NEUNUNDDREISSIG ♦
Emily schlug die Augen auf. Sie sah alles verschwommen und ihre Augen brannten. Außerdem war da ein schmerzhaftes Pochen vorne an ihrer Stirn. Sie lag in einem Bett und blickte zur Zimmerdecke. Sie konnte getrocknete Tränen auf ihrem Gesicht spüren, aber sie konnte sich nicht entsinnen, geweint zu haben, oder sich daran erinnern, weshalb ihr Kopf schmerzte. Sie griff sich mit der Hand an die Stirn und fragte sich, ob sie wirklich so stark angeschwollen war, wie sie sich anfühlte.
Irgendwo in ihrer Nähe erklang eine Stimme so rau wie Rollsplitt. »Wie geht es Ihnen?«
Der Laut erschreckte sie, und sie setzte sich kerzengerade auf. Das bereute sie sofort. Das Pochen in ihrem Kopf wurde intensiver. Am Ende des Bettes, in dem sie lag, saß ein Mann. Und soweit sie erkennen konnte, befand sie sich nicht mehr in dem Zimmer, in dem Nigel Powell sie untergebracht hatte. Sie ließ den Blick umherschweifen, um sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut zu machen. Die schnelle Augenbewegung verstärkte ihre Kopfschmerzen. Sie befand sich tatsächlich in einem anderen Hotelzimmer. Es ähnelte dem, das Nigel Powell ihr zugewiesen hatte, nur war dieses Zimmer ein wenig kleiner und darin stand ein Einzelbett anstatt eines Doppelbettes. Und der unheimliche Mann in Schwarz, der sich früher an diesem Tag ihr gegenüber so unverschämt verhalten hatte, saß am Fußende ihres Bettes.
»Wie geht es ihnen?«, wiederholte er seine Frage.
»Wer sind Sie? Wie komme ich hierher?«, fragte sie und fürchtete sich gleichzeitig vor der Antwort.
»Es sah so aus, als hätte jemand versucht, Sie zu töten«, erwiderte der Mann lakonisch.
Emily erinnerte sich schlagartig an den Moment, als sie plötzlich Gabriel, dem Biker, gegenüberstand. Sie entsann sich, ihn mit einem Dampfbügeleisen angegriffen und niedergeschlagen zu haben. Als Fluchtplan hatte es nicht so gut funktioniert, wie sie gehofft hatte. Dann hatte er sie zu Fall gebracht und zweimal ihren Kopf auf den Fußboden geschmettert. Danach war alles ein wenig verschwommen. Wie kam es, dass jetzt ausgerechnet dieser Mann bei ihr war? Und welche Absichten verfolgte er?
»Was ist passiert? Ich weiß noch, dass ich mit diesem Rockertypen gerungen habe …« Sie erinnerte sich, Gabriels Gesicht dicht neben ihr auf dem Teppich gesehen zu haben. Und daran, wie seine Augen sie für eine Sekunde blicklos angestarrt und sich dann verdreht hatten. »Was ist mit ihm geschehen? Ist er tot?«
»Ich habe ihm einen Kopfschuss verpasst. Also ja, höchstwahrscheinlich.«
»O mein Gott.«
Emily hielt nichts von Gewalt ungeachtet des Dampfbügeleisen-Vorfalls. Und sie hatte für Mord absolut nichts übrig. Im Augenblick jedoch konnte sie nur daran denken, wie unglaublich cool es war, neben einem Mann zu sitzen, der jemanden getötet hatte, nur um sie zu retten. So etwas geschah eigentlich nur im Kino.
»Das haben Sie für mich getan?«, platzte sie heraus. Die Schmerzen in ihrem Kopf machten sie noch immer ein wenig benommen. Anderenfalls hätte sie niemals auch nur für einen kurzen Moment ihre Selbstbeherrschung verloren und ihn wissen lassen, was sie dachte.
