ACHTUNDDREISSIG ♦
Nigel Powell saß in seinem Büro am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt, sodass seine Finger die Augen bedeckten. Seine Hilflosigkeit war offensichtlich. Seine beiden Mitjuroren, Lucinda und Candy, saßen ihm gegenüber. Keine der beiden war sonderlich intelligent, aber sie hätten schon außerordentlich dumm sein müssen, wenn sie seine schlechte Laune nicht auf Anhieb registriert hätten. Sie warteten geduldig, dass er die Hände vom Gesicht nahm. Als er es tat, fiel sein Blick als Erstes auf Candys enge weiße Lederjacke. Je weiter der Tag voranschritt, desto größer erschien die Gefahr, dass ihre Brüste heraussprangen. Der Anblick lenkte ihn nur wenig mehr als fünf Sekunden lang ab. Lucindas hellgelbes Kleid fiel ihm ins Auge und erinnerte ihn an ihre Anwesenheit, daher wendete er den Blick von Candys Busen ab und sah die beiden Frauen direkt an.
»Nun, wollen Sie uns nicht verraten, was das Problem ist?«, fragte Lucinda um einiges kampflustiger, als sie beabsichtigt hatte. Sie mochte Powell nicht besonders, aber sie nahm sich vor ihm in Acht. Überdies zahlte er ihr eine großzügige Gage.
Der Hotelbesitzer blies die Backen auf. Er ließ seinen Blick zwischen den Frauen hin und her wandern, um sicherzugehen, dass sie seine Besorgnis mitbekamen.
»Wir haben drei unserer Finalisten verloren«, sagte er düster.
»Verloren?«, fragte Lucinda. Aus seinem Munde klang es, als hätten sie etwas falsch gemacht.
»Sie sind tot. Jemand hat sie ermordet.«
Candy machte ein verwirrtes Gesicht. Nigel wusste, dass sie beträchtlich cleverer war, als die Leute ihr zugestanden, aber im Grunde entsprach sie trotzdem der Klischeevorstellung von einer naiven Blondine.
»Was? Wer? Welche?«, fragte sie.
»Kurt Cobain, Otis Redding und Johnny Cash sind nicht mehr dabei.«
»O mein Gott. Was ist mit den beiden anderen?«, fragte sie. Ihre Aufgeregtheit erhöhte den Druck auf ihren Jackenreißverschluss sichtlich.
»Ich habe dafür gesorgt, dass sie bewaffneten Schutz erhalten«, erwiderte Powell ein wenig wichtigtuerisch. »Ich glaube, einer der anderen Konkurrenten hat irgendwie herausbekommen, wer die fünf Finalisten sein würden, und daraufhin einen Berufskiller angeheuert, um sie aus dem Weg zu räumen.«
Lucinda schüttelte den Kopf. »Mann, das ist doch Wahnsinn. Ich habe niemandem erzählt, wer im Finale antreten wird.«
»Ich auch nicht«, fügte Candy eilig hinzu.
Linda beugte sich über den Schreibtisch. »Haben Sie irgendeine Idee, wer hinter diesem ganzen Scheiß steckt?«, wollte sie von Powell wissen.
»Das weiß ich nicht. Der Berufskiller und der Typ, der ihn engagiert hat, wurden vor ein paar Stunden von einem anderen Profikiller hoppgenommen. Er und zwei Angehörige des Sicherheitsdienstes sind mit ihnen in die Wüste hinausgefahren, um sie kaltzumachen, aber die drei sind noch nicht zurückgekommen. Und im Augenblick kann ich sie auch nicht erreichen.«
»Du lieber Himmel!«, jammerte Lucinda laut. »Was zum Teufel sollen wir jetzt tun? Den Wettbewerb absagen?«
Powell schüttelte den Kopf. »Hm, hm. Wie es so schön heißt, die Show muss weitergehen. Wir müssen nur einen Ersatz für die drei toten Sänger finden.« Er sah die beiden Frauen nacheinander fragend an. »Irgendwelche Vorschläge? Wir haben ungefähr zwei Minuten Zeit, um uns zu entscheiden. Ich will, dass dieses Finale so bald wie möglich beginnt. Dieses Jahr entwickelt sich die ganze Geschichte zu einem einzigen Albtraum. Also welche drei Nummern ziehen wir in die engere Wahl? Wer hat dem Publikum am besten gefallen?«
Lucinda hatte eine Idee. »Warum sucht sich nicht jeder von uns einen Kandidaten aus? Das klingt doch fair, oder?«
Powell zuckte die Achseln. »Ja, das ist mir recht. Also Candy, wen wollen Sie im Finale haben?«
Candy riss überrascht die Augen auf. »Ich soll in diesem Moment irgendeinen Namen nennen?«
»Nein, ich möchte, dass Sie einen Namen nennen, so schnell oder langsam wie Sie wollen. Bitte vergessen Sie meine Bemerkung, dass wir nur zwei Minuten Zeit haben.«
»Werden Sie jetzt sarkastisch?«
»Ja. Clever von Ihnen, dass Sie es bemerkt haben.«
»Prima. In diesem Fall bin ich für diesen Elvis-Imitator. Er war richtig süß.«
»Das sollte nicht der Grund sein, um ihn auszusuchen«, schnappte Nigel.
