DREIUNDDREISSIG

Emily war seit fast zwanzig Minuten alleine in der Garderobe. Alle fünf Finalisten hätten sich dort nach ihren Auftritten treffen sollen. Die anderen vier waren nicht erschienen, und sie machte sich zunehmend Sorgen, wo sie abgeblieben sein könnten. Hatte es irgendeine Änderung des Zeitplans gegeben, von der sie nichts wusste? Wahrscheinlich nicht, aber sie wollte nicht zu lange alleine bleiben.

War es möglich, dass die anderen vier Konkurrenten entschieden hatten, etwas trinken zu gehen und sie nicht dazu einzuladen? Mochten sie sie nicht? Roch sie schlecht? Schlechter als Kurt Cobain? Das war unwahrscheinlich, aber alle möglichen Theorien gingen ihr durch den Kopf, und alle machten sie ein wenig paranoid. Sie sollte lieber an etwas anderes denken, wie zum Beispiel daran, ob sie wirklich alles unternahm, um den Wettbewerb zu gewinnen.

Während sie am Schminktisch saß, betrachtete sie im Spiegel ihr Ebenbild. Sollte sie für das Finale etwas an ihrer Frisur verändern? Oder bei den Zöpfchen bleiben, die die echte Judy Garland im Kinofilm Der Zauberer von Oz getragen hatte? Ihre Mutter hatte immer darauf hingewiesen, dass die Frisur, die man trug, das wichtigste Detail war und gerne von anderen Tribute-Künstlern vernachlässigt wurde. Sie ließ sich diesen und verschiedene andere Punkte durch den Kopf gehen, als an der Garderobentür geklopft wurde.

»Miss Shannon? Sind Sie da?«, rief eine männliche Stimme von draußen. Sie erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte Nigel Powell.

»Ich komme«, antwortete sie.

Sie stand auf und öffnete die Tür. Powell stand davor, flankiert von zwei Angehörigen seines Sicherheitsteams. Emily lächelte nervös und trat zur Seite, damit sie hereinkommen konnten. Die beiden Wachmänner machten keinerlei Anstalten einzutreten, aber Powell trat vor, ohne auf eine ausdrückliche Einladung zu warten. Er trug noch immer seinen weißen Anzug mit dem schwarzen Oberhemd. Sein Haar war perfekt geordnet, aber irgendetwas fehlte. Er sah keineswegs so gelassen aus wie sonst. Seine Miene verriet unmissverständlich, dass er besorgt war.

»Was ist los?«, fragte sie, während sie die Tür hinter ihm schloss.

»Drei der anderen Finalisten haben sich offenbar den Magen verdorben. Ich befürchte, dass jemand sie vergiftet hat.«

»Wie bitte?« Emily spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sofort überlegte sie, wann sie das letzte Mal gegessen hatte. Das war das Frühstück gewesen, und das hatte nur aus einem Brötchen und einer Tasse Kaffee bestanden. Seitdem war sie viel zu nervös gewesen, um etwas zu essen. »O mein Gott. Geht es ihnen gut? Wissen Sie, womit genau sie sich den Magen verdorben haben?«

Powell zupfte unbehaglich an seinem Hemdkragen. »Nein. Im Hotel treibt sich ein verdächtiger Besucher herum, der möglicherweise seine Hände im Spiel hatte. Wir suchen gerade nach ihm.«

Emily erinnerte sich an einige Vorfälle im Laufe dieses Tages. »Ich sah neben der Bühne einen Mann, der auf mich ziemlich unheimlich wirkte und die Show verfolgte. Er meinte, er wisse genau, dass sie manipuliert sei. Er war ganz in Schwarz gekleidet. War er das?«

»Durchaus möglich. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich bringe Sie irgendwo hin, wo Sie ganz sicher sind und wo er Ihnen nichts anhaben kann.«

Emily war nicht nur erleichtert, sondern auch ziemlich aufgeregt – obgleich sie das niemals offen zugegeben hätte –, dass drei ihrer schärfsten Rivalen aus dem Wettbewerb ausgeschieden waren.

»Welche drei wurden denn vergiftet?«, erkundigte sie sich.

»Es könnten sogar vier sein. Ich kann im Augenblick das James-Brown-Double nicht finden. Die anderen drei sind definitiv aus der Konkurrenz ausgeschieden.«

»Mein Gott. Die Armen«, sagte Emily und gab sich alle Mühe, aufrichtiges Mitgefühl zu demonstrieren.

»Das sind sie wirklich. Wie dem auch sei, seien Sie doch so nett und packen Ihre Sachen zusammen und kommen mit. Ein Page holt ihre Sachen aus Ihrem Zimmer. Und ich entschuldige mich natürlich für diese Unannehmlichkeit.« Er klang überhaupt nicht so, als täte es ihm leid. Dafür klang er jedoch zutiefst verwirrt.

