VIERZIG

Sanchez wollte es niemandem gegenüber zugeben, aber er war äußerst gespannt auf die bevorstehende Namensnennung der Interpreten, die es unter die fünf Finalisten des Back-From-The-Dead-Gesangswettbewerbs geschafft hatten. Er hing zusammen mit Elvis hinter der Bühne herum und beobachtete all die anderen Konkurrenten, während sie voller Nervosität darauf warteten, auf die Bühne gerufen zu werden, um ihr weiteres Schicksal zu erfahren.

Es war eine wirklich bunte Mischung von Teilnehmern. Sie reichte von denen, die genauso aussahen wie die Sänger, die sie darstellten, bis hin zu absolut durchgeknallten Freaks. Der beste war Freddy Mercury, der total überzeugend aussah. Er trug eine hautenge weiße Hose mit je einem roten Streifen an den Seiten und dazu eine gelbe Lederjacke über einem schlichten weißen Trikothemd. Sein dichter schwarzer Schnurrbart und die leicht vorstehenden Zähne trugen zu einer Imitation bei, die geradezu gespenstisch präzise ausfiel. Sanchez hatte ihn beim Vorsingen nicht gehört, aber wenn seine Stimme seiner äußeren Erscheinung entsprach, gehörte er sicherlich in die engere Wahl.

Am anderen Ende des Spektrums befanden sich einige nur wenig überzeugende Verrückte. Vor allem einer fiel unter ihnen auf: ein Zwerg namens Richard, der sich für seine äußere Erscheinung und seinen Auftritt Jimi Hendrix zum Vorbild genommen hatte. Sein Kostüm bestand aus einer engen schwarzen Hose, hochhackigen Stiefeln und einem weißen Oberhemd unter einem purpurroten Mantel. Zu seinem Pech hießen andere Konkurrenten ebenfalls Richard. Infolgedessen hatten die Leute ihm zur besseren Unterscheidung den Spitznamen Little Richard verpasst, was ihn sichtlich verärgerte. Da war auch ein Frank-Sinatra-Double mit einem breiten weißen Wundpflaster auf seiner Nase, der zwischen den anderen Wartenden herumirrte und lautstark klagte, dass man ihm seinen Hut gestohlen habe.

Was Sanchez’ Interesse jedoch ganz besonders erregte, war das Verhalten von Julius, dem James-Brown-Imitator. Könnte dieser Typ wirklich der dreizehnte Apostel sein? Er wirkte ein wenig gereizt und musterte misstrauisch all die anderen Mitbewerber. Irgendwann trafen sich seine und Sanchez’ Blicke. Julius lächelte und nickte ihm und Elvis zu, wahrscheinlich weil sie Freunde Gabriels waren. Sanchez nickte höflich zurück. Es hatte wenig Sinn, einen von Gottes Lieblingen zu verärgern. Er könnte am Tag des Jüngsten Gerichts ein nützlicher Verbündeter sein. Ob ihm klar war, dass Sanchez wusste, wer er war?

Das brachte den Barbesitzer zum Nachdenken. Wäre Julius’ James-Brown-Nummer gut genug, um ihm den Sieg zu sichern? Und was war mit Judy Garland? Hatte Gabriel – oder der andere Profikiller, Angus – sie erfolgreich aus dem Wettbewerb entfernt? Wenn nun ihr Name aufgerufen wurde und sie nicht erschien, weil sie mittlerweile tot war? Und wer wären die anderen Finalteilnehmer, da zumindest drei, mittlerweile vielleicht sogar vier, von der ursprünglichen Teilnehmerliste nicht mehr am Leben waren?

Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Elvis auf den Füßen auf und ab federte und dabei ein wenig einem Boxer ähnelte, der sich für einen Kampf aufwärmte. Mit einiger Mühe verdrängte Sanchez seine düsteren Gedanken und begann seinen Freund aufzumuntern, indem er meinte, dass seine Teilnahme am Finale wohl selbstverständlich sei. Auch wenn Elvis es nicht nötig hatte, dass jemand sein Selbstvertrauen stärkte, war er wahrscheinlich dankbar für diese Unterstützung.

