DREIUNDVIERZIG

Da er wusste, dass eine Horde teilweise verwester untoter Kreaturen zum Hotel unterwegs war, setzte Nigel Powell alles daran, dass das Finale so bald wie möglich begann. Zuallererst und vor allem anderen musste er dafür sorgen, dass das Orchester wusste, welche Songs die Teilnehmer am Finale singen würden. Unter den Musikern war Widerspruch laut geworden, aber Powell hatte weder Zeit noch Lust, darauf einzugehen, und hatte unmissverständlich klargemacht, dass eine Diskussion über die Auswahl der Songs nicht in Frage komme. So wie die Dinge zurzeit stünden, werde das Orchester lediglich die Titel für Judy Garland und James Brown spielen.

Das Ganze entwickelte sich zum stressigsten Tag des Jahres. Die Back-From-The-Dead-Show war jedes Mal ein nervenzermürbendes Ereignis, aber dieses Jahr war sie von Anfang an ein einziges Desaster, und jetzt versuchte der Godfather of Soul, so viele Finalisten auszuschalten, wie er konnte. Bislang hatte Powell noch keine Idee, wie er es anstellen sollte, dass dieser mordlustige kleine Wichser es nicht bis ins Finale schaffte.

Nachdem er die Musikauswahl und einige andere dringenden Angelegenheiten geregelt hatte, kehrte er auf die Bühne zurück und gab dem Bühnenhelfer, der für die Bedienung des Vorhangs zuständig war, mit einem Kopfnicken ein Zeichen. Der Titel »Live and Let Die« von Paul McCartney wurde gespielt, aber auf ein Zeichen in Richtung des DJ wurde die Musik ausgeblendet. Sobald im Zuschauerraum Ruhe eingekehrt war, glitt der Vorhang auf, und Powell erschien unter dem begeisterten Applaus des Publikums auf der Bühne. Ohne sich so lange wie sonst üblich von den Zuschauern feiern zu lassen, ging er schnell hinüber zu seinem Platz am Jurorentisch zwischen Lucinda und Candy, die geduldig auf seine Rückkehr gewartet hatten. Während er sich hinsetzte, lehnte er sich ein wenig zur Seite und flüsterte Lucinda etwas ins Ohr.

»Ich kann es kaum erwarten, das Ganze für ein Jahr endlich wieder hinter mich zu bringen. Dieses Jahr kann man die Show wirklich vergessen.«

»Sie sagen es«, pflichtete sie ihm murmelnd bei.

»Wenigstens kann es nicht noch schlimmer werden.«

»Oh, das kann es.«

»Das bezweifle ich«, sagte Powell halblaut. Er hatte Mühe zu verbergen, wie sehr dieses Ereignis ihn mitgenommen hatte. »Wenigstens ist das Theater fast vorbei.«

Lucinda schüttelte den Kopf, als missbillige sie etwas, das er gesagt hatte. Ehe er Gelegenheit hatte sich zu erkundigen, was sie damit meinte, erschien sein Gesicht auf dem großen Monitor über dem hinteren Teil der Bühne, und er verzichtete auf seine Frage.

Als sich der Applaus gelegt hatte, trat Nina Forina in den Scheinwerferkegel in der Bühnenmitte.

»Ladys und Gentlemen – lassen Sie uns mit dem Finale beginnen!«, rief sie, wobei ihre Begeisterung nicht gespielt war. Die Zuschauer klatschten Beifall, stießen laute Pfiffe aus, stampften mit den Füßen und erwiderten ihre Begrüßung. Nachdem sie die Menge für einige weitere Sekunden auf die Folter gespannt hatte, machte sie endlich die Ansage, auf die alle gewartet hatten. »Ihr seid ein tolles Publikum«, rief sie. »Daher bitte ich um eine Runde Applaus für unseren ersten Finalteilnehmer mit dem Titel ›Piece of My Heart‹ … Hier ist Janis Joplin

Während der Beifall wieder aufbrandete und Nina aus dem Scheinwerferlicht trat, erschien das Janis-Joplin-Double an der Bühnenseite. Schüchtern ging sie in ihrem giftgrünen Kleid und den weißen Turnschuhen zur Bühnenmitte. Dort blieb sie stehen und wartete im Scheinwerferlicht darauf, dass der DJ im Tonstudio die Begleitmusik für ihren Song auflegte.