»Ja.«
Sobald sie das Wort ausgesprochen hatte, spürte sie, wie ihr Gesicht sich vor Verlegenheit rötete. Sie massierte ihre schmerzende Stirn und benutzte dabei die Hand, um ihre glühenden Wangen zu verbergen. Und um ihre Verwirrung zu kaschieren, stellte sie schnell weitere Fragen. »Aber wer sind Sie? Und warum haben Sie ihn getötet?«, wollte sie wissen.
»Haben Sie schon mal vom Bourbon Kid gehört?«
»Ja. Meinen Sie diesen Verrückten mit einem Alkoholproblem, der unschuldige Leute umbringt? Er ist ein völlig Irrer. Man sollte ihn einsperren und …« ihre Stimme versiegte. »Das sind Sie, nicht wahr?«, sagte sie leise.
»Ja.«
»Tut mir leid.«
»Im Allgemeinen brauche ich keinen besonderen Grund, um jemanden zu töten, aber als ich in Ihr Hotelzimmer kam, sah es so aus, als sei der Typ im Begriff, Sie umzubringen. Er zielte mit einer Pistole auf Ihren Kopf.«
»O mein Gott.« Emily erinnerte sich an das Gefühl, als Gabriel ihr seine Pistole gegen den Kopf gedrückt hatte. »Er wollte mich erschießen, nicht wahr?«
»Nein. Das wollte er nicht.«
»Hä?«
»Seine Waffe war nicht geladen. Offenbar wollte er Ihnen nur ein wenig Angst machen.«
Emily presste eine Hand auf ihren Mund. Gabriel war wohl doch nicht so übel gewesen. »O mein Gott, Sie müssen sich schrecklich fühlen, ihn getötet zu haben!«, rief sie aus.
»Nein. Ich hätte ihn sowieso erschossen.«
Emily musterte ihn irritiert. »Warum?«
»Weil es nicht schade um ihn ist.«
»Äh – nun – okay. Wer war er denn? Was hatte er hier zu suchen?«
»Er heißt Gabriel. War wohl so ’ne Art Prediger.«
»Ein Prediger? Warum sollte ein Mann Gottes so tun, als wollte er mich umbringen? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Die Wege des Herrn sind rätselhaft.« Emily starrte den Kid misstrauisch an. Machte er sich über sie lustig? Seine Miene war ausdruckslos.
»Also, nein so was.« Sie hatte Mühe, das Gehörte zu verarbeiten. Sie massierte erneut ihre Stirn. All dieses angestrengte Nachdenken verstärkte ihre Kopfschmerzen. Aber da war noch etwas, worüber sie unbedingt Klarheit haben wollte. »Hören Sie, wenn ich mich nicht irre, waren Sie, als wir zusammentrafen, nicht besonders freundlich zu mir, daher würde ich gerne verstehen, weshalb Sie mich vor diesem Prediger mit der Pistole beschützt haben.«
»Sie erinnern mich an jemanden. Jemanden, der mir mal sehr nahestand.«
»Eine Freundin?«
»So etwas Ähnliches.«
»Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie sitzt im Gefängnis. Wegen Mordes.«
»Hätte ich mir ja denken können.«
»Wie bitte?«
»Tut mir leid. So habe ich das nicht gemeint.«
Der Kid sah sie drohend an. »Diese Entschuldigung kam gerade noch zur rechten Zeit«, knurrte er.