»Hey, Mann, was machst du, wenn du für das Finale ausgesucht wirst, hm?«, fragte Sanchez. »Ich meine, wenn du es schaffst und James Brown auf der Strecke bleibt?«

Elvis beobachtete das James-Brown-Double genauso aufmerksam wie Sanchez kurz vorher. Er beantwortete Sanchez’ Frage, ohne den Blick vom Godfather of Soul in seinem violetten Anzug abzuwenden.

»Ich bin mir verdammt sicher, dass er es schaffen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott uns heil durch die letzten vierundzwanzig Stunden gebracht hat, nur damit sein Apostel sich nicht für das Finale qualifiziert.«

»Hoffentlich hast du Recht.«

»Ich habe Recht.«

»Wo ist dann Gabriel? Meinst du, er ist gerade dabei, Judy Garland kaltzumachen?«

»Nun, das würde wohl erklären, weshalb sie nicht hier ist.« Elvis schien völlig unbesorgt zu sein.

Sanchez ließ sich das für einen Moment durch den Kopf gehen. Die Judy-Garland-Imitatorin hatte nichts falsch gemacht, soweit er es beurteilen konnte. Und sie hatte ihn früher am Tag hinter der Bühne angelächelt und Hallo zu ihm gesagt. Das hatte keiner der anderen ach so tollen Bastarde getan. Möchtegernstars, dachte er. Die krochen sich doch alle selbst in den Arsch. Bislang schien sie die Einzige zu sein, die sich nicht an sich selbst berauschte. Obgleich Sanchez Gabriel mochte und ihm einiges an Dank schuldete, weil er ihn vor den Zombies in der Wüste gerettet hatte, störte ihn die Vorstellung, dass sein neuer Freund möglicherweise zurzeit irgendwo im Hotel eine unschuldige junge Frau kaltblütig ermordete. Zumal eine, die ihn mit einem Ausdruck aufrichtiger Freundlichkeit angelächelt hatte. Das machten noch nicht einmal seine Freunde.

Er dachte darüber nach, wie unangenehm die ganze Situation war, als ein Sicherheitswachmann zu ihm herüberkam und ihn höflich aufforderte, den Bereich hinter der Bühne zu verlassen. Nachdem er Elvis zum letzten Mal viel Glück gewünscht hatte, begab sich Sanchez eilig zur Bühnenseite, wo er geschützt durch einen der roten Vorhänge, die im Augenblick noch geschlossen waren und die Bühne verhüllten, das Geschehen verfolgen konnte. Er hatte kaum seinen Beobachtungsplatz erreicht, als der hintere Bühnenbereich sich verdunkelte und ein anschwellender Trommelwirbel aus dem Lautsprechersystem drang. Kurz darauf erklang die elektrisch verstärkte Stimme der Präsentatorin der Show, Nina Forina.

»Ladys und Gentlemen«, sagte sie in einem dramatischen Tonfall, »bitte begrüßen Sie mit lautem Applaus – unsere Jury.«

In diesem Moment rauschten die Vorhänge auseinander und ein Punktstrahler erhellte die Bühne und fing die drei Juroren mit seinem Lichtkegel ein. Sanchez konnte sich hinter dem Vorhang verborgen halten. Er hatte von dort aus eine perfekte Sicht auf die Vorgänge auf der Bühne. Das Einzige, was er vermisste, waren sein gemütlicher Sessel, eine Tüte Popcorn und ein paar Flaschen Bier.

Die drei Juroren standen in der Bühnenmitte und badeten im Applaus des Publikums vor ihnen. Nachdem sie sich lange genug hatten feiern lassen, nahmen sie ihre Plätze am Jurorentisch ein, der sich mit Sanchez auf gleicher Höhe befand. Sobald die Pfiffe, das Händeklatschen und die Anfeuerungsrufe erstarben, wurde die Bühnenmitte erneut erhellt und Nina Forina trat ins Licht. Dort blieb sie kurz stehen, zeigte lächelnd ihre strahlend weißen Zähne und genoss die letzten Reste des Applauses. Dann streckte sie die Arme aus und das Publikum verstummte.

