SECHZEHN

Invincible Angus war in seinen besten Zeiten ein ziemlich zornig aussehender Bursche. Das traf jedoch nicht auf diesen Moment zu. Sein Gesicht zuckte vor rasender Wut, als er hörte, dass sein Zimmer jemand anderem überlassen worden war. Darüber hinaus hatte die Empfangsdame ihm einen an sein Alias Mr. Claude Balls adressierten Umschlag überreicht, den jemand abgegeben hatte. Das hätte seine Laune eigentlich aufbessern sollen, aber als er den Umschlag entgegennahm, sah er auf Anhieb, dass jemand sich daran zu schaffen gemacht hatte. Zudem gab niemand an der Rezeption zu, ihn geöffnet zu haben. Sie beschworen, dass die Person, die sein Zimmer jetzt bewohnte, ihn in diesem Zustand abgegeben hatte.

Nun hatte Angus in seinem Leben eine ganze Menge Leute gefoltert. Manchmal aus Vergnügen, zugegeben, aber doch sehr oft, um Informationen zu erhalten, und dank dieser Erfahrung hatte er gelernt zu erkennen, wann jemand ihn verscheißerte. Und das Empfangspersonal im Hotel hatte einfach zu viel Angst vor ihm, um ihn anzulügen. Dessen war er sich zu hundert Prozent sicher. Tatsache war jedoch, dass der Umschlag immer noch die Fotos und die Liste mit den Namen seiner Zielpersonen enthielt. Der einzige Haken war nur, dass das Geld verschwunden war.

Stephie, die Empfangsdame, informierte ihn nervös darüber, dass keine Zimmer mehr frei waren, und schlug ihm vor, sich in der nächsten Bar einen Drink zu genehmigen – natürlich auf Kosten des Hauses –, während sie sich bemühte, ein anderes Zimmer für ihn zu finden. Er erkannte, dass sie ihr Bestes tun würde, denn er hatte es erfolgreich geschafft, sie und das restliche Personal inklusive der Sicherheitsleute gründlich einzuschüchtern. Schließlich geschah es nicht allzu oft, dass ein eins neunzig großer Berufskiller ins Hotel kam und feststellen musste, dass das Zimmer, das er reserviert hatte, einem anderen Gast zugeteilt worden war.

Auf dem Weg zur Bar öffnete Angus den Umschlag und blätterte die Fotos durch. Danach warf er einen Blick auf den Zettel mit den Namen der Zielpersonen. Er hatte so lange überleben können, weil er einen guten Instinkt hatte, und dieser Instinkt hatte ihm von Anfang an signalisiert, dass dieser Job für ihn der völlig falsche war. Sicher, die meisten seiner Auftraggeber waren Arschlöcher – das war eine Tücke seines Gewerbes –, aber der Typ, der ihm diesen Job angeboten hatte, gehörte zur schlimmsten Sorte. Er behauptete, sein Name sei Julius, aber das war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelogen.

Sogar nach den Maßstäben der düsteren Welt des professionellen Killers kam dieser Julius als extrem unzuverlässig herüber. Angus hatte es in seinem Gesicht erkannt, sobald sie zusammengetroffen waren. Er troff geradezu vor Falschheit und hielt höchstwahrscheinlich wichtige Informationen zurück. Zudem schien er zu der Sorte zu gehören, die den Job mehr als nur einem Profikiller anbot, nur um sicherzugehen, dass er erfolgreich ausgeführt wurde. Diese Typen waren immer schlecht fürs Geschäft. Das hieß, dass andere Auftragsmörder herumschlichen und sich höchstwahrscheinlich sowohl gegenseitig als auch die eigentliche Zielperson ausschalteten. Und nur der Letzte, der noch am Leben war, würde für den Job bezahlt. Das heißt, wenn er nicht am Ende auch noch aufs Kreuz gelegt wurde, dachte Angus wütend. Normalerweise hätte er einen Auftrag, an dem derartige Faktoren beteiligt waren, abgelehnt, aber er steckte zurzeit in einem finanziellen Engpass, daher meinte er in diesem Fall, dass der Lohn das Risiko wert war. Dennoch, seit er den Job übernommen hatte, wurde er von einer Pechsträhne heimgesucht, was meistens immer dann geschah, wenn er einen Auftrag annahm, der ihm nicht gefiel.