»Das liegt an dem Schlag auf meinen Kopf. Ich wollte nicht respektlos ein.«
»Okay.« Er schien für einen Moment das Interesse zu verlieren. Dann redete er weiter, diesmal um einiges drängender. »Hören Sie, Sie müssen von hier verschwinden. Es gibt Leute, die verhindern wollen, dass Sie diesen Gesangswettbewerb gewinnen. Um das zu erreichen, würden sie Sie sogar töten.«
»Warum? Was geht hier vor? Dieser Rocker – Gabriel, sagten Sie, nicht wahr? – erzählte mir, dass drei von den anderen Sängern ermordet wurden. Aber Nigel Powell meinte, sie hätten eine Lebensmittelvergiftung oder so etwas. Was stimmt denn nun?«
»Sie sind tot.«
»Vergiftet?«
»Nein. Ich habe sie umgebracht.«
»Was? Sie haben Otis Redding, Kurt Cobain und Johnny Cash getötet?«
»Ja.«
»Und warum?«
»James Brown hat mir dafür eine Menge Geld geboten.«
Emily war wie vom Donner gerührt. »Julius? Weshalb?«
»Er will gewinnen.«
Und abermals rieb sie sich die Stirn. Angesichts ihrer heftigen Kopfschmerzen hatte sie Mühe, diese neue und beängstigende Information zu verarbeiten.
»Es tut mir leid, aber ich bin wirklich verwirrt. Und meine Kopfschmerzen tragen auch nicht gerade dazu bei, dass ich klar denken kann.« Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren hatte. »O mein Gott, wurden die Finalisten schon bekannt gegeben? Wie lange war ich bewusstlos? Ich muss im Finale auftreten.«
Sie sprang aus dem Bett. Bei der plötzlichen Bewegung wurde ihr kurzzeitig schwarz vor Augen und sie verspürte einen Anflug von Übelkeit, daher ließ sie sich schnell auf die Bettkante sinken. Der Kid erhob sich und baute sich zwischen ihr und der Tür auf.
»Hören Sie gut zu, denn das ist äußerst wichtig«, sagte er. »Dieser Wettbewerb ist ein Witz. Nur leider keiner, über den man lachen kann.«
»Ich weiß.«
»Nein. Das tun Sie nicht. Sie wissen gar nichts. Also halten Sie den Mund und hören Sie zu. Anscheinend haben alle früheren Sieger dieser Show ihre Seelen an den Teufel verkauft, als sie Powells Vertrag unterschrieben. Und jetzt sind sie allesamt hirntote Zombies, die nicht mehr für sich selbst denken können. Ich wurde auf dem Parkplatz soeben von Buddy Holly und Dusty Springfield angegriffen, und die sahen aus, als moderten sie schon einige Zeit vor sich hin.«
Eine längere Pause entstand, als Emily darauf wartete, dass der Kid weitere Erklärungen zu seiner bizarren Behauptung lieferte. Er tat es nicht.
»Wovon reden Sie? Sind Sie auf Drogen?«, platzte sie schließlich heraus.
»Nein. Treten Sie nur nicht beim Finale auf. Sie müssen sofort von hier verschwinden. Ich haue auch ab. Wollen Sie mitfahren? Ich bringe Sie in die nächste Stadt. Im Augenblick ist das hier nicht gerade der sicherste Ort auf dieser Welt. Hier wimmelt es nämlich von Untoten.«
Sein Gerede brachte Emily allmählich in Rage. »Untote? Tut mir leid, aber nichts von dem, was Sie erzählen, ergibt irgendeinen Sinn«, sagte sie pikiert. »Und ich will nicht unhöflich sein, aber Sie sind ein allseits bekannter Psychopath, und wenn Sie ständig von Untoten und Verträgen mit dem Teufel reden, sehe ich darin eher ein Zeichen für Ihre – hm – mentalen Probleme, um es vorsichtig auszudrücken.«
Wenn sie gehofft hatte, ihn damit zu provozieren, wurde sie enttäuscht. »Sorgen Sie nur dafür, dass Sie diesen Wettbewerb nicht gewinnen, okay?«, sagte er und seine Stimme klang rauer als je zuvor.