»Hallo, Leute. Seid ihr bereit zu erfahren, wer unsere fünf Finalteilnehmer sind?«

»Yeeeaaahhh!«

»Ich kann euch nicht hören. Seid ihr bereit, die Namen der fünf Finalisten zu erfahren?«

»YEEEAAAHHH

Nina begleitete das Gebrüll der Zuschauer mit einem Händeklatschen, ehe sie sich zur Seite wandte und auf den hinteren Teil der Bühne deutete. Das Licht der Scheinwerfer, das sie übergoss, lieferte Sanchez einen Ausblick, den er nicht erwartet hatte. Ihr Kleid war völlig durchsichtig. Jesus.

Sämtliche in die engere Wahl kommenden Konkurrenten erschienen hinter ihr auf der Bühne. Es waren etwa einhundert, doch auf der Bühne sah es aus, als seien es doppelt so viele. Elvis war unter den ersten, die herauskamen, und winkte und schickte dem Publikum Kusshändchen. Er machte einen selbstsicheren Eindruck im Gegensatz zu Julius, der zu Sanchez’ Überraschung ausgesprochen nervös erschien.

Als der Lärm zu einem aufgeregten Murmeln herabgesunken war, wandte Nina sich an die Jury, die nun mit dem Rücken zum Publikum in der Bühnenmitte saß.

»Nigel, wären Sie so nett und verraten uns, wer der erste Wettkampfteilnehmer ist, der es in das Finalisten-Quintett der Show des heutigen Abends geschafft hat?«

Powell saß zwischen seinen beiden Kolleginnen und spreizte sich wie ein Pfau. Sein Gesicht erschien auf einem riesigen Fernsehschirm im Rückraum der Bühne, und aus Gründen, die Sanchez nicht verstand, löste es einige hysterische Schreie von einigen jungen Frauen im Publikum aus. Als blickte er in einen Spiegel, schaute Powell zu dem Bildschirm hoch und zeigte in einem breiten Grinsen seine übertrieben gebleichten weißen Zähne, die zu seiner orangenen Sonnenbräune in einem scharfen Kontrast standen. Nachdem er sich so lange in der Aufmerksamkeit seiner weiblichen Fans gesonnt hatte, dass Sanchez schon fast vor Übelkeit würgen musste, reagierte er schließlich auf Ninas Bitte.

»Das tue ich nur zu gerne, Nina«, sagte er mit einem Augenzwinkern, das Sanchez beinahe genauso ekelerregend fand. »Der erste Finalist hat uns alle mit seinem Auftritt beeindruckt. Seine Stimme war vielleicht nicht die beste, aber wenn er sich für das Finale den richtigen Song aussucht, hat er eine echte Chance, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Nina, unser erster Finalteilnehmer ist …« Er hielt für eine lächerlich lange Zeit inne, um das Publikum auf die Folter zu spannen, ehe er verkündete: »Freddie Mercury!«

Der Freddie-Mercury-Imitator vollführte einen Freudensprung, reckte die Faust in die Luft und stieß ein halblautes »Jaaa!« hervor. Er rannte hinüber zu Nina Forina, die ihn umarmte und ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte, ehe sie ihn auf einen Platz ein paar Meter rechts hinter ihr dirigierte. Freddie schaute sich um, entdeckte Sanchez und schickte ihm ein strahlendes Siegerlächeln. Sanchez erwiderte das Lächeln und murmelte mit zusammengebissenen zähnen die Worte: »arrogantes Arschloch«.