Eine kurze Pause entstand, dann war ein Schlagzeug zu hören, gefolgt von einer Gitarre, die die ersten Takte des Titels spielte. Die Sängerin begann mit den Schultern und den Hüften zu wackeln. Ihre Bewegungen erfolgten nicht im Takt der Musik und als sie zu singen begann, wurde offenbar, weshalb. Ihre Stimme klang tief und war voller Aggression, als sie die ersten Textzeilen regelrecht hinausschrie.

»Didn’t I fuckin’ make you feel like you were the only fuckin’ muthafucker, yeah?

An’ didn’t I fuckin’ gave you everythin’ that a whore really could, you fuckin’ asshole?

Honey, you fuckin’ know I did!«

Das Publikum lachte und applaudierte. Die wütenden Flüche verdarben den Titel für einige zuhörer und werteten ihn für andere auf. Da er ihren ersten Auftritt nicht mitbekommen hatte, wurde Nigel Powell als Einziger von ihrer Darbietung überrascht. Er lehnte sich zu Lucinda hinüber und flüsterte ihr ins Ohr:»Was passiert hier gerade?«

»Wir haben versucht, es Ihnen irgendwie zu sagen.«

»Was wollten Sie mir sagen?«

»Sie leidet unter dem Tourette-Syndrom.«

Powell begann, sich verzweifelt die Stirn zu massieren. »Wie toll. Das ist einzigartig. Natürlich hat sie es. Warum auch nicht? Ich meine – wenn man unter Tourette leidet und es ist derart schlimm, dann ist es das Natürlichste von der Welt, dass man an einem Gesangswettbewerb teilnimmt, nicht wahr?«

»Es wird offenbar schlimmer, wenn sie singt.«

»Sie wollen mich wohl verarschen, oder?«

»Pssst«, schnappte Lucinda. »Jetzt kommt sie zum Refrain. Das ist die beste Stelle.«

Powell presste demonstrativ die Hände auf die Ohren, sodass niemand im Publikum daran zweifeln konnte, dass er die Darbietung abstoßend fand. Während der nächsten Minuten schändete das wahrscheinlich schlechteste Double Janis Joplins aller Zeiten den Titel »Piece of My Heart« und ließ ihn unter einer Flut heftigster Obszönitäten untergehen.

Als endlich der letzte Ton verklungen war, stand sie schüchtern im Scheinwerferlicht und wartete auf die Kommentare der Jury. Diese fielen ziemlich gemischt aus.

»Mir hat es gefallen«, sagte Lucinda begeistert. »Aber es wäre eine Schande, wenn du gewinnen würdest, Schätzchen, denn die anderen sind durch die Bank besser als du.«

Das Positivste, das Candy sich ausdenken konnte, war: »Nettes Kostüm, grässlicher Gesang!«

Powell war schonungslos. »Du bist zum Kotzen«, sagte er. »Du bist eine einzige Schande und ich habe keine Ahnung, wie oder weshalb wir dich ins Finale gelassen haben. Bitte verschwinde von der Bühne.«

Er hatte natürlich völlig Recht. Nun da die unter dem Tourette-Syndrom leidende Sängerin im Finale aufgetreten war, musste er damit rechnen, dass ein großer Teil des Publikums für sie stimmte, weil sie es auf ihre eigene Art bestens unterhalten hatte, wenn auch nicht mit ihrem Gesang. Das war nur ein weiterer Punkt auf der ständig wachsenden Liste ärgerlicher Irritationen. An der Spitze dieser Liste stand Julius.

In der Pause, die auf die niedergeschlagene Janis-Joplin-Imitatorin folgte, während sie von der Bühne trottete, entdeckte Powell auf der Bühnenseite einen seiner Wachmänner, der sich bemühte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Es war Sandy. Der Hotelbesitzer nickte ihm zu und dachte dabei düster: Er weiß, was getan werden muss.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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