»Sehen Sie, es tut mir aufrichtig leid, wirklich. Und ich danke Ihnen für Ihre Fürsorge. Aber es ist mein Traum, eine professionelle Sängerin zu sein, vor allem an einem Ort wie diesem. Und die eine Million Dollar Preisgeld würde mein Leben von Grund auf verändern. Dafür habe ich mein ganzes Leben lang gearbeitet. Es ist für mich und meine Mom. Sie soll wissen, dass alles, was wir getan haben, die Mühe wert war. Sie ist krank. Meine Mutter, meine ich.« Sie hörte, wie ihre Stimme lauter wurde, aber sie fuhr trotzdem fort. »Sie hat nur noch ein paar Monate zu leben und ich will ihre letzten Tage zu etwas Besonderem machen. Im Augenblick besitzen wir nichts mehr und mit diesem Geld könnte ich ihr die Pflege verschaffen, die sie verdient hat. Und sie würde erfahren, dass ich endlich in ihre Fußstapfen trete. Ich bin nicht hierhergekommen, um alles einfach wegzuwerfen, nur weil Sie glauben, dass hier irgendwelche Gespenster ihr Unwesen treiben.«
»Dann gewinnen Sie von mir aus den Wettbewerb, aber unterschreiben Sie auf keinen Fall den Vertrag.«
»Nein.«
»Was?«
Emily schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn Ihre Mutter dem Tod geweiht wäre, aber Sie hätten die Chance, ihr Leben noch ein wenig zu verlängern, würden Sie dann nicht alles für sie tun, was in Ihrer Macht steht?«
»Ich habe meine Mutter getötet.«
»Oh.« Für einen Moment war sie zu betroffen, um ein Wort hervorzubringen. Dann redete sie verzweifelt weiter, um ihre Situation zu erklären. »Aber –«
»Kehren. Sie. Nach. Hause. Zurück. Ihre Mutter wird das verstehen.«
In Emily schien irgendetwas zu zerbrechen. »Ja, sie wird mich ganz bestimmt verstehen, während sie in ihrem armseligen Pflegeheim liegt und ihre letzten Atemzüge macht. Und ich kann ihr sagen: ›Ja, tut mir leid, Mom, aber ich habe die Chance, dir zu einer besseren Pflege zu verhelfen, in den Wind geschlagen, weil ein verrückter Säufer mir erzählt hat, ich würde meine Seele dem Teufel vermachen, wenn ich beim Wettbewerb siege.‹«
Der Kid schien von ihrem beißenden Sarkasmus nicht berührt zu werden. »Sie wissen, dass die Show manipuliert wurde«, erwiderte er. »Sie wurden insgeheim gezielt für das Finale ausgewählt. Spielen Sie mir jetzt bloß nicht die Hochmoralische vor.«
Emily hob eine Augenbraue. »Oh, das tut mir aber leid. Wollen Sie mir etwa einen Vortrag über Moral halten?«
»Ja, das will ich.«
»Nun, das ist schon ein starkes Stück. Ich meine, dass es ausgerechnet von Ihnen kommt. Haben Sie Nachsicht mit mir, wenn ich nicht glaube, dass Sie die ideale Besetzung für jemanden sind, der über andere Menschen zu Gericht sitzt.« Ihre Stimme wurde weicher. »Sehen Sie, ich bin Ihnen dafür dankbar, dass Sie vielleicht mein Leben gerettet haben und was sonst noch alles, aber ich muss diese Show gewinnen. Das bedeutet alles für mich. Deshalb tut es mir leid, aber ich werde im Finale singen. Davon können Sie mich nur abhalten, wenn Sie mich töten. Also treffen Sie Ihre Wahl. Entweder lassen Sie mich aus diesem Zimmer raus oder ziehen Sie Ihre Pistole und erschießen Sie mich. Ich habe keine Angst zu sterben, müssen Sie wissen.«
»Doch, die haben Sie.«
»Habe ich nicht. Ich habe noch nie Angst davor gehabt, für etwas zu sterben, woran ich glaube.«
Der Bourbon Kid griff mit einer Hand in seine Jacke. »Okay. Dann lassen Sie mir keine andere Wahl.«