ACHT ♦
Annabel de Frugyn wurde in Nigel Powells privates Büro geleitet. Es war ein eleganter Raum mit einem dicken, federnden königsblauen Teppichboden und schlichten weiß gekalkten Wänden. Ein großer Holzschreibtisch stand an einem Ende des Raums vor einer Fensterreihe, die von zwei hellroten Vorhängen verhüllt wurden die zu dem blauen Teppich einen fast schmerzhaften Kontrast bildeten. Powell bat sie, in einem kleinen schwarzen Ledersessel vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er ging um den Schreibtisch herum und ließ sich in einen erheblich größeren, ebenfalls schwarzen und mit Leder bezogenen Sessel fallen. Auf der Schreibtischplatte befand sich eine nur nachlässig geordnete Ansammlung von Papieren und gerahmten Fotos, Letztere dergestalt ausgerichtet, dass Powell sie betrachten konnte. Außerdem stand auf dem Tisch ein großes weißes, ziemlich altmodisches Telefon links von seinem Sessel.
Einer der beiden Wachmänner, die den Hotelbesitzer kurz vorher ins Foyer begleitet hatten, war ihnen ins Büro gefolgt. Er nahm einen Platz an der Tür ein, die er hinter ihnen geschlossen hatte. Immer noch stehend, schenkte sie ihm ihr fratzenhaftes Lächeln, doch in klassischer militärischer Tradition blickte er starr geradeaus und ignorierte sie. Unbeeindruckt setzte sie sich Powell gegenüber in den Sessel. Auf ihrem Schoß lag ihre Handtasche, die sie immer bei sich trug und mit festem Griff umklammerte. Sie mochte dem Sicherheitsdienst des Hotels gestattet haben, ihr Gepäck auf ihr Zimmer zu bringen, doch niemand durfte ihre alte, schmuddelige braune Lederhandtasche auch nur berühren.
»Sehen Sie, Miss de Frugyn, Sie fragen sich wahrscheinlich, weshalb Sie hier sind«, begann Powell und lehnte sich lächelnd in seinem Sessel zurück.
Sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Der Mann hatte einen teuflischen Charme und achtete sorgfältig auf seine äußere Erscheinung. Obgleich er Anfang vierzig war, hatte er keine einzige Falte im Gesicht. Zweifellos das Ergebnis plastischer Chirurgie und regelmäßiger Botoxinjektionen.
Annabels Lachen war das totale Gegenteil und enthüllte eine große Anzahl von Runzeln und Falten in ihrem Gesicht. »Sie wollen, dass ich mit meinen übersinnlichen Kräften irgendetwas tun soll, nicht wahr?«
»Sehr gut. Beeindruckend. Und absolut korrekt. Ich will ganz offen zu Ihnen sein, Annabel – ich darf Sie doch so nennen?« Sie strahlte ihn an, was, wenn überhaupt möglich, noch schrecklicher aussah als ihr verzerrtes Lächeln. »Es ist kein Zufall, dass Sie hier im Hotel sind. Ich habe es so eingefädelt, dass Sie eine Eintrittskarte für die Show gewonnen haben.«
»Als ich den Brief mit der Nachricht erhielt, dass ich gewonnen habe, spürte ich irgendwie, dass irgendetwas fehlte.«
»Tatsächlich? Ihre übersinnlichen Fähigkeiten haben Ihnen das verraten?« Powell, plötzlich viel wachsamer, richtete sich auf.
»Ja. Das und die Tatsache, dass ich an der Umfrage, durch die man eine Eintrittskarte gewinnen konnte, gar nicht teilgenommen habe.«
Er lächelte nachsichtig. »Lassen Sie mich zum Kern der Sache kommen. Ich habe viel Gutes über Sie gehört. Ein Freund von mir hat Sie mir empfohlen, nachdem er Sie vor ein paar Jahren wegen einer Beratung aufgesucht hatte.« Er legte eine Kunstpause ein und seine Miene wurde ernst. »Ich brauche heute Ihre Dienste in einer äußerst wichtigen Angelegenheit.«
»Wollen Sie, dass ich Ihnen voraussage, wer den Gesangswettbewerb gewinnen wird?«
»Nein. Es ist etwas viel Wichtigeres.«
Die Mystische Lady war entschlossen vorherzusagen, was er wollte, ehe er es aussprach. »Wollen Sie wissen, was Sie zum Geburtstag geschenkt bekommen?«, versuchte sie abermals ihr Glück.
