FÜNFZIG ♦
Sanchez atmete ziemlich heftig, während er zur Bühne zurückkehrte, um Elvis zu suchen. Seine Flucht vor Invincible Angus forderte ihren Tribut. Seine Lunge war nicht an die Anstrengung gewöhnt, die für eine Fortbewegung im Laufschritt nötig war, und seine Beine drohten jeden Moment nachzugeben. Normalerweise hätte er sich hinsetzen und erst einmal Luft holen müssen, nachdem er so viel Energie verbraucht hatte. Bei dieser Gelegenheit hielt ihn jedoch eine beträchtliche Menge Adrenalin auf Trab. Die Vorstellung, dass der Profikiller sich vielleicht längst den Weg aus der Kühlkammer freigeschossen haben könnte, beschleunigte seinen Herzschlag und seine Füße enorm.
Während er durch den Korridor eilte, der zum Garderobeneingang führte, entdeckte er die Judy-Garland-Imitatorin. Sie war in eine offenbar hitzige Unterhaltung mit einem zwielichtigen Typen in einer Lederjacke mit Kapuze vertieft. Ihre Diskussion endete, als Emily sich abwandte und zur Garderobe entfernte. Der Mann hingegen stürmte an Sanchez vorbei in Richtung Lobby. Er kam Sanchez irgendwie vertraut vor, aber Sanchez hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ob er ihn kannte oder nicht. Er war derart außer Atem, dass er seine Umwelt praktisch doppelt sah. Und er musste sich über wichtigere Dinge den Kopf zerbrechen als über irgendeinen Penner in einem Hotel, in dem es von solchen Erscheinungen wimmelte. Er bog nach links ab durch die Tür, die zur Bühne führte, und sah Emily die Treppe zur Bühnenseite hinaufsteigen.
»ist das Finale schon vorbei?«, fragte er atemlos, als er sie einholte.
Überrascht wandte sie sich um und lächelte ihn an. »Oh, hi. Noch nicht ganz. Der Blues Brother ist gerade fertig und ich bin als Nächste an der Reihe.«
»Super. Wie war unser guter alter Elvis?«
»Er war richtig gut. Ich denke, er hat eine gute Chance zu gewinnen.«
»Cool. Und was ist mit den anderen? Wie waren die?«
»Sie waren alle ganz gut.« Nach ihrer Auseinandersetzung mit dem Bourbon Kid hatte sie nicht mehr die Energie, sich ausführlich zu Janis Joplin zu äußern.
Was Sanchez eigentlich wissen wollte, war, ob Julius es geschafft hatte, am Finale teilzunehmen. Würde der dreizehnte Apostel siegen und sie alle retten?
»Und James Brown? Wie war dessen Auftritt?«
»Er war noch nicht auf der Bühne. Powell hat die Reihenfolge der Kandidaten in der letzten Minute geändert, sodass er nun als Letzter auftritt.«
»Wirklich? Warum die Änderung?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung. Aber es bedeutet, dass ich früher an der Reihe bin, was mir auch ganz lieb ist. Ich bin nämlich ziemlich nervös.«
Sanchez kam der vage Gedanke, dass er irgendetwas Aufmunterndes sagen müsste. Die Kleine war ganz okay, daher versuchte er, seine grundsätzlich abfällige Haltung zu unterdrücken und sich etwas auszudenken, das ihr Mut machte.
»Nun, viel Glück, wenn Sie da oben sind«, säuselte er mit einem matten Lächeln. »Sorgen Sie nur dafür, dass Sie dieses selbstgefällige Arschloch Freddie Mercury schlagen.«
Emily tippte Sanchez auf den Arm und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Vorhangs an der Bühnenseite. Dort, in Hörweite, stand Freddie Mercury. Es sah so aus, als hätte er nicht gehört, was Sanchez sagte, denn er lächelte sie an.
»Hey, Emily, beeil dich«, sagte Freddie. »Wir dachten schon, du würdest das Finale versäumen. Du bist in einer Minute dran, Mädchen.«
»Pssst«, sagte Emily und deutete zur Bühne.
Freddie Mercury drehte sich um und schaute in die Richtung, in die Emily zeigte. Sanchez blickte an ihm vorbei. Auf der Bühne stand Jacko vor der Jury. Lucinda gab als Erste ihr Urteil über seinen Auftritt ab.
»Also wirklich«, sagte sie. »Mann, das war wirklich ganz einmalig! So etwas habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen! Oh Boy, du bist ein Star!« Die Zuschauer hinter ihr unterstrichen lautstark ihr Lob.
Dann gab Candy ihr Urteil ab. »Wissen Sie, Mr. Blues Brother, das war brillant. Einfach klasse. Anfangs wusste ich nicht, was du vorhast, aber am Ende hast du den meiner Meinung nach besten Auftritt des Abends abgeliefert. Herzlichen Glückwunsch!«
Schließlich äußerte Nigel Powell von seinem angestammten Platz zwischen den beiden weiblichen Juroren seine ausschlaggebende Meinung.