Emily befolgte seine Anweisungen, sammelte ein paar persönliche Dinge vom Schminktisch ein und folgte Powell und den beiden Wachmännern in den Fahrstuhl und wenig später von dort zu einem Zimmer im neunten Stock. Sie gingen sehr schnell, und an der Art und Weise, wie sie jeden misstrauisch musterten, an dem sie vorbeieilten, war die Dringlichkeit ihres Vorhabens deutlich zu erkennen. Zimmer 904 war ein geräumiges, komfortables Doppelzimmer. Emily ließ sich auf dem großen Doppelbett in der Mitte des Zimmers nieder und wartete auf weitere Instruktionen Powells. Anfangs blieb Powell draußen auf dem Korridor und unterhielt sich flüsternd mit seinen Sicherheitswachmännern. Emily begutachtete ihre neue Umgebung und entschied, dass sie erheblich besser war als die schmuddelige Garderobe, die sie sich mit ihren vier männlichen Konkurrenten geteilt hatte, oder das Einzelzimmer, das ihr für die Dauer des Wettbewerbs zur Verfügung gestellt worden war. Sie war noch immer damit beschäftigt, sich über die Größe ihres neuen Zimmers zu freuen, als Powell hereinkam.

»ich habe zwei meiner Leute als Wache auf dem Flur aufgestellt«, sagte er. »Sie lassen niemanden außer mir ins Zimmer. Das heißt aber auch, dass Sie das Zimmer erst verlassen dürfen, wenn die Wachleute Ihnen ihr Okay geben. Sobald die Finalisten bekannt gegeben werden, begleiten die Männer Sie nach unten in den Konzertsaal.«

»Okay.«

»Geht es Ihnen gut, Miss Shannon?«

»Oh ja, danke – äh – Nigel.« Dies war das erste Mal, dass sie seinen Vornamen benutzte, und sie fragte sich, ob sie sich diese Freiheit herausnehmen durfte. Schließlich war er ein sehr mächtiger Mann.

»Gut. Ich muss mir nämlich jetzt überlegen, wer die neuen Finalisten sein sollen, und dann können wir weitermachen.« Er beugte sich vor und tätschelte Emilys nackten linken Arm. In seinen Augen war ein Leuchten, das ihr Unbehagen bereitete. War er bis zu diesem Moment stets kompetent und absolut gentlemanlike aufgetreten, erschien er ihr plötzlich irgendwie unheimlich und wenig vertrauenerweckend. Er zwinkerte ihr zu, dann fixierte er sie mit seinen hypnotischen blauen Augen.

»Ich glaube, Sie haben eine Riesenchance, diesen Gesangswettbewerb zu gewinnen, Emily. Bisher führen Sie die Konkurrenz an. Ich habe so ein Gefühl, als würden wir beide uns in Zukunft noch sehr oft sehen. Also, wenn Sie Ihre Stimme nicht verlieren oder« – er gab ein überraschend schrilles Kichern von sich – »nicht von einem Blitz getroffen werden, sollten Sie sich innerlich darauf vorbereiten, für eine ganze Weile hierzubleiben.«

Er hörte auf, ihren Arm zu streicheln, und trat zurück. Der Gedanke, vielleicht den Wettbewerb zu gewinnen, versetzte sie in einen Zustand freudiger Erregung, aber sie fühlte sich gleichzeitig durch die zudringliche Art Nigel Powells abgestoßen. Sie nahm es hin. Im Grunde genommen hatte er wahrscheinlich gar nicht zudringlich sein wollen. Er hatte nur versucht, sie zu beruhigen, oder? Schließlich verließ er ihr neues Zimmer mit einem freundlichen »Wir sehen uns dann beim Finale« und schloss die Tür hinter sich.

Allmählich dämmerte ihr, dass sie jetzt tatsächlich hervorragende Chancen hatte, die Konkurrenz zu gewinnen. Trotz ihrer natürlichen zurückhaltung malte sie sich bereits die freudige Miene ihrer kranken Mutter aus, wenn sie als Siegerin mit einem Scheck über eine Million Dollar nach Hause zurückkehrte. Mit dem Geld ließe sich die Pflege bezahlen, die ihre Mutter so dringend brauchte, und es war jetzt in Reichweite. Im Grunde brauchte sie nur zuzugreifen.

