VIERZEHN

Sanchez schlängelte sich an den Künstlergarderoben vorbei auf den rückwärtigen Teil der Bühne. Hinter einem schweren roten Vorhang, der vom Fußboden bis zur Decke reichte, fand er einen geeigneten Zuschauerplatz. Er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. In ein oder zwei Minuten würde sein Freund auftreten.

Elvis hatte das Pech, direkt nach dem äußerst beeindruckenden Otis-Redding-Imitator eingeteilt worden zu sein. Eine schwierige Aufgabe, nach einem solchen Auftritt auf die Bühne zu müssen. Sanchez drückte die Daumen, dass sein Kumpel keine falschen Töne traf. Dann, als seine Darbietung endete, applaudierte er heftig und lange genug, sodass der King ihn hörte und wusste, dass er zugeschaut und ihn lautstark unterstützt hatte.

Elvis hatte eine hervorragende Version von »Kentucky Rain« dargebracht, und das Publikum bekundete seine Zustimmung mit wildem Applaus und mehr als nur ein paar lauten Pfiffen. Jeder – jung, alt, männlich, weiblich – schien ihn zu lieben. Der Knabe hatte wirklich Charisma. Für Sanchez war er der coolste Typ auf dem ganzen Planeten. Nicht dass er das jemals vor ihm zugegeben hätte. Das wäre absolut uncool gewesen.

Die drei Juroren waren nicht ganz so begeistert von Elvis’ Auftritt wie Sanchez oder das restliche Publikum. Tatsächlich erschienen ihre Kommentare darauf ausgerichtet, die Begeisterung der zuschauenden Fans zu dämpfen. Sicher, Sanchez war befangen, aber er hielt Elvis in jeder Hinsicht für ebenso gut wie den Otis-Redding-Imitator, der vor ihm aufgetreten war. Elvis dachte ebenso. Aber der einzige Juror, der ihm echtes Lob spendete, war Candy Perez. Elvis zwinkerte ihr zu und bewahrte die Ruhe, indem er sorgfältig vermied, die beiden anderen Juroren als ignorante Wichser zu beschimpfen.

Gekonnt lässig und würdevoll verließ er die Bühne in Richtung Sanchez, winkte dem Publikum zu und verteilte Kusshände. Sobald sie ihn nicht mehr sehen konnten, verschwand sein Lachen und sein Gesicht zeigte einen mürrischen Ausdruck. Sanchez, der die Miene seines Freundes beobachtete, vermutete, dass jetzt einiges an moralischer Unterstützung vonnöten war.

»Yo, Elvis! Du warst super, Mann. Schätze, der Platz im Finale ist dir sicher«, platzte er heraus. Er meinte es wirklich so.

»Scheiße! Die verdammte Show ist manipuliert, Mann«, knurrte Elvis. Er konnte Kritik nur schwer ertragen. Eigentlich konnte er das gar nicht. Und in diesem Punkt hatte er nicht ganz Unrecht. Er wusste, wie man mit einem Publikum umging und hatte seine Nummer bis zur Vollkommenheit geprobt. Jeder, der etwas anderes behauptete, wäre ein verdammter Lügner.

»Tatsächlich? Glaubst du wirklich, dass da getrickst wird?«, fragte Sanchez.

»Klar doch. Hast du nicht gesehen, wie die Juroren diesen Otis-Redding-Typen geradezu gefeiert haben, obgleich an dem überhaupt nichts Besonderes war? Jeder kann Otis Redding imitieren«, fügte er geringschätzig hinzu.

»Du warst besser als er, so viel ist schon mal sicher.«

Elvis nickte zustimmend. Es war klar, dass trotz seines nahezu übermenschlichen Selbstvertrauens ein paar Komplimente von Sanchez mehr als willkommen waren.

»Danke, Sanchez. Finde ich ganz toll von dir. Ich glaube aber immer noch, dass ich in den Arsch gekniffen bin. Und weißt du noch was? Als ich da draußen war – und gesungen habe, weißt du –, hat mich ein Blitz getroffen.«

»Scheiße, Mann. Ich habe nichts gesehen.«

»Nein, du Idiot. Ich meine, mir ist etwas eingefallen, hatte quasi ’ne Erleuchtung. Dieser Otis-Redding-Imitator – nun, er war einer von den Typen auf den Fotos in diesem Umschlag, oder nicht?«

Sanchez überlegte für einen Moment. Er hatte nur die letzten Sekunden von Otis Reddings Auftritt mitbekommen. Das meiste, das er gesehen hatte, waren der Rücken und der Hinterkopf des Sängers gewesen, als er sich die Komplimente der Juroren anhörte. Aber er hatte einen ungehinderten Blick auf sein Gesicht gehabt, als er an ihm vorbei hinter die Bühne gegangen war. In diesem Moment war es ihm nicht aufgefallen, aber ja – Elvis hatte Recht.