»Ich muss betonen«, begann er herablassend, »dass ich anfangs ganz und gar nicht damit einverstanden war, dass du dich im letzten Augenblick für einen anderen Song entschieden hast.« Das Publikum begann sofort zu buhen, und Powell wedelte schnell mit den Händen, um die Zuschauer zu beruhigen. »Nein, Moment. Im Ernst«, fuhr er fort, »es ist gegenüber den anderen Kandidaten nicht fair, wenn du auf diese Art und Weise eigenmächtig die Regeln änderst. Und ich kann mich nicht erinnern, dass du um Erlaubnis gebeten hast, dich auf deiner Gitarre begleiten zu dürfen.« Der Protest im Zuschauerraum wurde lauter und aggressiver. Powell ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. »Aber«, sagte er und erhob die Stimme über den Lärm. »Ich muss zugeben – du warst hervorragend.« Die Buhrufe verwandelten sich augenblicklich in lauten Jubel und begeisterte Pfiffe. Oben auf dem großen Fernsehschirm sah Powell aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch er verzichtete darauf und winkte Jacko von der Bühne.
Der junge Sänger trat während Standing Ovations ab, die um einiges überwältigender waren als bei seinen Vorgängern. Er gelangte zur Bühnenseite und verschwand hinter dem Vorhang, wo er von Emily und Freddie Mercury erwartet wurde. Emily umarmte ihn begeistert und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Donnerwetter! Ich hoffe, ich bin nur halb so gut wie du«, sagte sie gönnerhaft. »Du warst sensationell. Wirklich. Gut gemacht.«
Sanchez verfolgte das Geschehen aus einigen Schritten Entfernung und fragte sich, was das für den Wettbewerb bedeuten mochte. Selbst Freddie Mercury schien von dem zuspruch irritiert zu sein, den der Blues Brother erhalten hatte. Julius müsste schon außerordentlich gut sein, wenn er seine Konkurrenten besiegen wollte, und Judy Garland, die Favoritin, war noch nicht einmal aufgetreten. Und wo zum Teufel war Elvis?
Die Antwort auf diese Frage ließ nicht lange auf sich warten. »Hey, Sanchez, da bist du ja wieder«, erklang Elvis’ Stimme hinter ihm. Sanchez fuhr herum und sah seinen Freund auf sich zukommen. Er hatte einen Arm um Janis Joplins Taille gelegt. Ihr Haar war zerzaust und ihre Kleidung irgendwie in Unordnung. Es war nicht zu übersehen, dass sie gerade hektischem Sex gefrönt hatten.
»Yo, Elvis«, antwortete Sanchez im Flüsterton, weil er nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. »Dieser Invincible Angus – er ist wieder zurück.«
Elvis löste den Arm von Janis Joplins Taille. »Wo warst du, Mann?«, fragte er, während er stirnrunzelnd auf ihn zukam.
»Der Kerl hat mich gerade quer durch das ganze verdammte Hotel gehetzt. Ich habe ihn in irgendeinem Scheißkühlraum eingeschlossen, aber als ich abhaute, versuchte er gerade, sich den Weg aus diesem Ding freizuschießen.«
»Gut. Lass ihn ruhig. Wenn er auch nur in meine Nähe kommt, trete ich ihm in den verdammten Arsch.« Er rieb sich den Hinterkopf, wo Angus ihn kurz vorher niedergeschlagen hatte. »Dieser Hurensohn verdient es nicht anders.«
»Er hat eine Pistole«, betonte Sanchez. »Vielleicht sogar zwei.«
»Das ist mir verdammt noch mal egal. Scheiß auf ihn. Und auf das Pferd, auf dem er angeritten kam.«
Janis Joplin machte ein paar Schritte und gesellte sich zu ihnen. »Ja, scheiß auf ihn. Dieser verdammte, verfickte Arschlochbastard.«
Sanchez lächelte Janis höflich an. »Es fällt dir wirklich schwer, dich unter Kontrolle zu halten, nicht wahr?«
»Das hat nichts mit meinem Tourette zu tun«, erwiderte Janis. »Wenn Elvis diesen Typen nicht mag, dann mag ich ihn verdammt noch mal auch nicht. Dieses Arschloch.«
Ihre Unterhaltung wurde durch die Stimme Nina Forinas unterbrochen, als sie Emilys Auftritt ansagte. »Ladys und Gentlemen!«, donnerte es aus den Lautsprechern. »Und jetzt mit dem Klassiker ›Over The Rainbow‹ … begrüßen Sie Judy Garland!«
Erneut spendete die Menge tosenden Beifall, begleitet von lauten Hochrufen. Sanchez beobachtete, wie Emily tief Luft holte. Und dann auf die Bühne eilte.
Die Show begann.