Abermals heizte Powell das Publikum mit seiner dämlichen Warterei an, ehe er Janis Joplin als zweite Finalistin nannte. Die begeisterte Interpretin drängte sich durch die Schar der Konkurrenten im hinteren Bühnenraum und wedelte mit den Armen wie eine hyperaktive Irrenhauspatientin auf Drogen. Sie war eine Hippiebraut mit langem braunem Haar und trug eine getönte Sonnenbrille mit großen kreisrunden Gläsern und ein grünes mit Blumen bedrucktes Kleid, das dicht über ihren Knien endete. Sie hatte auf hochhackige Schuhe verzichtet und sich stattdessen für bequeme weiße Turnschuhe entschieden. Abgerundet wurde ihr Outfit durch eine Anzahl unterschiedlich langer Perlenketten, die um ihren Hals hingen, dazwischen ein übergroßes Yin-Yang-Symbol, das vor ihrem Bauchnabel baumelte. Sie bekam von Nina die obligatorische Umarmung samt Kuss, wurde überraschend begeistert vom Publikum beklatscht und nahm neben Freddie Mercury Aufstellung.

Das wären zwei, dachte Sanchez. Nur noch drei Plätze sind frei. Man kann nur hoffen, dass Julius einen halbwegs anständigen Ersatzplan hat, falls er nicht ausgewählt wird. Sonst ist unser ganzes Projekt im Eimer.

Zu einem lauten Dröhnen verstärkt, hallte Powells einschmeichelnde Stimme ein drittes Mal laut und deutlich durch den Saal.

»Der nächste Konkurrent, der es ins Finale geschafft hat – das wäre dann Nummer drei von fünf, wie Sie sicher mitgezählt haben – ist der Mann mit der hässlichsten roten Lederhose, die ich je gesehen habe … der Blues Brother!«

Während das Publikum tobte und begeistert mit den Füßen trampelte, sah Sanchez einen als einer der Blues Brothers verkleideten Farbigen aus der Schar der hoffnungsvollen Konkurrenten auftauchen. Er trug einen schwarzen Anzug über einem weißen Oberhemd mit schmaler schwarzer Krawatte und eine dunkle Sonnenbrille. Auf dem Kopf hatte er, deutlich zu erkennen, Frank Sinatras abhandengekommenen Hut. Er ging zu Nina Forina hinüber und machte dabei einen, wie Sanchez fand, reichlich belämmerten Eindruck. Sie gratulierte ihm mit einer höflichen Umarmung und einem Küsschen auf die Wange, woraufhin er in der Reihe der Finalteilnehmer seinen Platz neben Janis Joplin einnahm. Sanchez kratzte sich am Kopf und versuchte, irgendeinen Sinn in Powells Anspielung auf die »rote Lederhose« zu erkennen. Der Blues Brother trug einen schwarzen Anzug – schwarzes Jackett und schwarze Hose. Vielleicht war der Chef-Juror farbenblind? Erklärte das möglicherweise, weshalb er sich für einen farbigen Blues Brother entschieden hatte?

Sanchez hatte, loyal wie er war, gehofft, dass Elvis in die Endrunde kam, aber dass er nicht unter den ersten drei Kandidaten war, bedeutete, dass die Chancen seines Kumpels sich gefährlich verringert hatten. Idealerweise wären die beiden letzten Finalisten Elvis und Julius. Elvis könnte dann ganz bewusst im Finale verlieren, sodass Julius sich nur noch gegen drei andere Konkurrenten durchsetzen müsste.

In Wahrheit waren dies jedoch nur unbedeutende Überlegungen, die vom eigentlichen Problem ablenkten. Sanchez’ Hände schwitzten heftig. Zu wissen, dass blutgierige, fleischfressende Zombies zum Hotel strömten, war schlimm genug. Aber zu wissen, dass seine einzige Chance, den Devil’s Graveyard lebendig verlassen zu können, in den Händen eines James-Brown-Imitators lag, erfüllte ihn nicht gerade mit Zuversicht.

Oben auf dem großen Fernsehschirm wartete Powell darauf, dass das aufgeregte Publikum sich beruhigte, ehe er die nächste Entscheidung der Jury verkündete.

