ZWÖLF

Sanchez hatte sich in seinem Leben einige ziemlich dumme – nun gut, einige verdammt dumme – Dinge erlaubt. Gewöhnlich hatten sie mit Frauen oder mit Spielen zu tun. An seiner letzten Dummheit war beides beteiligt, obgleich die betreffende Frau nicht zu der Sorte gehörte, die einen zu irgendwelchen Dummheiten verleitete. Die Frauen, bei denen er sich gewöhnlich lächerlich machte, waren normalerweise jung, attraktiv und ausgekocht. Die Mystische Lady war alt, hässlich und dumm, zumindest in Sanchez’ Augen. Was zum Teufel hatte er sich nur dabei gedacht?

Die zwanzigtausend Dollar aus dem braunen Umschlag waren jetzt weg. Vergeudet in einem Augenblick des Irrsinns, als er den gesamten Batzen am Roulettetisch auf Rot gesetzt hatte. Alles nur, weil er auf diese verrückte alte Vettel Annabel de Frugyn gehört hatte. Sie hatte sich als eine verdammt unfähige Wahrsagerin entpuppt. Falls sie jemals wagen sollte, einen Fuß in Sanchez’ Bar, das Tapioca, zu setzen, bekäme sie eine weitere Ladung von Sanchez’ berühmtem Spezialgebräu kredenzt. Nutzlose alte Schlampe.

Er sah sich jetzt vor einem gefährlichen Dilemma. Er musste den Umschlag, an einem Ende aufgerissen und ohne die zwanzigtausend Dollar, an der Rezeption abgeben. Er hätte Elvis in dem Moment von dem Geld erzählen sollen, als er es zum ersten Mal im Umschlag gesehen hatte. Sie hätten es sich teilen können und dann stünde Elvis wenigstens auf seiner Seite, falls jemand danach fragen sollte. Jetzt war es verdammt noch mal zu spät, um Elvis gegenüber zuzugeben, dass er ihn übers Ohr gehauen hatte. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob es wirklich eine so gute Idee war, den Umschlag an der Rezeption abzugeben. Wenn der vorgesehene Empfänger erschien und danach fragte und ihn aufgerissen und ohne Geld vorfand, würde er sich wahrscheinlich auf die Suche nach Sanchez machen. Das einzig Positive, das er in dem Schlamassel erkennen konnte, war, dass ein Hinterlegen des Umschlags an der Rezeption gewährleisten würde, dass das Empfangspersonal ebenfalls unter Verdacht geriet.

Die Alternative – den Umschlag nicht abzugeben – würde höchstwahrscheinlich zur Folge haben, dass der vorgesehene Empfänger sich Sanchez auf jeden Fall vorknöpfte. Wenn der Umschlag in seinem Hotelzimmer gefunden würde, steckte er bis zum Hals in Schwierigkeiten. Daher war er zu dem Schluss gekommen, dass eine Rückgabe des Umschlags an der Rezeption durchaus Sinn machte.

Zu seiner Erleichterung hatte sich die unübersehbare Schar von Gästen, die die Rezeption belagert hatten, um einzuchecken, mittlerweile verlaufen. In der runden Empfangshalle war es ziemlich ruhig. Er hatte sie mehrmals durchquert und dabei immer noch überlegt, ob er wohl das Richtige tue. Aber als er drei- oder viermal am Empfangspult vorbeigeschlendert war, vermutete er, dass es wahrscheinlich so aussah, als würde er der Empfangsdame nachstellen. Daher gab er sich einen Ruck und näherte sich schließlich dem Pult, ehe sie noch auf die Idee kam, so etwas wie einen Panikknopf zu betätigen. Es war ganz sicher das Richtige, nicht zuletzt deshalb, weil er dem King versprochen hatte, den Umschlag abzugeben, und im Moment war er nicht sonderlich scharf darauf, den King zu sehr zu verärgern. Elvis war immerhin sein einziger Verbündeter.

»Hi schon wieder«, sagte er und zeigte Stephie ein entwaffnendes Lächeln.

Die Empfangsdame hatte mitbekommen, wie er auf und ab spazierte und gelegentlich zu ihr herüberschaute und fühlte sich dadurch verständlicherweise belästigt. Die große Anzahl von Gästen, die eingetroffen waren, hatte ihr einen anstrengenden Vormittag beschert und physisch und geistig erschöpft, wie sie nach der ganzen Hektik war, hatte sie wenig Lust, sich von Sanchez irgendwelchen Unsinn anhören zu müssen.

»Ich hoffe wirklich, dass Sie nicht die Absicht haben, mit mir ausgehen zu wollen«, sagte sie und musterte ihn mit einem Ausdruck unverhohlener Abscheu.

Schlampe, dachte er, setzte jedoch sein freundlichstes Lächeln auf und klatschte den Umschlag auf das Empfangspult.