Aber von einem war er überzeugt: Julius war aalglatt und seine Motive waren völlig unklar. Angus hatte sich nur unter der Bedingung, dass er eine Vorauszahlung von zwanzigtausend Dollar erhielt, bereit erklärt, für ihn zu arbeiten. Er war zuversichtlich, dass er den Job erledigen würde, aber selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass irgendetwas schiefging, würde er mit den zwanzig Riesen eine fällige Schuld bei einigen ziemlich unangenehmen Gangsterbossen bezahlen können. Den Auftrag erfolgreich zu erledigen, würde ihm weitere dreißigtausend Dollar einbringen, aber ohne Anzahlung bestand die entfernte Chance, dass er überhaupt nicht bezahlt wurde. Es war ein Risiko, dass er nicht eingehen wollte.

Das andere Ding, das ihn beschäftigte und ihn davon überzeugt hatte, dass sein Job entweder unter einem schlechten Stern stand oder eine Falle war, durfte wohl die Neuigkeit sein, dass das Zimmer, das er gebucht hatte, einem Typen namens Sanchez Garcia überlassen worden war. Nur weil er, Angus, ein wenig verspätet eingetroffen war. Dieser Mann war es, der angeblich den Umschlag an der Rezeption abgegeben hatte. Es erschien naheliegend, dass dieser Sanchez Garcia jetzt im Besitz der Vorauszahlung war und alle Details des Auftrags kannte. Vielleicht war er sogar ein anderer Profikiller?

Während ihm diese Dinge durch den Kopf gingen, kam Angus durstig und ausgesprochen übellaunig und frustriert in die Bar. Und in diesem Moment sah es so aus, als wäre seine Pechsträhne zu Ende. An einem Tisch in einer der hinteren Nischen der Lounge saß ein kleiner Schwarzer in einem violetten Anzug. Angus erkannte ihn sofort: Julius, der zwielichtige Bastard, der ihn engagiert hatte. Ein kahlköpfiger kleiner Bursche, der jeden Augenkontakt vermied, sobald ihm eine Frage gestellt wurde. Vielleicht konnte er erklären, was zum Teufel im Gange war. Oder wenigstens mit weiteren zwanzig Riesen rüberkommen.

Angus ging hinüber zu Julius’ Tisch. Auf dem Weg dorthin rief er der Bardame zu: »Hey, Schlampe, bring mir mal einen doppelten Scotch on the rocks.«

Valerie, zutiefst entrüstet, betrachtete ihn von unten bis oben, wobei sie sich beinahe den Hals verrenkte. Ihr Mund klappte in einem überraschten »Ohhh« auf, als sie seine Größe realisierte. Wie die meisten Menschen, von denen er etwas verlangte, beschloss sie sofort, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.

Angus entschied sich für einen Stuhl an Julius’ Tisch, ihm direkt gegenüber. Zuerst schien der James-Brown-Imitator überrascht zu sein, ihn an diesem Ort zu sehen, doch dieser Eindruck verflog sehr schnell. Er nahm eine Flasche Shitting Monkey vom Tisch und trank einen Schluck. So etwas taten viele Leute und versuchten, besonders lässig auszusehen, wenn Angus sie einschüchterte. Es bereitete ihm ein bösartiges Vergnügen, genau zu wissen, dass Julius trotz seiner betont lässigen Haltung wahrscheinlich im Begriff war, sich in die Hose zu scheißen.

Der Killer warf den Umschlag mit den Fotos und der Todesliste auf den Tisch, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte Julius drohend an, sein Gesicht zu einer zornigen Fratze verzerrt. »Wo sind die verdammten zwanzig Riesen?«, knurrte er. Sein roter Spitzbart zitterte bei diesen Worten.

Julius stellte die Bierflasche auf den Tisch und schluckte. »Du kommst zu spät«, sagte er. Falls er so etwas wie Angst hatte, zeigte er es nicht. »Ich habe den Auftrag jemand anderem gegeben.«

»Wie bitte?«

»Du bist nicht pünktlich erschienen. Jemand anders hat jetzt den Kontrakt. Du hättest besser zuhören sollen, als ich erklärte, wie wichtig es ist, pünktlich hier zu sein.«

»Ich hör dir ja noch nicht einmal jetzt richtig zu, du langweiliger Arsch.«

»Nun, das ist dein Problem.«

Angus ballte frustriert die Fäuste. »Dämlicher Wichser«, grollte er und starrte den Sänger drohend an.