»Sie sagten, jeder von uns könne einen Kandidaten aussuchen, und er ist meine Wahl.«
»Niemals. Sie werden niemanden nur deswegen auswählen, weil Sie auf ihn scharf sind.«
»Nennen Sie mir einen Grund, weshalb ich ihn nicht nehmen soll. Einen Grund, der nicht persönlich ist.«
»Okay. Ich mag ihn nicht. Und zwar mag ich ihn wirklich nicht.«
Candy stieß einen tiefen Seufzer aus. »Na schön«, schmollte sie. »Dann nehme ich Freddie Mercury. Sind Sie nun zufrieden?«
»Ja«, sagte Powell und lächelte zum ersten Mal. »Er war ziemlich gut, aber nicht hervorragend.« Er wandte sich an die andere Jurorin: »Lucinda, was ist mit Ihnen?«
Lucinda runzelte die Stirn und wälzte für einen Moment die Frage in ihrem Kopf hin und her. »Dieser Blues-Brother-Typ war gut«, sagte sie nachdenklich.
»Der Kerl mit der Mundharmonika? Und der roten Hose?« Candy konnte die Verachtung in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Ja. Ich mag ihn. Er hatte etwas ganz Spezielles an sich.«
Powell verzog das Gesicht. »Tatsächlich? Mir kam er mit seiner Mundharmonika ziemlich armselig vor.«
»Jeder von uns sucht einen aus, oder etwa nicht? Ich habe den Blues Brother genannt und bleibe dabei.« Lucinda beharrte viel nachdrücklicher als Candy auf ihrer Entscheidung. Und Powell hatte keine Zeit für lange Diskussionen.
»Fein«, sagte er. »Damit haben wir vier Finalisten. Und wen soll ich nehmen?« Er trommelte mit den Fingern für ein paar Sekunden auf der Schreibtischplatte, während er in Gedanken alle Sänger und Sängerinnen durchging, die er im Laufe des Tages auf der Bühne erlebt hatte.
»Sie haben ja noch nicht einmal die Hälfte aller Bewerber gesehen«, sagte Lucinda. Sie hatte Recht. Sein ständiges Rein und Raus während des Vorsingens hatte zur Folge gehabt, dass ihm die Auftritte zahlreicher Konkurrenten entgangen waren.
»Richtig. Und jeder, den ich sah, war einfach nur schrecklich.« Plötzlich schoss ihm ein Name durch den Kopf. »Ich weiß es. Während ich für einige Zeit in der Lobby war, hörte ich, wie begeistert das Publikum auf ein Janis-Joplin-Double reagierte. Mir kam es so vor, als sei sie für die Leute so etwas wie der Höhepunkt der gesamten Show gewesen. Ich glaube, ich nominiere sie.«
Lucinda und Candy waren beide entgeistert. Lucinda ergriff für sie beide das Wort: »Sie haben sie doch überhaupt nicht live erlebt!«
»Ach, ist das so wichtig? Judy Garland hat diesen Wettbewerb sowieso schon gewonnen. Niemand wird sie schlagen können. Außerdem denke ich, dass es ganz gut wäre, eine weitere Frau im Finale zu haben.«
»Ja, aber glauben Sie mir, diese Frau ist es ganz sicher nicht«, protestierte Lucinda.
»Das reicht jetzt«, sagte Powell und winkte ab. »Jeder hatte eine Wahl und meine Favoritin ist Janis.«
»Aber …«
»Kein Aber, verdammt noch mal!«, brüllte er beinahe, ehe er mit ruhigerer Stimme fortfuhr: »Das wär’s dann wohl. Gehen wir raus und verkünden es dem Publikum. Weiß Gott, diese Show dauert schon viel länger als geplant. Ich muss noch einige Telefonate führen. Sie beide können Nina Bescheid sagen, wen wir für das Finale ausgewählt haben. Los. Nun gehen Sie schon. Und machen Sie auf dem Weg nach draußen die Tür hinter sich zu.«
Lucinda und Candy erhoben sich von ihren Plätzen. Während sie zur Tür gingen, versuchte Lucinda es mit einer letzten Bitte. »Nigel, diese Janis Joplin – Sie können doch nicht im Ernst …«
»Doch, ich kann. Verdammt noch mal. Und jetzt raus, ihr beiden!«