Nachdem Powell sich verabschiedet hatte, öffneten die beiden Wachmänner die Tür mit einem Hauptschlüssel und warfen einen Blick ins Zimmer. Sie nickten Emily zu, als wollten sie ihr noch einmal bestätigen, dass sie draußen die Augen offen hielten. Die beiden waren ziemlich stämmige Rausschmeißertypen und sie fühlte sich in ihrer Obhut einigermaßen sicher. Und angesichts der Tatsache, dass ihre schärfsten Rivalen quasi das Feld geräumt hatten, betrachtete sie ihre Siegeschancen zunehmend optimistischer. Sie hatte den Wunsch, mit ihrer Mutter zu telefonieren und ihr zu berichten, wie der Wettbewerb lief, aber sie fand die Vorstellung, sie mit dem Siegerscheck zu überraschen, mindestens genauso reizvoll. Und mit einem fetten Showvertrag für das Hotel Pasadena.

Für eine halbe Stunde saß sie auf dem Doppelbett mitten im Zimmer. Es gab kein Fernsehen und kein Radio. Dass das Hotel Pasadena ein seltsamer Ort war, stand außer Zweifel. Ohne Fernsehen oder Radio war es unmöglich, auf dem Laufenden zu bleiben, was das Weltgeschehen betraf. Der Iran hätte Rhode Island längst mit einer Atombombe dem Erdboden gleichmachen können, ohne dass sie die geringste Ahnung hatte.

Da sie nichts anderes zu tun hatte, als dazusitzen und über ihre Lage nachzudenken, ließ Emily sich einige Punkte ein wenig intensiver durch den Kopf gehen. Sie hatte keine Möglichkeit, mit ihrer Mutter Verbindung aufzunehmen, um ihr zu schildern, wie erfolgreich sie sich in dem Wettbewerb behauptete. Was wäre, wenn sie ihre Mutter anrufen wollte, um sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen? Sie hatte absolut keine Möglichkeit, mit jemandem außerhalb des Devil’s Graveyard Kontakt aufzunehmen. Die Telefone im Hotel konnten nur für interne Gespräche genutzt werden und Mobiltelefone hatten keinerlei Netzverbindung und waren daher genauso nutzlos. Es war wirklich unheimlich. Dann, als sie an die drei anderen Sänger dachte, die sich angeblich den Magen verdorben hatten, gingen ihr einige beunruhigende Fragen durch den Kopf. Wie, zum Beispiel, ein Krankenwagen oder die Polizei in einem Notfall diesen Ort erreichen könnten. Wie konnte man sie alarmieren? Falls auch sie vergiftet worden war, würden sie rechtzeitig eintreffen, um ihr zu helfen?

Dann kam ihr ein weitaus ernsterer Gedanke. Etwas, woran sie schon viel früher hätte denken sollen. Warum hatte Nigel Powell sie in einem anderen Zimmer untergebracht? Er hatte gesagt, es geschehe zu ihrer eigenen Sicherheit. Sicherheit vor was? Einer Lebensmittelvergiftung? In diesem Fall hätte es doch ausgereicht, sie davor zu warnen, irgendetwas zu essen. Ganz gewiss hätte sie nicht in ein anderes Zimmer umziehen müssen, wenn sie davon abgesehen hätte, Mahlzeiten beim Zimmerservice zu bestellen. Wenn es in dem Hotel vergiftete Speisen gab, dann würden sie sicher nicht bei ihr ankommen. Doch das könnte die Person schaffen, die die Speisen im Hotel vergiftete. War es möglich, dass Nigel Powell sie nicht ausreichend darüber informiert hatte, in was für einer großen Gefahr sie in Wirklichkeit schwebte? Und wenn das tatsächlich zutraf, warum hatte er ihr nichts davon gesagt?

Während sie am Fußende des Bettes saß, mittlerweile kerzengerade und mit einem Durcheinander paranoider Gedanken in ihrem Kopf, hörte sie vor dem Zimmer ein Geräusch. Einer der Wachmänner redete. Da die Tür geschlossen war, konnte sie unmöglich verstehen, was gesagt wurde. Seine Stimme wurde zu stark gedämpft.

Dann hörte sie einen seltsamen Laut wie von einem Autoreifen, der plötzlich sämtliche Luft verliert. Es klang ebenfalls gedämpft, aber Emily erkannte das Geräusch: Es war ein Schuss aus einer mit einem Schalldämpfer versehenen Pistole. Ein zweiter gedämpfter Schuss fiel, gefolgt von dem Geräusch zweier draußen zu Boden stürzender menschlicher Körper.

Emilys schlimmste Befürchtungen waren gerade dabei, sich zu bewahrheiten. Die vergifteten Lebensmittel waren nicht der wahre Grund, aus dem sie an diesen sicheren Ort mit zwei Wächtern vor der Tür gebracht worden war. Hier trieb ein Killer sein Unwesen.

Und er lauerte in diesem Moment draußen vor ihrer Zimmertür.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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