»Tut mir leid, Mann. Wer rastet, der rostet.«

Angus beugte sich über den Tisch und drang in seine persönliche Distanzzone ein. »Weißt du, ich bin mir ganz und gar nicht sicher, dass du derjenige bist, als der du dich anscheinend ausgibst. Also achte lieber darauf, wie du mit mir redest, Arschloch.«

In diesem Moment erschien Valerie an ihrem Tisch und blieb dicht hinter Angus’ Schulter stehen. Sie beugte sich über ihn und stellte ein kleines rundes Silbertablett auf den Tisch. Darauf befand sich sein doppelter Scotch on the rocks. Das Eis schmolz sehr schnell und gab leise zischende Geräusche von sich, die die Stille zwischen den beiden Männern zu unterstreichen schienen.

»Ich übernehme das«, bot Julius großzügig an. In seinem Gesicht versammelten sich Sorglosigkeit und Unaufrichtigkeit.

»Sehe ich so aus, als würde ich bezahlen?«

Julius lehnte sich freundlich lächelnd über den Tisch und reichte Valerie zehn Dollar. Sie nahm das Geld und verstaute es in einer schwarzen Tasche vorne an ihrem Rock. Dann war sie so vernünftig, schnellstens den Rückzug anzutreten.

»Danke«, sagte Angus verkniffen, griff nach dem Glas und trank einen Schluck. Die Eiswürfel verschoben sich und drückten gegen seinen Spitzbart. Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken trocken, während er das Glas aufs Tablett stellte. »Also – wo zum Teufel sind meine zwanzig Riesen? Ich schätze, die schuldest du mir auf jeden Fall schon mal dafür, dass ich den weiten Weg hierhergekommen bin.«

»Ich weiß nicht, welches Spiel du spielst, Mister Balls«, Julius betonte den Namen mit unverhohlenem Spott, »aber die zwanzig Riesen waren in dem Umschlag. Zumindest waren sie es, als ich ihn unter deiner Zimmertür durchschob. So wie ich es sehe, schuldest du mir jetzt zwanzigtausend.«

»Fick dich doch ins Knie. Die Tussi am Empfang erzählte mir, das Zimmer sei einem Typen namens Sanchez Garcia gegeben worden. Weshalb zum Teufel ist er hier?«

zum zweiten Mal wirkte Julius ehrlich überrascht. »Wer ist das?«

»Das möchte ich gerne wissen. Ist er der Mann, dem du den Job gegeben hast?«

»Scheiße, ich kenne den richtigen Namen des Mannes gar nicht, dem ich den Job gegeben habe. Nur dass er den meisten Leuten als Bourbon Kid bekannt ist. Er hat nicht viel dafür übrig, mit seinem richtigen Namen hausieren zu gehen.«

»Der Bourbon Kid, hä? Dieser Wichser also. Nun, hat er den Job schon erledigt? Denn ich bin jetzt hier und bereit anzufangen.«

Julius seufzte, dann zuckte er sorglos die Schultern. »Wenn man seinem Ruf trauen darf, dürfte der Job in etwa zehn Minuten erledigt sein.«

»Nun, das werden wir sehen.« Angus griff nach seinem Scotchglas, trank den Rest und zermalmte anschließend die Eiswürfel zwischen den zähnen, als wollte er Julius mit seiner Fähigkeit beeindrucken, niedrige Temperaturen zu ertragen. Dann stellte er das Glas unsanft zurück auf das Tablett und erhob sich.

»Ich suche erst mal diesen Sanchez Garcia und hol mir meine zwanzig Riesen zurück. Danach erledige ich den Job, wegen dem ich hergekommen bin.« Er verlieh dem Wort »erledige« einen besonders drohenden Klang.

»Viel Glück dabei.«

Angus konnte über Julius nur den Kopf schütteln. Dieser kleine Scheißer tat so, als ginge ihn das alles gar nichts an. Sein Verdacht, dass es besser wäre, sich nicht mit diesem Kerl einzulassen, hatte sich bestätigt. Er war sich nicht sicher, über wen er sich am meisten ärgern sollte, während er zurück ins Foyer stürmte. Seine Wut an Julius auszulassen, wäre reine Zeitverschwendung. Da war Sanchez Garcia ein viel besseres Ziel für seinen Frust.

Es wurde Zeit, dass er sich einen neuen Plan zurechtlegte.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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