Powell warf dem Sicherheitsmann an der Tür über die Schulter einen Blick zu. Ein Blick, der deutlich machte, dass er von Annabels übersinnlichen Fähigkeiten nicht besonders beeindruckt war. Sie musste ihm immer noch den Beweis liefern, dass sie den Titel »Mystische Lady« verdient hatte.
Da sie seine Zweifel registrierte, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Ich bin viel besser, wenn ich meine Kristallkugel zur Verfügung habe«, gestand sie ihm.
»Ah, ich verstehe. Und haben Sie sie bei sich?«
»Ja.«
»Dann holen Sie sie bitte heraus.« Unter der freundlich vorgetragenen Bitte lauerte ein harter Befehlston.
Annabel öffnete den Reißverschluss ihrer Handtasche, doch ehe sie hineingriff, runzelte sie die Stirn. »Moment«, sagte sie und rang plötzlich nach Luft. »Ich sehe etwas.«
»Und was?«
»Ich sehe, dass Sie mir fünfhundert Dollar geben.«
Powell seufzte. Annabel arbeitete niemals ohne Honorar, und sie sorgte dafür, dass jedermann es wusste. Ihr Ruf war weit über die Grenzen von Santa Mondega hinausgedrungen, daher hatte Powell gewusst, was er zu erwarten hatte. Er griff in sein Jackett und holte eine dicke Lederbrieftasche heraus. Er klappte sie auf, zählte fünf Hundertdollarscheine ab. Dann schob er drei davon über den Schreibtisch zu Annabel hinüber, die sie sofort an sich nahm und irgendwo in den Falten ihrer Kleidung verschwinden ließ.
Powell ließ einen Finger auf den beiden restlichen Geldscheinen auf seiner Schreibtischseite liegen. »Dreihundert jetzt«, sagte er kalt. »Zweihundert, wenn Sie mir erzählen, was ich wissen muss.«
Annabel tat so, als würde sie sich das Angebot durch den Kopf gehen lassen. Tatsächlich dachte sie noch nicht einmal im Traum daran, das Angebot auszuschlagen. Normalerweise wurde auch schon mal gefeilscht, aber ihre Bitte um fünfhundert Dollar Vorauszahlung war ziemlich optimistisch gewesen. Dass er bereit war, die gesamten fünfhundert Dollar zu zahlen, machten die dreihundert Dollar Anzahlung für sie noch annehmbarer. Daher griff sie mit einem neuerlichen albtraumhaften Lächeln in ihre Handtasche und holte eine kleine Kristallkugel hervor, ein Objekt, weitaus sauberer als das schmutzige Behältnis, in dem sie es bis eben deponiert hatte. Sie stellte sie vor sich auf den Tisch und sah den Mann, der ihr gegenübersaß, prüfend an.
»Dann erzählen Sie mir mal, was Sie wissen wollen.«
»Schön, Annabel«, sagte er, beugte sich über den Schreibtisch und zeigte sein eigenes umwerfendes Lächeln, »vor ein paar Wochen wurde ich von einem ziemlich fragwürdig aussehenden Mexikaner namens Jefe angesprochen. Er behauptete, ein Attentäter oder eine Art Kopfgeldjäger zu sein.«
»Ich glaube, ich kenne ihn«, sagte Annabel.