»Scheiße, ja. Dann war das vielleicht gar keine Todesliste, oder? Vielleicht hat jemand versucht, einen der Juroren zu bestechen, um die Leute auf den Fotos ins Finale zu bringen.«

Elvis blickte Sanchez über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg in die Augen. »Ja?«, sagte er. »Wenn es Bestechung war, wo war dann das Geld?«

Sanchez spürte, wie seine Wangen sich ein wenig röteten. »Äh, na ja«, stotterte er. »Dann war es wohl doch eine Todesliste.«

»Das ist auch meine Meinung«, sagte der King niedergeschlagen. »Obgleich auch zu einer Todesliste meistens ein Geldbetrag gehört.« Er hielt kurz inne, ehe er fortfuhr: »Auf jeden Fall ist hier heute irgendeine seltsame Scheiße im Gange. Und das gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht.«

»Nur gut, dass du diesen verdammten Umschlag zur Rezeption gebracht hast.« Er hielt abermals inne, als fiele ihm plötzlich ein, dass Sanchez ein notorischer Lügner war und den Umschlag auch irgendwo in einen Mülleimer hätte werfen können. »Du hast ihn doch dort abgegeben, oder?«, fragte er misstrauisch.

»Na klar. Sicher. Natürlich hab ich das getan. Und keine Minute zu früh. Als ich auf dem Weg hierher war, tauchte dieser Claude Balls, der eigentlich mein Zimmer reserviert hatte, plötzlich an der Rezeption auf.«

»Hat er dich gesehen?«

»Nee! Ich hab mich sofort verpisst. Der Kerl ist ein Riese.«

»Ein schwerer Brocken, hm?«

»Ja. Und hässlich. Sah aus, als würde er einen guten Profikiller abgeben.«

»Wenn das so ist, Sanchez, dann empfehle ich dir, deinen Koffer aus dem Zimmer zu holen, ehe er hinauffährt und nach dir sucht.«

»Ja. Das habe ich mir auch schon gedacht.« Sanchez sah sich nervös um. »Die Sache ist nur, dass ich wenig Lust habe, alleine raufzufahren. Wenn du weißt, was ich meine.«

Elvis schüttelte den Kopf und seufzte. Sanchez’ Feigheit wie auch seine Verlogenheit waren in Santa Mondega Legende. Der King wusste ganz genau, dass sein Freund nicht den Mumm hatte, um alleine zu seinem Zimmer hochzufahren. Aber trotz der charakterlichen Mängel seines Freundes war er immer großzügig gewesen und hatte Elvis über die Jahre in seiner Bar, dem Tapioca, so manchen Gratisdrink spendiert. Natürlich aus guten Gründen.

»Es ist heute auf den Tag zehn Jahre her, dass ich deinen mageren Arsch vor diesen Vampiren in der Kirche gerettet habe, nicht wahr?«, sagte Elvis.

»Ja. Und das habe ich auch nicht vergessen. Aber die Erinnerung an dieses Abenteuer macht mich zu Halloween immer ein wenig nervös. Deshalb habe ich auch diese Reise unternommen. Ich dachte, es wäre nett, Santa Mondega mit all den Untoten und so weiter für einige Zeit hinter sich zu lassen.«

»Dann komm schon«, brummte Elvis und ging hinaus in den Flur. »Lass uns deinen Koffer holen. Du kannst bei mir schlafen, wenn wir für dich kein anderes Zimmer finden.«

»Danke, Mann.« Sanchez, angemessen dankbar, folgte ihm.

Sie erreichten den Fahrstuhl am Ende des Gangs und Elvis drückte auf den grauen Rufknopf in der Wand. Sie mussten nur ein paar Sekunden lang warten, bis die Kabine erschien und die silberfarbenen Türen aufglitten. Die Kabine sah leer aus und die beiden Männer stiegen ein. Sanchez wandte sich nach links, um auf den Knopf zur siebten Etage zu drücken, und sah sich gleichzeitig mit einem unangenehmen Anblick konfrontiert. In der Ecke unter der Bedienungstafel lag zusammengesunken der Körper eines Farbigen Mitte zwanzig.

»Gütiger Himmel!«, kreischte Sanchez wie ein Mädchen und machte einen erschrockenen Satz rückwärts.

»In welcher Etage ist dein Zimmer, Sanchez?«, fragte Elvis seelenruhig. Er hatte die Leiche ebenfalls gesehen, reagierte jedoch weitaus gelassener als sein Freund.

»Scheiße! Scheiße, Mann! Sieh doch, das ist …«

»Auf welcher Scheißetage?«

»Sieben.«

Den Toten ignorierend, streckte Elvis die Hand aus, um auf den Knopf für die siebte Etage zu drücken. Während sich die Türen schlossen und der Lift hochzufahren begann, gewann Sanchez ein wenig von seiner Fassung zurück. Vor ihm lag ein toter Schwarzer. Er hatte schon viele Tote gesehen, die meisten davon in seiner Bar, aber der Anblick einer Leiche in einem Fahrstuhl versetzte ihm einen Schock, als hätte sich vor seiner Nase eine Spinne abgeseilt, nachdem er die Schlafzimmerbeleuchtung eingeschaltet hatte.