»Unser vierter Finalist hat uns alle mit seiner Darbietung geradezu überwältigt. Er ist voller Energie und zweifellos einer der besten Interpreten dieses Wettbewerbs. Ladys und Gentlemen, der vierte Teilnehmer am Finale ist … James Brown!«

Sanchez war zutiefst erleichtert. Er hatte gleichzeitig die verzweifelte Hoffnung, dass Julius tatsächlich der Retter war, den Gabriel angekündigt hatte. Es wäre wirklich toll, wenn der Typ wirklich das ist, als was er sich ausgibt, flüsterte er mit zusammengebissenen zähnen, während Julius die Schar der Möchtegernstars hinten auf der Bühne verließ. Er hüpfte herum wie ein total Geistesgestörter und stieß dabei die für James Brown typischen heiseren »Heh! Heh!«-Schreie aus. Der Plan galt also noch. Was auch immer zum Teufel der Plan sein mochte.

Und wieder setzte nach dem Applaus erwartungsvolle Stille ein. »Und schließlich«, verkündete Powell. »Unser fünfter Kandidat konnte sich schon gleich nach der wahrscheinlich besten Gesangsdarbietung der Vorrunde als sicherer Finalteilnehmer betrachten. Ladys und Gentlemen, als fünften Finalisten begrüßen wir … Judy Garland!«

Das Publikum brach in noch lauteren Jubel aus als bei den vorangegangenen vier anderen Finalisten, nur dauerte der Applaus diesmal bei Weitem nicht genauso lange. Er versiegte, als offenbar wurde, dass Judy Garland sich nicht auf der Bühne befand. Schon bald übertönte das verwirrte Raunen des Publikums die nur noch sporadisch laut werdenden Beifallsbekundungen. Alle schauten sich suchend um, als erwarteten sie, dass die fehlende Sängerin aus irgendeiner Nische oder hinter den anderen hoffnungsvollen – und nun tief enttäuschten – sich auf der Bühne drängenden Konkurrenten auftauchte.

»Judy Garland?«, fragte Powell forschend. »Ist Judy Garland noch im Saal?«

Nina Forina stimmte mit ein. »Judy Garland? Vielleicht ist sie längst wieder nach Kansas zurückgekehrt«, sagte sie mit einem übertriebenen Lachen. Unbehagliches Schweigen senkte sich auf das Publikum herab. Sanchez fand ein wenig Trost in der Erkenntnis, dass er nicht der Einzige war, der sich gelegentlich mit einem faden Witz blamierte.

Er ließ den Blick durch den Saal schweifen und wartete gespannt, ob Judy Garland nicht doch noch auf der Bühne erschien. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Julius in einer Siegesgeste die Hand vor der Brust zur Faust ballte. Gabriel musste seinen Auftrag ausgeführt haben. Judy Garland würde nicht am Finale teilnehmen. Sanchez fühlte sich deswegen ein wenig schuldig. Ihr Nichterscheinen ließ darauf schließen, dass sie so gut wie sicher brutal ermordet worden war, damit ein Kerl, der sich als dreizehnter Apostel ausgab, einen Haufen anderer Leute, Sanchez inklusive, retten konnte. Natürlich war es hart, aber im besten Interesse aller Anwesenden, dachte der Barbesitzer salbungsvoll.

Für ein paar Minuten herrschte allgemeine Verwirrung, während die Jury überlegte, was zu tun sei. Angehörige des Sicherheitsdienstes wurden losgeschickt, um in den Fluren nachzuschauen, ob Miss Garland zum Konzertsaal unterwegs war. Während die Sekunden verstrichen und sie sich noch immer nicht blicken ließ, wurde das Publikum allmählich unruhig. Ein paar Plastikbecher wurden in Richtung Bühne geworfen. Die Wachmänner sprachen angespannt in ihre Walkie-Talkies, während sie durch die Korridore eilten. Die Show drohte in einem Desaster zu enden. Nach und nach kamen die Wachmänner zurück und schüttelten die Köpfe als Zeichen, dass die Nummer fünf des Finales nirgendwo zu finden sei.

Nigel Powell musste schnell reagieren und sich etwas einfallen lassen, aber das war offensichtlich etwas, das er aus dem Effeff beherrschte. Und das wusste er. Von seinem Platz in der Mitte des Jurorentisches bat er die Zuschauer mit einer Geste, die vielfach vergrößert auf dem Bildschirm auf der Bühne zu beobachten war, sich zu beruhigen.