»Das sollten Sie allerdings auch«, sagte Nigel. »Er ist derjenige, der mir empfohlen hat, mit Ihnen zu reden.«
»Worüber?«
»Er erzählte mir, man habe ihm eine große Summe Geld angeboten, um einige Konkurrenten des diesjährigen Wettbewerbs zu töten. Er hatte den Auftrag über eine dritte Partei angenommen, nur um dann zu erfahren, dass der Kontrakt jemand anderem gegeben worden sei.«
»Ich verstehe. Und Sie wollen wissen, wer dieser Jemand ist?«
»Ja. Ich möchte außerdem wissen, wer diese Leute engagiert und weshalb.«
»Jefe wusste es nicht?«
»Nein, aber er meinte, Sie könnten mir vielleicht dabei helfen. Deshalb sind Sie hier.«
»Okay. Gibt es sonst noch etwas?«
»Vorerst reicht das doch wohl. Kommen Sie damit zurecht?«
»Nun denn, schauen wir mal nach, okay? Können Sie mal das Licht ein wenig runterdrehen?«
»Klar. Tommy, dämpfen Sie mal das Licht, bitte.«
Der Sicherheitswachmann im schwarzen Anzug betätigte einen Schalter neben der Tür und verdunkelte das Deckenlicht so weit, dass man sehen konnte, wie Annabels Kristallkugel weiß zu leuchten begann. Dies war das Zeichen für sie, sich nach vorne zu beugen und mit den Händen über der geheimnisvollen Kugel herumzufuchteln. Nach ein paar Sekunden erschien innerhalb der Kugel so etwas wie ein wirbelnder weißer Nebeldunst. Powell war klug genug zu schweigen, während sie mit den Armen einige seltsame Gesten ausführte. Am Ende, nachdem sie ohne zu blinzeln die leuchtende Glaskugel angestarrt und sich für knapp eine Minute darauf konzentriert hatte, schien sie irgendeine Erkenntnis zu überkommen.
»Der Mann, den Sie suchen«, erklärte sie mit monotoner Stimme, »befindet sich bereits im Hotel. Er hat eine Liste von Personen bei sich, die er töten will.«
»Können Sie erkennen, wie er aussieht?«
»Ich sehe zwei Männer zusammen. Einer von ihnen ist ein Teilnehmer des Wettbewerbs. Der andere ist ein gnadenloser Mörder. Sie haben die Absicht, ihre wichtigsten Gegner auszuschalten, sodass sie den Wettbewerb gewinnen können.«
Powell begann sein Kinn zu massieren, als würde er plötzlich von einem quälenden Juckreiz gepeinigt.
»Wer sind sie?«, wollte er wissen.
»Warten Sie. Ich sehe etwas. Es – es ist eine Zimmernummer.«
»Reden Sie weiter.«
»Dieses Zimmer befindet sich im siebten Stock.« Annabel, die weiterhin starr in die Kristallkugel blickte, begann von der Anstrengung, sich zu konzentrieren, zu schwitzen. Auch Powell starrte auf die Kugel, konnte jedoch nichts anderes sehen als den weißen Dunst, der darin waberte. Abermals begann die alte Frau zu reden, ihre Stimme nach wie vor ein monotones Leiern, während ihre Erklärung immer wieder durch kurze Pausen unterbrochen wurde.
»Es ist Zimmer Nummer – dreizehn im – siebten Stock. Dort finden Sie – den Attentäter – den Sie suchen.«
»Donnerwetter«, sagte Powell und klang überrascht. Er musste zugeben, dass er unerwarteterweise beeindruckt war. »Das ist sehr genau. Kennen Sie auch den Namen des Zimmerbewohners?«
Annabel schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Es herrscht einige Verwirrung, was den Namen dieses Mannes betrifft. Ich kann nicht feststellen, weshalb.« Ihre Stimme klang allmählich wieder normal.
Scheiße!, dachte Powell, aber das behielt er für sich. »Okay«, raunte er sanft. »Können Sie noch etwas anderes erkennen?«
»Ja, da ist noch eine Sache. Aber ich vermute, das wissen Sie längst.« Sie klang jetzt zögernd.
Powell runzelte fragend die Stirn. »Und was ist das?«
»Diese Show ist verflucht.«
»Wie bitte?« Wenn er überrascht war, dann schaffte er es auf bemerkenswerte Art und Weise, dies zu verbergen.