Tief Luft holend und nicht auf sein wild pochendes Herz achtend, betrachtete er den Toten, der halb sitzend an der Fahrstuhlwand lehnte, eingehender. Der Typ trug einen glänzenden schwarzen Anzug mit einem roten Oberhemd darunter.

»O mein Gott! Das ist Otis Redding!«

»Mach keinen Scheiß.« Elvis klang völlig unbeeindruckt, aber Sanchez redete aufgeregt weiter: »Dieser Claude Balls muss ihn getötet haben.«

»Oder er hat jemand anderen bezahlt, es zu tun.«

»Jesus.« Sanchez schüttelte sich angewidert und beugte sich vor, um bessere Sicht auf den Toten zu haben. »Ich vermute, sein Hals ist gebrochen.« Er sog schnüffelnd die Luft ein. »Es riecht, als hätte er mitten aufs ›Dock of the Bay‹ geschissen.«

»Das ist nicht lustig. Mann. Genau genommen ergibt das noch nicht mal irgendeinen Sinn.«

»Das kam ein wenig hastig raus. Mir ist auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen.«

Elvis schüttelte den Kopf. »Weißt du, im Augenblick ist nicht der richtige Zeitpunkt für geistreiche Witze. Wenn wir zu deinem Zimmer kommen, wäre es sicher klug, einfach daran vorbeizugehen. Durchaus möglich, dass dieser Balls schon drin ist. Am besten tust du ab jetzt nur noch, was ich sage.« Elvis bewies unter den gegebenen Umständen einen beeindruckend klaren Kopf. »Und falls irgendjemand versuchen sollte, diesen Fahrstuhl zu betreten, müssen wir ihn daran hindern.«

»Wegen des Geruchs?«

»Nein, du Arschloch. Weil wenn jemand uns hier mit dieser Leiche sieht, dürften wir die Hauptverdächtigen für diesen Mord sein.«

»Oh Scheiße. So ein Mistkerl.«

Ein leises »Ping!« ertönte, als der Fahrstuhl den siebten Stock ereichte. Die Türen glitten auf. Sanchez entdeckte sofort vier bewaffnete Sicherheitswachmänner in schwarzen Anzügen und mit militärisch kurzen Haarschnitten am Ende des Gangs. Sie standen vor seinem Zimmer. Und waren im Begriff, die Tür aufzubrechen und hineinzustürmen.

Elvis hob eine Hand, um sein Gesicht zu verdecken, und trat zur Seite, wo er vom Korridor aus nicht gesehen werden konnte. Dann flüsterte er Sanchez gehetzt zu: »Drück auf Parterre. Wir müssen schleunigst hier raus.«

Sanchez hörte die Aufforderung, war jedoch so sehr damit beschäftigt, die Wachmänner anzustarren, dass er nicht darauf achtete, auf welchen Knopf der Armaturentafel er drückte.

Alle vier Wachmänner drehten die Köpfe, um zu sehen, wer sie aus dem Fahrstuhl anstarrte. Was sie sahen, war, wie Sanchez die Hand nach der Armaturentafel ausstreckte, um auf den Parterreknopf zu drücken. Und ihn nicht traf. Stattdessen bohrte er den Zeigefinger in ein offenes Auge des toten Otis-Redding-Doubles. Das erschreckende Gefühl, in etwas Kaltem und Weichem herumzustochern, ließ ihn ruckartig zurückweichen. Seine Aktion hatte jedoch eine katastrophale Auswirkung. Die Leiche kippte aus ihrer Position an der Wand nach vorne und sank vor Sanchez auf den Boden der Liftkabine, wo sie auch für die vier Männer im Korridor zu sehen war.

»Oh Scheiße!« Sanchez riss sich zusammen, fand den Parterreknopf und drückte eilig darauf. Er war zu langsam. Die Wachmänner hatten die Leiche gesehen und betrachteten sie und Sanchez mit zunehmendem Interesse. Elvis’ Gesicht war sicher vor ihren Blicken verborgen, aber der goldene Ärmel seines Bühnenanzugs ragte ein kleines Stück aus der Fahrstuhltür.

»Hey, Sie. Stehen bleiben!«, brüllte der dem Fahrstuhl am nächsten stehende Angehörige des Sicherheitsteams. Er hatte erstaunlich schnell eine Pistole gezückt und zielte jetzt damit auf den Fahrstuhl.

Elvis stieß Sanchez zur Seite. »Zurück nach hinten an die Wand«, zischte er. »Pass auf, dass sie dich nicht zu lange und zu genau sehen können.

Entsetzlich langsam begannen sich die Fahrstuhltüren zu schließen, während die vier Sicherheitswachleute durch den Gang auf sie zustürmten.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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