»Okay, Ladys und Gentlemen, es scheint, als sei Dorothy irgendwo auf dem gelben Ziegelsteinweg verschüttgegangen!«

Das Publikum quittierte diese Bemerkung mit einem herzlichen Gelächter, obgleich der Scherz kein Deut besser war als Ninas vorangegangener Versuch. Als das Gelächter verstummte, fuhr er fort: »Deshalb werden wir jetzt den sechstbesten Interpreten der Vorrunde benennen. Halten Sie sich bereit, um einen Interpreten zu begrüßen, der uns alle mit seinem musikalischen Talent überrascht haben dürfte. Ladys und Gentlemen, der fünfte Finalteilnehmer ist … Elvis Presley!«

Elvis stolzierte mit der selbstsicheren Haltung eines Mannes, für den die Teilnahme am Finale niemals in Frage gestanden hatte, nach vorne an den Bühnenrand. Er verteilte Kusshändchen und winkte dem Publikum. Nachdem er Nina Forina geküsst und ihr fachmännisch prüfend an den Hintern gefasst hatte, schlenderte er zu den anderen Finalisten hinüber. Er schaute zu Sanchez und stieß triumphierend beide Daumen in die Höhe, während er sich am Ende der Reihe neben Julius aufstellte.

Nina, die nach Elvis’ ungehörigem – wenn auch nicht völlig unwillkommenem – Griff an ihren Bürzel errötete, hob das Mikrofon an die Lippen und winkte der Menge zu, sie solle wenigstens für einen Moment still sein.

»Okay, Leute«, rief sie. »Wir haben jetzt die fünf Teilnehmer am Finale. Spenden wir allen noch eine weitere Runde Applaus!«

Die Menge sprang auf, gab laute Jubelrufe von sich, trampelte mit den Füßen und klatschte in die Hände. Nach ein paar Sekunden Beifall hörte Sanchez jedoch, wie der Lärm der Zuschauer um einige Dezibel lauter wurde. Zuerst fragte er sich, ob jemand auf der Bühne umgefallen war, denn es klang, als hätte das Publikum sämtliche Hemmungen verloren und sich in eine blinde Raserei hineingesteigert. Er verrenkte sich fast den Hals und drehte den Kopf hin und her in der Hoffnung, noch etwas von dem peinlichen Sturz mitzubekommen. Er wäre zutiefst enttäuscht, wenn ihm etwas Derartiges entginge. Es gab nichts, das Sanchez mehr liebte, als mit ansehen zu können, wie Leute über irgendetwas stolperten und auf die Nase fielen.

Dann gewahrte er den Grund für den verstärkten Jubel.

Wie aus dem Nichts war Judy Garland auf die Bühne geeilt. Sie wirkte ein wenig durcheinander, aber mit jedem Schritt, den sie in Nina Forinas Richtung zurücklegte, und mit jedem anfeuernden Ruf des Publikums gewann sie mehr und mehr die Kontrolle über sich zurück. Diese junge Frau war zweifellos der Liebling des Publikums und dem breiten, strahlenden Lächeln auf Powells Gesicht nach zu urteilen war sie auch sein Liebling. Er erhob sich von seinem Platz und gab den Zuschauern abermals ein Zeichen, still zu sein. Als die Leute sich beruhigt hatten, ließ er sie noch ein wenig länger warten, ehe er die Ansage machte, die sie sich alle wünschten.

»Okay, Leute. Wer hat ein Problem damit, dass wir in diesem Jahr sechs Finalteilnehmer haben?«

Das Publikum raste. Die begeisterten Schreie waren ohrenbetäubend. Sanchez schaute zu Elvis hinüber. Elvis erwiderte seinen Blick stirnrunzelnd und mit einem Ausdruck tiefer Sorge, die seine Miene verdüsterte. Julius’ Chancen, mit seiner James-Brown-Nummer die Siegerkrone zu erringen, waren soeben schlagartig fast ins Bodenlose gesunken.

Und was war mit Gabriel geschehen?

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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