»Auf dieser Show liegt irgendein Fluch. Ich kann nicht genau erkennen, was es ist, aber wenn ich daran teilnähme, glaube ich nicht, dass ich gewinnen möchte.«
Der Hotelbesitzer und Veranstalter der Show winkte lässig ab und lächelte die Frau an. »Wegen irgendwelcher Flüche mache ich mir keine Sorgen. Oder was mit demjenigen geschieht, der den Wettbewerb gewinnt. Ich möchte nur sicher sein, dass die Show ohne Störungen abläuft.«
»Es ist Ihre Entscheidung«, sagte Annabel. »Aber ich denke, ein weitaus angemessenerer Name für Ihre Show wäre The Hex Factor.«
Powell seufzte. »Ich glaube, wir sind hier fertig. Tommy, drehen Sie das Licht bitte wieder hoch.« Der weiße Nebel in der Kristallkugel löste sich allmählich auf, und Annabel lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Sie sah ein wenig müde, wenn nicht sogar älter aus. Der Sicherheitswachmann drehte das Licht wieder hoch, und Annabel verfolgte mit unverhohlener Genugtuung, wie Powell die restlichen zweihundert Dollar auf dem Tisch zu ihr herüberschob.
»Danke, Annabel. Anscheinend haben Sie Ihre Sache gut gemacht.« Er sah sie an und fügte hinzu: »Falls wir Ihre Dienste noch einmal brauchen sollten, kennen wir ja Ihre Zimmernummer.« In seiner Stimme schwang ein einschüchternder Unterton mit, und Annabel hatte nicht den geringsten Zweifel, dass, wenn sich auch nur eine einzige ihrer Prophezeiungen als falsch erweisen sollte, die fünfhundert Dollar sofort den Besitzer wechseln würden. Sie angelte die zwei Hundertdollarscheine vom Tisch und versteckte sie in den Falten ihrer Kleidung bei den anderen drei. Dann nahm sie die Kristallkugel vom Tisch und legte sie in ihre Handtasche zurück.
»Es war nett, mit Ihnen Geschäfte zu machen«, sagte sie, während sie sich aus ihrem Sessel erhob. Dabei übertrieb sie noch nicht einmal – fünfhundert Dollar waren fünfhundert Dollar.
»Ja, war es das? Vielen Dank, Annabel, ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Powell griff über den Tisch und schüttelte abermals ihre Hand, ehe er eine letzte Frage stellte. »Haben Sie schon eine Idee, wer diesen Wettbewerb gewinnen wird?«
Die Hellseherin grinste. »Wenn ich eine Wette einginge, würde ich sagen, es ist jemand, dessen Name mit J beginnt.«
Powell und Tommy wechselten abermals einen vielsagenden Blick, und dann öffnete der Sicherheitswachmann für Annabel die Tür. Als sie gegangen war, nahm Powell den Hörer seines weißen Tischtelefons von der Gabel und drückte auf mehrere Tasten. Der Anruf wurde schon nach dem ersten Rufzeichen angenommen. Eine Frauenstimme meldete sich.
»Empfang. Was kann ich für Sie tun?«
»Hi, hier ist Mister Powell. Können Sie mir bitte sagen, wer in Zimmer Nummer sieben-dreizehn wohnt?«
»Ja, Sir. Einen Moment, bitte.«
Tommy kam herüber und setzte sich in den Sessel auf der anderen Schreibtischseite seinem Arbeitgeber gegenüber. Sekunden später nannte die Empfangsdame Powell den Namen, um den er gebeten hatte, und er legte den Telefonhörer zurück auf die Gabel.
»Und, hatte die alte Hexe nun Recht oder nicht?«, fragte Tommy.
»Na ja, wie ich hörte, treffen nur fünfzig Prozent ihrer Vorhersagen zu, aber das ist kein allzu schlechter Schnitt. Solange sie uns die richtige Zimmernummer dieses Profikillers genannt hat, bin ich glücklich und zufrieden.«
»Und wer ist er?«
»Laut Empfang lautet sein Name Sanchez Garcia. Schicken Sie ein paar von den Jungs rauf und lassen Sie ihn suchen. Und achten Sie darauf, dass sie bewaffnet sind. Wenn er tatsächlich ein Auftragsmörder ist, könnte er gefährlich sein.«
»Was sollen meine Leute mit ihm machen?«
»Ihn verhören.«
»Und wenn sich herausstellt, dass er ein Profikiller ist?«
»Herausfinden, für wen er arbeitet und beide aus dem Weg räumen.«
»Und wenn er kein Profikiller ist?«
Powell zuckte die Achseln. »Dann sollen sie nur ihn töten.«