»Das lag in dem Zimmer, das Sie mir freundlicherweise überlassen haben. Ich dachte, ich gebe den Umschlag hier ab für den Fall, dass derjenige, für den er bestimmt war, doch noch auftaucht und danach fragt.«

Stephie betrachtete den Umschlag. »Na klar«, sagte sie sarkastisch. »Wie ich sehe, haben Sie ihn geöffnet.«

»Nee. Er war schon offen, als ich ihn fand.«

»Natürlich.« Sie nahm den Umschlag an sich und murmelte laut genug, sodass er sie verstehen konnte. »Ich lege ihn am besten hinten in den Safe, damit er nicht wieder von selbst aufgeht.«

»Äh, danke«, sagte Sanchez und produzierte abermals sein entsetzliches falsches Grinsen. »Ach ja, und wenn der Typ danach fragen sollte …«

»Claude Balls.«

»Wie bitte?«

»Claude Balls. Der Mann, dessen Zimmer Sie bewohnen.«

»Ja, den meine ich. Wenn er danach fragen sollte, könnten Sie mich dann in meinem Zimmer anrufen? Nur damit ich weiß, dass er ordnungsgemäß bei ihm angekommen ist. Ich glaube, dann würde ich ruhiger schlafen.«

»Ganz bestimmt.« Nach einem letzten missbilligenden Blick verschwand Stephie mit dem Umschlag durch eine Tür im hinteren Teil der Lobby. Eine der anderen Empfangsdamen kam ihr entgegen. Es war eine kleine, rundliche Frau in den Fünfzigern mit einem Gesicht wie eine Bulldogge, die eine Wespe verschluckt hatte. Sie baute sich hinter dem Pult neben Stephies auf und lächelte Sanchez an. Zeit für einen eiligen Rückzug, dachte Sanchez. Elvis sollte in Kürze zum Vorsingen für den Back-From-The-Dead-Wettbewerb auf der Bühne erscheinen. Sanchez wollte sichergehen, dass er ebenfalls dort war, damit er sich beim King einige Pluspunkte erwerben konnte, indem er laut applaudierte und ihm Komplimente zu seinem gelungenen Auftritt machte.

Während er auf eine Glastür zusteuerte, die aus der Lobby und hinunter zum Konzertsaal führte, hörte er hinter sich eine dröhnende Stimme. Sie klang, als gehörte sie einem sehr großen und gebieterischen Mann.

»Hallo, Miss«, sagte die Stimme leidlich höflich. »Für mich müsste ein Zimmer reserviert worden sein. Claude Balls ist mein Name.«

Sanchez spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Bitte, dachte er. Lass diesen Mann nicht so scheußlich aussehen, wie er klingt.

Voller Furcht vor dem, was er möglicherweise gleich sehen würde, drehte er sich um. Seine schlimmsten Erwartungen wurden bestätigt. Denn dort, am Empfangspult, stand ein wahrer Riese von einem Mann. Er maß etwa einen Meter neunzig und trug einen langen grauen Trenchcoat. Sein dickes, ungewaschenes rotes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft, der bis über seine Schulterblätter herabhing. Er hatte einen gleichfarbigen Spitzbart, der wie ein Lätzchen bis auf seine Brust hinabreichte. Unter dem Mantel trug er, wie Sanchez zu erkennen glaubte, militärische Kleidung. Ein ehemaliger Soldat vielleicht? Ein Auftragsmörder? Dem Inhalt des Umschlags nach zu urteilen, den Sanchez geöffnet hatte, ganz gewiss.

Der besorgte Barbesitzer wäre noch um einiges unruhiger gewesen, wenn er gewusst hätte, dass der Mann, der sich als Claude Balls ausgab, in Wirklichkeit ein in dieser Gegend weithin bekannter Berufskiller war. Tatsächlich war er wegen seiner unglaublichen Beharrlichkeit besser bekannt als Invincible Angus. Man hatte ihn mit Messern attackiert, niedergeschossen, verprügelt, verstümmelt, mit Tränengas überschüttet und was sonst noch alles, aber er hatte sich immer wieder aufgerappelt. Und er brachte sein Opfer immer zur Strecke.

Sanchez brauchte ihn nicht lange zu betrachten, um zu begreifen, dass es Zeit wurde zu verschwinden, ehe eine der Empfangsdamen ihrem jüngsten Gast von dem Umschlag erzählte, an dem sich jemand unbefugt zu schaffen gemacht hatte. Genau in diesem Moment, als spürte er, dass er beobachtet wurde, schaute Invincible Angus zu Sanchez hinüber und funkelte ihn böse an.

»Was starrst du so blöd, Fettsack?«, knurrte er.

Eine Antwort erübrigte sich. Sanchez machte schnellstens kehrt und eilte davon, um Elvis zu suchen.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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