatte Julius erwartet, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Kein Wunder, dass er sie so seltsam ansah. Emily fröstelte. Sie fühlte sich nicht sicher. Es gab nur eine Person, die ihr helfen konnte. Nigel Powell.
Während nach Bekanntgabe der Finalteilnehmer alle die Bühne verließen, ging Emily zögernd zum Jurytisch. Eine zwanzigminütige Pause war angesagt worden. Zahlreiche Zuschauer hatten sich von ihren Sitzplätzen erhoben und waren hinausgegangen, um sich die Beine zu vertreten. Powells Kolleginnen, Lucinda und Candy, hatte ebenfalls ihre Plätze verlassen und waren verschwunden, wodurch sich für Emily die perfekte Gelegenheit für ein vertrauliches Gespräch mit Powell ergab.
Er lächelte sie an, als er sie auf sich zukommen sah. »Hallo, Emily«, sagte er und kam auf die Füße. Man konnte über Nigel Powell sagen, was man wollte, aber er hatte gute Manieren. Wenn es ihm dienlich war. »Ich dachte schon für eine Minute, dass Sie es nicht schaffen würden. Das war ziemlich knapp. Nicht wahr?«
»Ja. Das tut mir schrecklich leid. Eigentlich muss ich mit Ihnen darüber reden. Können wir uns kurz unterhalten?«
»Na klar. Setzen Sie sich.« Er deutete auf den Stuhl rechts neben ihm und setzte sich, nachdem sie Platz genommen hatte, ebenfalls. »Was kann ich für Sie tun?«
Emily rutschte auf dem Stuhl hin und her; er war noch warm. »Ich habe Kopfschmerzen.«
»Das tut mir leid. Soll ich Ihnen Schmerztabletten besorgen?«
»Jemand hat mir mit einer Pistole eins über den Schädel gegeben.« Sie wusste, dass dies eigentlich nicht ganz den Tatsachen entsprach. Aber es war kürzer, als jede Einzelheit zu schildern.
»Was meinen Sie?«
»Eine Pistole. Ein Mann ist in das Zimmer eingebrochen, in das Sie mich haben umziehen lassen. Er erschoss Ihre beiden Wachmänner und versuchte anschließend, mich zu töten.«
Powells Miene spiegelte seinen tiefen Schock wider. »O mein Gott. Fangen Sie ganz von vorne an. Wer hat versucht, Sie zu töten?«
»Er war so ein Motorradrocker namens Gabriel. Kahl rasierter Schädel und Arme wie Baumstämme.«
»Heiliger Jesus. Wo ist er jetzt?«
»Er ist tot. Seine Leiche liegt immer noch im Zimmer zusammen mit den beiden Wachmännern.«
»Er ist tot? Wer hat ihn getötet? Sie etwa?«
»Nein. Ein Typ, der der Bourbon Kid genannt wird. Er hat mich gerettet. Aus Gründen jedoch, die für mich herzlich wenig Sinn ergeben.«
»Der Bourbon Kid hat Sie gerettet?«
»Ja. Und wenn es nach ihm geht, dann hat Julius, das James-Brown-Double, diesen Gabriel dafür bezahlt, dass er mich umbringt. Offensichtlich sind die anderen drei Finalisten – die ursprünglichen Finalteilnehmer, meine ich – ebenfalls tot. Wussten Sie etwas davon?«
Powell nickte, machte sich jedoch nicht die Mühe zu erklären, inwieweit er über alles informiert war. »Julius, hm?«, überlegte er. »Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Er hatte so etwas an sich, das mir schon beim ersten Mal, als wir uns kennenlernten, aufgefallen ist.«
»Demnach glauben Sie, dass es zutrifft? Dass er versucht hat, all die anderen Finalteilnehmer zu töten?«
Er nickte abermals. »Ja, das tue ich.« Für einen Moment senkte er gedankenverloren den Blick. Dann wandte er sich wieder direkt an sie und sagte auf seine weltmännische Art: »Danke, dass Sie hergekommen sind und mir das alles erzählt haben. Ich lasse ihn sofort aus dem Wettbewerb entfernen.«
»Rufen Sie auch die Polizei?«
»Natürlich. Damit sollen sich die zuständigen Behörden befassen. Sie werden ihn ins Gefängnis stecken. Und, so denke ich, den Schlüssel wegwerfen.«
Emily atmete erleichtert auf. »Vielen Dank. Ich hatte wirklich Hemmungen, Ihnen all das zu erzählen.«
»Kein Problem.« Powell stand auf. »Gehen Sie und mischen Sie sich unter die anderen Finalteilnehmer. Reden Sie mit niemandem über das, was Sie mir gerade erzählt haben, und achten Sie darauf, dass Sie nicht von der Herde getrennt werden. Sehen Sie zu, dass Sie sich immer in Gruppen aufhalten. Ich werde Julius und jeden anderen, den er vielleicht engagiert hat, um diesen Wettbewerb zu manipulieren, loswerden. Denken Sie nur an ihre Gesangsnummer. Denn wenn er nicht mehr auftritt, haben Sie den Sieg so gut wie in der Tasche.«
»Deshalb habe ich Ihnen das alles aber nicht erzählt«, wehrte Emily sich.
»Ich weiß. Und jetzt gehen Sie ruhig.« Er zwinkerte ihr zu. »Die Leute könnten sonst noch auf die Idee kommen, dass in der Show getrickst wird, wenn sie uns so intensiv miteinander sprechen sehen.«
»Vielen Dank.« Emily stand auf und schlug die Richtung zum hinteren Bühnenbereich ein. Sie konnte den Rücken von Freddie Mercurys gelber Jacke eine Treppe hinuntergehen sehen, daher rannte sie ihm nach. Sicherheit in Gesellschaft, sagte sie sich, solange ich mich nur von Julius fernhalte.
Nigel schaute ihr nach, wie sie die Bühne verließ, und dachte angestrengt über das nach, was sie ihm soeben anvertraut hatte. Demnach war Julius die Fliege in der Suppe, der Störenfried, der die ganze Show vor die Wand fahren wollte. Warum er das wollte, konnte Powell beim besten Willen nicht erkennen, aber das war auch nicht so wichtig.
James Brown, der Godfather of Soul, würde eliminiert, ehe er eine Chance hatte, im Finale aufzutreten.